Presseschau vom 6. Juni − Schlingensief-Pavillon in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet

Mut und Muff

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Mut und Muff

6. Juni 2011. (Fast) Einhellig zufrieden und ein bissel stolz besprechen die bundesdeutschen Zeitungen die Verleihung des Goldenen Löwen an den deutschen Länderpavillon auf der Biennale in Venedig, die recht eigentlich die postume Erhöhung des bildenden Künstlers Christoph Schlingensief in den Kunst-Olymp bedeutet.

Zur Verleihung des Goldenen Löwen an den deutschen Pavillon meint Niklas Maak in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.6.2011): Gaensheimer und Laberenz sei es gelungen, den vielen ausländischen Besuchern, die mit Schlingensiefs Arbeiten "nicht vertraut" sind, einen Eindruck zu vermitteln "von seinem Werk als Experimentalfilmer, als Theatermacher, Opernregisseur und als jemand, der aus diesen Gattungen etwas Neues entwickelt hat". Um solche "Entdeckungsräume und –möglichkeiten" gehe es "schließlich" bei Biennalen.

Im Gespräch mit Tim Ackermann weist Kuratorin Susanne Gaensheimer in der Tageszeitung Die Welt (6.6.2011) darauf hin, dass "man" das Schlingensiefsche Werk bisher außerhalb Deutschlands ja kaum gekannt habe. In Venedig nun sei es "ganz offen betrachtet worden". Die Menschen seien "ergriffen", "große Begeisterung, zum Teil sogar eine Euphorie" sei zu spüren gewesen. Die Jury habe den politischen Künstler Schlingensief auch ausgezeichnet, das Thema von "Kirche der Angst" Glaube und Religion passe sehr gut in unsere Zeit. Wir müssten uns "kritisch mit dem Thema Glauben auseinandersetzen".

Dem widerspricht Catrin Lorch in der Süddeutschen Zeitung (6.6.2011): "Preiswürdig" sei, schreibt sie genervt, "was auf den ersten Blick deutsch ist. Die BRD kann Olympiadächer aufspannen, die leicht und hell sind, die Kunst will feldgraue Zelte sehen". Das Missverständnis Schlingensief als Deutschen mit all dem "Balllast" im Kunst-Rucksack auszuzeichnen, mit "Parsifal, dem Düsteren, Romantik, Größenwahn. Oder Rudolf Steiner, Nietzsche, runenschwarzen Slogans, Schwarz-Weiß-Filmen", sei der Ausstellung im deutschen Pavillon ebenso anzulasten wie dem unvergänglichen Vorurteilen der Kunstwelt. Mit der "theatralischen Kirche und den Vitrinen, Buntglas und Sperrmüll" sei Schlingensief kaum noch als "Theatermacher und Kulturkanal-Fernsehliebling" zu erkennen, "da ist er auf diese angestaubte Art deutsch - als wäre Muff das Alleinstellungsmerkmal".

Ihr wiederum widerspricht Ingo Arend in der tageszeitung (6.6.2011): Die Frage bleibe berechtigt, "ob die grandiose Bühne für das Modell eines deutschen Selbstexorzismus … unbedingt einen religiösen Rahmen haben muss. Und ob ausgerechnet diese Requiem-Kulisse für einen toten Künstler in der Mini-Nazi-Walhalla, die der Deutsche Pavillon in Venedig nun einmal immer noch darstellt, am richtigen Ort" stehe. Weil Kunst von "Experiment und der Regelverletzung" lebe, gebühre Susanne Gaensheimer eine Auszeichnung allein für ihren Mut, "ein Werk mit einem so schillernden Assoziationsfeld in einen Kontext zu überführen, der alles, was sich ihm nähert, in historische Geiselhaft nimmt". Und trotz des "mythenträchtigen Auftritts" habe sich die Arbeit in ein "interdisziplinäres Kunstwerk verwandelt", das "fast unabhängig von dem Zweck bestehen konnte, für das es einst geschaffen worden war".
(jnm)

 

Der Pavillon

5. Juni 2011. Die deutsche eigentlich ja pur schlingensiefsche Länderpräsenz hatte in den vergangenen Tagen bereits unterschiedliche Presse-Reaktionen hervorgerufen:

Am 1.6.2011 schrieb Kia Vahland in der Süddeutschen Zeitung, dass das gut gemeinte Pathos der Schau unfreiwillig Schlingensiefs Lebenswerk karikiere. "Komisch oder unordentlich ist nichts in diesem Gebetsraum für einen großen Guten. Eine Kordel hält das Publikum vom Altarraum fern, auf dass niemand am leeren Krankenbett ruckele. So endet Aktionskunst in ihrem Gegenteil: der verordneten Regungslosigkeit."

Ingo Arend findet in der taz (4.6.) auch nicht, dass die Schau gut aufgehe, aber es hätte schlimmer kommen können, "der mögliche GAU wurde gerade so vermieden."

Tobi Müller lobte am 2.6. in der Frankfurter Rundschau, dass der Pavillon gerade überzeuge, weil sich das Team nicht an halbgare Entwürfe hielt, sondern aus Bestehendem etwas Neues schuf. "Im Hauptraum des Pavillons, wo jetzt die Kirche steht, finden seine Themen zu einem neuen Flirren, zu einer Intensität, zu einer irren Form, die den Totaleinsatz Schlingensiefs von seinem Körper und seiner Person etwas wegrücken."

Und Peter Richter in der FAZ Sonntagszeitung (5.6.2011): "Umso dankbarer muss man aber Gaensheimer und Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz sein, dass sie der Versuchung widerstanden haben, diese halbfertigen Ideen für ihn weiterzudenken. Stattdessen zeigen sie nichts, was nicht hundert Prozent Schlingensief wäre: rechts in einem Raum seine Filme, in der Mitte sein Bühnenbild für die "Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" von der letzten Ruhrtriennale, die tatsächlich sehr gut auch als Andachtsstätte für Schlingensief selbst und sein Werk funktioniert, das wiederum als letztes dasjenige von Beuys und Fluxus wach- und hochgehalten hat, sowie links seine Bemühungen um ein Operndorf für Afrika. Weniger übergriffig kann man es eigentlich nicht machen. Wer das ernsthaft kritisiert, der muss irgendein persönliches Problem mit einer der beiden Frauen haben, die zu allem Überfluss am Ende noch kurzfristig von den Sponsoren im Stich gelassen wurden, was ein Skandal eigener Güte ist."
(sik)

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