Medienschau: FAZ – Moskaus Kultur- und Theaterszene heute

Kriegsschauplatz russische Bühne

Kriegsschauplatz russische Bühne

14. Juni 2023. Die Kulturszene in Moskau pulsiere, "auf die Straßenkunstbiennale folgt ein Buchfestival, Konzerte neuer Musik sind eng getaktet, sodass man den Verlust vieler Künstler und Kulturkonsumenten erst auf den zweiten Blick bemerkt." So manche Bühnen leben von ihren Reserven, berichtet die langjährige Russland-Korrespondentin Kerstin Holm in der FAZ.

Das Wachtangow-Theater etwa, das unter der Leitung des litauischen Regisseurs Rimas Tuminas zur Höchstform fand, zeigt weiterhin dessen kurz vor dem russischen Einmarsch herausgekommene Inszenierung von Tolstois "Krieg und Frieden, schreibt Kerstin Holm in der FAZ (14.6.2023). Da Tuminas jede Kooperation mit Russland abgebrochen hat, tilgte das Haus seinen Namen von Werbebannern und der Website und empfiehlt die Produktion nun als 'traditionelle', gleichsam anonyme Arbeit. Dass in dem Stück der (napoleonische) Krieg als aus der Raumtiefe vorrückende Schicksalsmauer die Figuren vor sich her und ins Unglück treibe, wurde seinerzeit als existenzieller Blick auf das Geschehen gefeiert. "Heute wirken die Verzweiflungsgesten auch wie ein Bild der Verlorenheit von Russlands europäisierter Intelligenzia." 

Einen Schock löste im Mai die Verhaftung der Theaterregisseurin Schenja Berkowitsch aus, die derzeit in Untersuchungshaft auf ihren Prozess wartet. Ihrem Stück "Edler Falke Finist" wird vorgeworfen, es rechtfertige Terrorismus. Berkowitschs ältere Produktion "Abzählreim" (Stschitalka), die in dieser Saison an der Kammerbühne Wnutri-Space läuft, "ist dort regelmäßig ausverkauft; niemand weiß, wie lange sie noch zu sehen sein wird." Die 38 Jahre alte Berkowitsch, Feministin und Meisterschülerin von Kirill Serebrennikow, gehört zu den Regime- und Kriegsgegnern, die bewusst in Russland geblieben sind. "Der wirkliche Anlass für das Verfahren gegen Berkowitsch, so vermuten viele, waren ihre Antikriegsgedichte, die sie in sozialen Netzwerken postete und die ein begeistertes Echo fanden."

Im Dokumentartheater teatr.doc erfahre man indessen, dass etliche Ensemblemitglieder, überwiegend Männer, aber auch einige Frauen, das Land verlassen haben. Um die Erschütterungen seit dem 24. Februar 2022 zu verarbeiten, "hat ein Darstellersextett unter dem Regisseur Wladimir Gassanow unter dem Titel 'Fragile Zeiten' eine Art therapeutischen Rezitationsabend mit Texten und Liedern russischsprachiger Zeugen radikaler Umbrüche erarbeitet." 

Der lustvolle Zyniker des russischen Theaters, Konstantin Bogomolow, vergieße derweil Krokodilstränen über die europaaffine Elite, die sich vom westlichen Luxus verabschieden muss. An der von ihm geleiteten Bühne an der Malaja Bronnaja laufe seine Farce "Hamlet in Moscow", worin der Titelheld, ein Oligarchensohn, der in London lebte und Russisch mit britischem Akzent spricht, aus Anhänglichkeit an seinen im Corona-Koma verblichenen Vater auf dem als groteskes Requisit erscheinenden Geschlechtsorgan von dessen Geist Flöte spiele. "Flankierend veröffentlichte Bogomolow ein Manifest, das durch die Nachrichtenagentur RIA Nowosti in Umlauf kam." Darin begrüßte er Russlands Bruch mit Europa und verhöhne seine verwestlichte Finanz- wie Geisteselite. "Das Traktat entwirft das Karikaturbild einer russischen 'Sonderklasse' aus korrupten Oligarchen und von ihnen bezahlten weinerlichen Intellektuellen, die das eigene Volk verachteten."

(faz.net / sik)

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