Presseschau vom 15. Juli 2011 – Theaterregisseur Fadhel Jaibi spricht in der SZ über die Situation in Tunesien

Wenig Platz für kreative Kräfte

alt

Wenig Platz für kreative Kräfte

15. Juli 2011. Der tunesische Theaterregisseur Fadhel Jaïbi äußert sich im Interview mit Werner Bloch in der Süddeutschen Zeitung besorgt angesichts der jüngsten Entwicklung in Tunesien. "Wenn ein Freund wie der Betreiber des Kinos 'L'Africart' angegriffen wird, bedeutet das, dass auch ich eine Zielscheibe bin. Obwohl ich in meinem letzten Bühnenstück den Islamisten das Wort erteilte. Das Schauspiel 'Corps otages' lässt die Islamisten reden, es versucht zu verstehen, wie das System Ben Ali aus ihnen Opfer und Märtyrer machte. Ich widmete ihnen ein Stück von drei Stunden."

Und doch seien die Islamisten gerade dabei, ihr Terrain mit Drohung und Gewalt abzustecken. "Sie haben auch schon Rechtsanwälte zusammengeschlagen, einen großen tunesischen Regisseur angegriffen, sie haben Sänger daran gehindert, Konzerte zu geben. Und sie gehen an die Strände, um Frauen daran zu hindern, im Bikini zu baden. Sie wollen Schulabschlussfeiern verhindern. Denn da macht man Musik und tanzt." Der eine Totalitarismus sei verjagt worden, aber vielleicht entsteht gerade ein neuer, so Jaïbi (der 1945 in einem Dorf bei Tunis geboren wurde, in Paris studierte und 1972 nach Tunesien zurück ging, um dort das Theatre du Sud, die erste freie Gruppe des Landes zu gründen).

Im Moment mache er sich große Sorgen um sein Land. "Die Dinge haben sich unglaublich schnell verändert - und sind in ihr Gegenteil umgeschlagen. Früher gab es zu wenig Freiheit in Tunesien. Heute haben wir fast ein Zuviel an Freiheit...Gerade haben zwölf freie Radios die Sendegenehmigung erhalten, dazu sechs Fernsehkanäle. Die Zahl der Zeitungen hat sich verdreifacht. Die Leute kaufen und lesen. Alles, was über Jahre verdrängt wurde, bricht jetzt auf. Aber es gibt keine Analyse, keine wirkliche Reflexion. Und es gibt keinen Platz für die Kultur."

Das Angebot an ihn und seine Frau, das Kulturministerium zu leiten, habe er abgelehnt, weil er seinen Platz da sieht, "wo wir schon immer waren, auf der Bühne, auf der Straße, als Gegenmacht. Denn wenn alle Oppositionellen Macht ausüben wollen, und sei es auch demokratische Macht, wer wird sie dann kontrollieren und kritisieren?" Dass so viele junge Tunesier über das Meer fliehen, hält er für tragisch: "Ich konnte noch in Frankreich studieren. Ich habe den Mai '68 erlebt, ich habe Goethe, Büchner, Kleist kennengelernt. Was ich gelernt habe, ist dem deutschen, dem französischen, dem englischen Theater zu verdanken. All das wird den heutigen jungen Tunesiern verwehrt, weil sie kein Visum bekommen. Darüber sollten die Europäer einmal nachdenken."

(sik)

Kommentar schreiben