Medienschau: Wiener Zeitung – Die russische Literatur ist nicht unschuldig
Nicht aus heiterem Himmel
Nicht aus heiterem Himmel
12. April 2022. Mit dem Spruch "Puschkin ist nicht Putin" wurde die russische Kultur u.a. vom PEN-Club vor denen in Schutz genommen, die sie jetzt in Mithaftung für den Angriff Russlands auf die Ukraine nehmem wollten. So einfach ist es nicht, schreibt jetzt der Slawist Bob Muilwijk in der Wiener Zeitung.
"Verständnis für die Freiheitsbestrebungen anderer Völker (...) war Puschkin stets fremd. Dass sich die polnischen Aufständischen - buchstäblich auch auf Russisch! - auf die Fahne geschrieben hatten, "für unsere und eure Freiheit" zu kämpfen, also nicht gegen das russische Volk, sondern gegen den zaristischen Despotismus, bewegte ihn nicht. Lieber schmeichelte er sich beim autokratischen Zaren ein und schrieb seinem eigenen Zensor gegen Ende des Aufstandes in einem Brief, man müsse die Polen zermalmen und es handle sich dabei um eine rein interne Angelegenheit. Der Besitzanspruch, der daraus hervorgeht, ist erschreckend und ähnelt in nicht geringem Maße dem jetzigen Anspruch der Russischen Föderation, sich in der Ukraine einzumischen." Auch andere Autor:innen weist Muilwijk imperialistisches Denken nach, darunter Joseph Brodsky.
Soll man also den Boykottaufrufen folgen und Puschkin und Brodsky aus den Regalen verbannen? Oder lieber geschichtsvergessen den politischen Gehalt russischer Literatur überlesen? Die Antwort liegt wohl im Bewusstsein, dass Großreichfantasien und die unangenehme russische Angewohnheit, anderen Völkern ihr Selbstbestimmungsrecht abzusprechen, nicht aus heiterem Himmel gefallen sind. Russische Autoren, auch Puschkin, haben diese in ihren Werken normalisiert. Die Lektüre ihrer Werke gibt einen Einblick in diese russische Tradition imperialistischen Denkens, die Zarenreich und Sowjetunion überdauert hat und dem Kreml heute die verlogene Begründung für seinen Krieg bietet."
(sle)
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