Presseschau vom 19. Juni 2011 – Die Welt am Sonntag über die Revolution des deutschen Stadttheatersystems

Die Herrschaft des weißen Mannes ist zu Ende

Die Herrschaft des weißen Mannes ist zu Ende

19. Juni 2011. "Was ist los an den deutschen Theatern? Revolution?" fragt Jenny Hoch auf Welt-Online. In München entführten Schauspieler mit holländischem Akzent in eine bierselige Alpengroteske, deren Autor türkischstämmig ist. In Köln lasse eine extrem erfolgreiche Intendantin ab 16.30 Uhr ihre Geschäfte ruhen, weil sie sich dann lieber um ihre Tochter kümmert. Und niemand spreche mehr über die großen Namen!

Regiegroßmeister wie Thalheimer, Ostermeier oder Kriegenburg agierten zwar, so Jenny Hoch, "längst wie mittelständische Unternehmen, produzieren an jedem Standort Wertarbeit im Akkord mit hohem Wiedererkennungsfaktor und optimierter Kosten-Nutzen-Rechnung. Aber Innovation und Kreativität werden längst von anderen in die deutschen Theater eingespeist." Von jenen nämlich, die an den patriachal strukturierten Häusern bislang nichts zu sagen gehabt hätten: Schauspielern, Frauen und Migranten.

"Öffnung" sei das Motto der zu Ende gehenden Spielzeit gewesen. "Öffnung nach unten, zu theaterfernen Milieus. Öffnung nach außen, über die Landesgrenzen hinaus. Und Öffnung für die ebenfalls am deutschsprachigen Theater bisher unterrepräsentierte zweite Hälfte der Menschheit, die Frauen."

Dieser Öffnung stand, wie Jenny Hoch schreibt, bisher vor allem das "durch nichts zu erschütternde Selbstbild der deutschen Theater im Weg, per Definition ein Spiegel der Gesellschaft zu sein." Aus ihrer Sicht ein Mythos, "denn tatsächlich taugt das Theater nur noch selten als Antriebsmotor für gesellschaftliche Diskussionen. Meist sind die Debatten schon gut abgehangen, bevor die Theatermacher auf die Idee kommen, sie für sich zu besetzen. Noch immer läuft es auf deutschen Bühnen viel zu oft auf die unglaublich öden Gleichungen 'Kapitalisten = böse' versus 'Der kleine Mann = gut' heraus. Dass die Welt um einiges komplexer geworden ist, scheint nur langsam bis in die abgedunkelten Bühnenräume vorzudringen."

Viele Theater seien im Moment dabei, den Mittelstandsmief aus ihren Häusern zu vertreiben. In Bochum etwa habe Intendant Anselm Weber "Boropa" ausgerufen. Der Spielplan kreise um die Frage "wie wir in Zukunft zusammenleben werden" – "ein wichtiges Thema für eine Region, in der 5,5 Millionen Menschen aus über 150 Nationen zusammenleben, und wenn man davon ausgeht, dass ein subventioniertes Theater für alle Bürger da sein sollte."

In München betreibe der Holländer Johan Simons als Intendant die Arbeitsmigration ganz selbstverständlich bis auf die Ebene der Schauspieler. Neben der Verpflichtung nichtdeutscher Regisseure habe er mit Elsie de Brauw, Benny Claessens und Kristof Van Boven drei holländische Schauspieler ins Ensemble aufgenommen. "Der künstlerische Mehrwert ist enorm, denn die drei bringen mit ihrer ungewohnten, teils irritierenden Körperlichkeit einen ganz neuen Stil auf die Münchner Traditionsbühne. Ihr Akzent spielt dabei keine Rolle."

Was im Pop, im Kino oder in der Literatur längst selbstverständlich sei, dass nämlich in Zeiten der Globalisierung Ausländer, Migranten und Frauen ihren Anteil am Diskurs für sich beanspruchen, das komme nun endlich auch an einem der strukturkonservativsten Segmente der deutschen Kulturproduktion an: im Subventionstheater. "Die Vorherrschaft des deutschen, weißen Mannes ist vorbei. Es wird nie wieder so sein wie vorher."

(sle)

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