Avatare in Fantasy-Landschaften

12. Mai 2024. Mozarts berühmte Oper als Gamingshow, in der das Publikum den Handlungsverlauf mitentscheiden kann? Zwar stiegen kurz vor der Premiere mehrere am Projekt Beteiligte aus. Der Abend kam als großer Spaß und ESC-kompatible Parallelveranstaltung trotzdem heraus.

Von Jürgen Reuß

"Game on: Zauberflöte" am Theater Freiburg © Laura Nickel

12. Mai 2024. "Operation misslungen, Patient lebt", könnte man nach dem begeisterten Schlussapplaus des Publikums über die Freiburger Zauberflöte als Gaming-Show kalauern. Was war passiert? Unter dem Titel "Game on: Zauberflöte" wollte Regisseur Marco Štorman zusammen mit der Münchner Agentur für Unternehmenswachstum Moby Digg Mozart als Produkt des fiktiven Sarastro Entertainment rebranden: "Digital Worlds kapern Opera-Feelings".

Statt in zwei Aufzüge sollte die Oper in fünfundzwanzig Module zerlegt werden, Tamino und Papageno ihren Befreiungsauftrag der Königin der Nacht teilweise als Avatare erledigen. An gewissen Stellen sollte das Publikum über den Ablauf mitbestimmen können, sodass die Oper je nach Entscheidungsverlauf zwischen 100 und 120 Minuten dauern würde. Als dann jedoch klar war, dass Moby Digg den digitalen Teil bis zum Premierentermin nicht gemäß den Wünschen des Regssieurs gebacken bekommt, schmiss Štorman rund zwei Wochen vor der Premiere das Handtuch und reiste ab. Die lokalen Kräfte beschlossen, das Ding mit dem, was mit den Münchner Programmierern digital noch möglich war, trotzdem zu wuppen.

Zerhacktes Singspiel

So treten also Pamina, Tamino und Co. in ihren Avatargewändern (Svenja Gassen) vor der vielleicht teuersten Videotapete der Freiburger Operngeschichte auf, ohne mit den hinter ihnen charakteristisch steif durch gamingtypische Fantasylandschaften staksenden Avataren in Interaktion treten zu können. Die im Programmheft als NPCs (Non-Player Characters) avisierten Monostatos (Roberto Gionfriddo) und Königin der Nacht (Natasha Sallès) führen als ModeratorInnen durch das in Spielsequenzen zerhackte Singspiel. Nachdem sie dem Publikum das Abstimmungsprozedere mittels zweifarbiger Wendekarte erklärt haben, fischen sie sich die "Protagonists" als "Freiwillige" aus dem Publikum. Der so "gefundene" Papageno (Jakob Kunath) nutzt seine Arie gleich wie ein Talentshowprofi, croont sich mit Barhocker auf das ins Publikum verlängert Rampenpodest und schmalzt seinen Text so charmant, dass das Publikum auf seinen Wink gern mit einstimmt.

Lustiges Überbrückungsgeplauder

Damit ist der Ton des Abends gesetzt. Alle wollen einfach Spaß haben, und das darf man auch dem aus dem Graben hochgefahrenen Orchester unter Leitung des schalkhaft grinsenden Andre de Ridder gerne ansehen. Im Grunde ist der Abend die passende Parallelveranstaltung zum gleichzeitig über andere digitale Kanäle an die Daheimgebliebenen eingespeisten ESC-Contest: bunte Kostüme, bisschen digitale aufgepeppte Bühnenshow, mal mehr mal weniger lustiges Überbrückungsgeplauder und zwischendrin darf das Publikum mal abstimmen.

Königin der Nacht und Monostatos als Moderator*innen: Natasha Sallès und Roberto Gionfriddo © Laura Nickel

Welche Farbe dann allerdings von den ZuschauerInnen mehrheitlich hochgehoben wurde, stimmte allerdings nur gelegentlich mit der verkündeten Entscheidung über den weiteren Verlauf der Oper überein. Ob man sich zur Stressreduzierung für die Premiere einen Ablauf vorprogrammiert hat? Nach den Querelen im Vorfeld wäre das durchaus verständlich.

Mozart als Soundtapete

Ob Hardcore-Opernfans bei so einem Rebranding der Oper als fakedigitales Modular-Entertainment auf ihre Kosten kommen, mag angesichts vereinzelter Buhrufe für das Produktionsteam beim Schlussapplaus fraglich sein. Für alle, die eine von Ernst Stankovski unterhaltungsgestählte Erkennen-Sie-die-Melodie-Kindheit hinter sich haben und denen dadurch Mozart schon damals als Soundtapete für Fahrstühle und Kaufhäuser downgegraded wurde, war das ein nostalgisch amüsanter Abend. Andererseits, für wen der von Komödientalent Roberto Gionfreddo vorgetragenen überlange Mottenwitz der heimlich Hit des Abends war, sollte über Operngenuss vielleicht lieber schweigen.

Spaß als Chance

Was aber als Fazit gesagt werden kann: Das Scheitern der Digitalisierung könnte sich durchaus als Rettung für diesen Opernabend herausstellen. Man stelle sich nur vor, man müsste eine technisch perfekt gemachte Avatarisierung der Oper als ernsthaften künstlerischen Evolutionsschritt bewundern müssen. Also: ernsthaft. Ernsthaft? Dann doch lieber ein großer alberner Spaß am Scheitern. Und den hatte die applaudierende Mehrheit des Abends offensichtlich. Vielleicht könnte man in diese Richtung für die weiteren Vorstellungen noch ein bisschen gegen den ursprünglich geplanten Strich weiterkämmen.

Game on: Zauberflöte
nach Wolfgang Amadeus Mozart mit Texten von Jakob Nolte
Musikalische Leitung: André de Ridder, Idee und Konzeption: Marco Štorman, André de Ridder, Demian Wohler, Heiko Voss, Moby Digg, Regiekonzept: Marco Štorman, Bühnenbildkonzept: Demian Wohler, Kostüme: Svenja Gassen, Mitarbeit: Kostümbild Bastian Stein, Digital Worlds: Moby Digg, Digital Characters & Costumes: Svenja Gassen, Moby Digg, Licht: Dorothee Hoff, Video: Laurin Lampe, Konradin Köchling, Chordirektor: Norbert Kleinschmidt, Dramaturgie Heiko Voss
Mit: Natasha Sallès (Königin der Nacht), Junbum Lee (Tamino), Maeve Höglund (Pamina), Jakob Kunath (Papageno), Sara De Franco (Papagena), Yunus Schahinger (Sarastro / 2. Geharnischter), Cassandra Wright (Erste Dame), Inga Schäfer (Zweite Dame), Alina Kirchgäßner (Dritte Dame), Roberto Gionfriddo (Monostatos / 1. Geharnischter / Sprecher), Solisten der Aurelius Sängerknaben Calw (Drei Knaben), Philharmonisches Orchester Freiburg, Opernchor des Theater Freiburg
Premiere am 11. Mai 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theater-freiburg.de

 

Kritikenrundschau

Ein "hochinteressantes, mitunter verworrenes Experiment inklusive das Bühnengeschehen präzise weiterführender Digitalwelt" sah Egbert Tholl in Freiburg für die Süddeutsche Zeitung (13.5.2024). Der Abend werde philosophisch in "der Frage, ob Entscheidungen überhaupt etwas ändern".

"'Game on' ist nicht zu retten – Game off wäre die richtige Konsequenz gewesen", urteilt Alexander Dick in der Badischen Zeitung (13.5.2024). Der Kritiker erlebte "Musiktheater in 25 Modulen", das "im Grunde gar keines ist. Es lässt sich in seiner Struktur reduzieren auf die gute alte Gala, in der die Nummern einer Oper lose aneinandergereiht werden und durch die ein Conférencier mit mehr oder weniger launigen Worten führt. Applaus, Applaus."

Kommentare  
Game on - Zauberflöte, Freiburg: Zwischentexte?
Die Zwischentexte wurden von Jakob Nolte verfasst. Könnte man vielleicht erwähnen, wo der Witz schon gut ankam.


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Guten Tag, Verwunderter.
Jakob Nolte ist ganz oben im Besetzungkasten genannt, gleich nach Mozart.
Freundliche Grüsse aus der Redaktion
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