Das ganze schwarze Nichts

22. Oktober 2023. Shakespeares Stück mit dem märchenhaften Titel erzählt von Tyrannenwillkür und der Spirale der Verwerfungen, die ein Willkürakt nach sich zieht. Auch wenn der Wille zur Versöhnung in der Inszenierung des israelischen Regisseurs Yair Sherman groß ist.

Von Jürgen Reuß

"Wintermärchen" von William Shakespeare am Theater Freiburg © Britt Schilling

22. Oktober 2023. Die Bühne von Roni Toren ist ein zum Rückraum geschwungener Betonkanal, hinten mit schwarzem Gesprengsel wie nach einem Gemetzel oder wie voranschreitender Schwarzer Tod beträufelt. Mit heruntergefahrenen Leuchten, einer kappend sich senkenden Wand, Seitentüren, begehbarer Balustrade, sparsamen Requisiten und Lichtstimmungen lässt sich die Szenerie den Schauorten anpassen, ohne ihn auch nur in der Illusion je zu verlassen.

Das gibt dem ersten Eindruck große Definitionsmacht, wie die Grundierung des Settings aufzufassen ist. Und den beherrscht ein Bett auf Intensivstation, deren pulsendes Gepiepe am Ende wieder aufgegriffen wird und nahelegt, das Geschehen in den Kopf eines Sterbenden zu schachteln.

Schlüsselmomente des Lebens

Der Patient ist Leontes (Michael Witte), König eines seltsam frostigen Siziliens, dem später noch ein ebenso seltsames Böhmen mit Wüstenküste zugesellt wird, dass Dori Parnes, der das Stück ins Hebräische übersetzte, im Programmheft über die mangelnden Geografiekenntnisse des Autors witzelt. Einleuchtender sind die Ausführungen von Yair Sherman, des Regisseurs des Abends. Der israelische Regisseur liest Shakespeares "Wintermärchen" als Stück über Willkür, und zwar auf allen Ebenen. Das beginnt auf der Handlungsebene bei König Leontes, dem in seinem Krankenhausbett die personifizierte Zeit (Hartmut Stanke) das Reenactment von Schlüsselmomenten seines Lebens erlaubt.

Explodierendewr Tyrannenwahn

Die Trennwand hebt sich, der ganze im schwarzen Nichts endende Wurmfortsatz der Bühne wird sichtbar. Den Krankenhauskittel mit Königsmantel notdürftig bedeckt taucht Leontes in die opulente Feierlaune seines letzten Abendmahls als rationaler Herrscher. Noch in dieser Nacht wird sein Hirn in tyrannischem Willkürwahnsinn versinken.

Sein Jugendfreund und böhmischer Herrscherkollege Polixenes (Victor Calero) will abreisen, aber nicht Leontes königlicher Autorität, sondern dem Charme seiner Gattin Hermione (Marieke Kregel) gelingt es, ihn zum Bleiben zu bewegen. Machtmenschen sind tickende Zeitbomben, der kleinste, selbst eingebildete Kratzer an der absoluten Autorität lässt sie im Tyrannenwahn explodieren. Leontes will den Busenfreund vergiften, die hochschwangere Gattin in den Kerker schmeißen und das bald darauf geborene, vermeintliche Seitensprungkind killen.

Raserei und Reue: Michael Witte als König Leontes © Britt Schilling

Die Ausweitung des Wahns zum Terrorregime geht allerdings nicht so schnell. Noch hat Leontes Menschen um sich, die darauf beharren, dass die Welt nicht unbedingt so ist, wie er sich einbildet. Berater Camillo (Nicola Fritzen) wählt den Verrat und flieht mit dem geretteten Polixenes nach Böhmen. Gattin und Freundin Paulina (Anja Schweitzer) bleiben weniger oder mehr erfolgreich vernünftig, aber am Ende sind Königin und Statthalter Mamillius (Raban Wild) tot.

Wiederholung der Tragödie als Farce

Ebenso willkürlich wie vorher in Eifersuchtswahn kippt Leontes nun in Reue, aber auch als König des Jammers lässt Shakespeare ihn im Zentrum des Geschehens, gibt ihm nur ein wenig Verschnaufpause, bevor das Stück nach einer Pause sich nach der Tragödie als Farce wiederholt. Die vermeintlich tote Königstochter ist, von herrlich vertrottelten Schäfern (Hartmut Stanke und Thieß Brammer) aufgezogen, überirdisch schön, verliebt sich in den böhmischen Herrscherspross Florizel (Raban Bieling). Polixenes lässt sein Willkür-Gen raushängen, verdammt die Eigensinnigen, Vertreibung, Flucht, dann großes Versöhnungs-Happyend samt untoter Wiederauferstehung von Hermione in Wintersizilien, bis dann doch das Fiepen der Intensivstation jeglichen Wahn auf die Sterblichkeit zurückwirft.

Schräges Fest, mit dem Heim und Flucht Orchester, Victor Calero und Nicola Fritzen © Britt Schilling

Inszenatorisch hat es die erste Hälfte schwerer, deren Last vor allem auf Leontes Schultern liegt. Michael Witte hängt sich voll rein, sowohl in die Raserei wie in die Reue, und kämpft tapfer mit dem strukturellen Handicap, dass beides demonstrativ unmotiviert ist. Das ist im zweiten Teil leichter. Da dürfen sich alle lustvoll im gekonnten Schmierentheater suhlen, während das Freiburger Heim und Fluchtorchester quer über die Bühne musiziert, das Schafschur-Verlobungsfest bis zur burlesken Oben-ohne-Show alle Volksfestregister zieht und das schrillste Outfit von allen (Kostüme: Polina Adamov) als schurköser Strippenzieher (Martin Müller-Reisinger) die Verlorenen zu ihrem Glück hinschröpft. Nach gruseliger Enthüllung der untoten Gattinenstatue steht Leontes am Ende mit dem abgebrochenen Arm der vermeintlich Auferstandenen in der Hand doch alleine da.

Komödiantische Revolte

Ein seltsames Stück, in dem Shakespeare die Willkür der Tyrannen der noch mächtigeren Willkür des Stückeschreibers gegenüber stellt. Der König mag nach Laune vernichten, aber der Nachwelt überliefert wird er als jammernder Intensivpatient, weil der Dichter es will. Die Inszenierung von Yair Sherman will es offenbar auch. Die komödiantische Revolte gegen den Tyrann taucht sie in burleske Soapästhetik.

Aus dem von der Bühne vorgegebenen Tunnel der Gewalt und seinen Todessprengseln ist kein Entkommen, solange da dieser Herrscher steht, selbst noch wenn er jammert. Auch Versöhnung mit den Herrschenden ändert daran nichts. Der tosende Schlussapplaus gilt unabhängig von der Deutung auf jeden Fall einer sehr engagierten Ensembleleistung und der überzeugenden Gestaltungsmacht des Leitungsteams. 

 

Das Wintermärchen
von William Shakespeare
Deutsch von Peter Handke, Textfassung Dori Parnes
Regie: Yair Sherman, Bühne: Roni Toren, Kostüme: Polina Adamov, Musik: Avi Benjamin, Licht: Ralf Strobel, Leitung: Heim und Flucht Orchester Ro Kuijpers, Dramaturgie: Anna Gojer
Mit: Michael Witte, Marieke Kregel, Daniel Khechumyan, Lou Friedmann, Nicola Fritzen, Martin Müller-Reisinger, Anja Schweitzer, Victor Calero, Raban Bieling, Hartmut Stanke, Thieß Brammer, Heim und Flucht Orchester (Live-Musik), Statisterie des Theaters Freiburg
Premiere am 21. Oktober 2023
Dauer: 3 Sunden, eine Pause

theater.freiburg.de


Kritikenrundschau

"Regisseur Yair Sherman schaut in seiner ersten Arbeit in Deutschland darauf, welche Auswirkungen es hat, wenn ein Herrscher zum Tyrannen mutiert. "Und welche Möglichkeiten es gibt, ihn wieder zur Vernunft zu bringen, zur Umkehr zu bewegen, die Welt wieder ins Lot zu setzen", schreibt Heidi Ossenberg in der Badischen Zeitung (23.10.2023, €). Sherman stelle Leontes in den Mittelpunkt seiner Arbeit und inszeniere ein Theater der Sinne. "Schneeflocken wehen über dem erstarrten schwarzweißen Tragödien-Setting in Sizilien, die sich im farbenfroh-romantischen Böhmen in bunt-glitzerndes Konfetti verwandeln." Ein fein gesponnenes psychologisches Spiel entwickle sich, mit der Quintessenz des Stücks und dieser Inszenierung: "Die Hoffnung ist die von Leontes' tapferem und moralisch gefestigtem Umfeld: dem Menschen Leontes zu verzeihen."

Bettina Schulte von der Deutschen Bühne (22.10.2023) wohnte einem "großen, einem fulminanten Theaterabend" bei. Sherman habe den Titel ernst genommen. "In bester Musical- und Ausstattungstradition bietet er Sinneslust, ohne sein Konzept aus dem Auge zu verlieren." Michael Witte erwecke den Anschein, als spielte er die Rolle seines Lebens.

Kommentare  
Wintermärchen, Freiburg: Wie geschrieben
Eine Frage: warum kann Freiburg das Stück nicht genauso aufführen, wie es seinerzeit geschrieben wurde? Jeder Regisseur etc. muss jetzt den aktuellen Mist reinziehen, das hasse ich als langjähriger (zwangshaft wegen Gattin, die Theater liebt, ich eben so nicht) Theaterbesucher zutiefst! Das Theater Freiburg hat schon die tollsten Sachen total verhundst… das ist meine Meinung! Ich erinnere nur an den Freischütz vor einigen Jahren! Aber egal, meinen Kommentar liest eh kein Mensch, aber mir geht es etwas besser!
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