Duett der Hoffnung

27. Januar 2024. In A. L. Kennedys Roman bringt eine Lehrerin ihren Schüler*innen bei, sich vor toxischen Persönlichkeiten zu hüten und kämpft gleichzeitig mit ihrer eigenen Vergangenheit. In der Inszenierung von Sandra Strunz wird sie von einer grandiosen Wiebke Puls gespielt, die begleitet wird von Edmund Telgenkämper und einem seltenen Orgel-Instrument.

Von Martin Jost

"Als lebten wir in einem barmherzigen Land" in der Regie von Sandra Strunz © Maurice Korbel

27. Januar 2024. Wiebke Puls als Anna fläzt und räkelt sich in einem riesigen Korbstuhl, einer Mischung aus Strandkorb und Vogelnest voller Decken und Kissen. Sie verschwindet beinahe in einem schütteren Plüsch-Overall, der aussieht wie die Gemütlichkeit an und für sich (Kostüme und Bühne: Sabine Kohlstedt). Aber Anna ist angespannt, wirkt ängstlich und wütend. Ein Mann namens Buster hat ihr ein Manuskript vor die Tür gelegt. Und Buster ist ein Stilzchen.

Mit der Geschichte vom Rumpelstilzchen will die Lehrerin Anna ihrer Grundschulklasse beibringen, einen bestimmten Typus zu erkennen und zu entlarven: "Stilzchen" ist ihr Sammelbegriff für alle Psychopathen und bösartigen Narzisst*innen. So einer drängt sich gerade wieder in ihr Leben. Als junge Frau hatte sie ein Verhältnis mit Buster. Die beiden waren Teil einer Straßentheater-Truppe, die als Support bei linken Protesten auftrat. Aber Buster war Polizeispitzel und verschwand eines Tages spurlos. Seinen Verrat hat Anna auch nach drei Jahrzehnten nicht verschmerzt.

Normalität gegen Obszönität

Buster ist inzwischen Serienkiller geworden. Seine Spezialität sind Morde, die wie Unfälle aussehen – an Bösewichten vom Kaliber Menschenhändler oder Kinderpornograph. Nach einem Zusammentreffen mit Anna schickt er ihr das Manuskript mit seinen Memoiren. Er hofft wohl auf Absolution. Anna würde gern in einem barmherzigen Land leben, in dem jeder und jede auf Vergebung hoffen darf, aber zugleich will sie den Stilzchen keinen Raum in ihrem Leben mehr geben: "Ich lasse nicht zu, dass meine Normalität schwächer ist als seine Obszönität."

In Aktion: Edmund Telgenkämper, Wiebke Puls © Maurice Korbel

Edmund Telgenkämper als Rumpelstilzchen/Buster erscheint in einem hohen Plexiglaszylinder und drückt sich an die Scheibe. Die durchsichtige Zelle suchen die Figuren abwechselnd immer dann auf, wenn sie sich besonders weit von der menschlichen Gesellschaft entfernen. Der Käfig ruft in unseren Köpfen auch "Social Distancing" auf. "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" spielt ohne dramaturgische Notwendigkeit im ersten Jahr der Corona-Pandemie. A. L. Kennedy nutzt das Szenario im Roman für spitze Hiebe gegen den Zynismus der Regierung unter Stilzchen Boris Johnson. Diese Ebene lässt der Theatertext von Sandra Strunz und Viola Hasselberg weg.

Es dauert lange, bis Buster zum ersten Mal zu Wort kommt. Telgenkämper changiert zwischen Rückblenden auf die unscheinbaren, kratzbuckelnden Identitäten, die Buster für seine Henkersmissioinen annimmt, und dem Duktus des heldenstolzen Blicks auf seine Erfolge. Dazwischen erzählt Anna uns weitere Episoden aus ihrem Leben. Mehrfach war sie Opfer von Stilzchen. Aber es ist ihr gelungen, für sich und ihren Sohn Paul ein hoffnungsvolles, angstfreies Zuhause zu schaffen. Sie hat sich neu verliebt und der Mann namens F. L. – kein Stilzchen – findet gerade Aufnahme in die Familie.

Literarische Figurensprache

Anna steigt auf einen Hocker. Das eine müssten wir noch wissen, sagt sie, und kämpft mit sich und erzählt zum ersten Mal, wie ein Stilzchen sie vergewaltigte. Ihre nackten Zehen kneten unterdessen den Schemel, die Haut raspelt hörbar über das Holz. Es ist eine Zäsur in Annas Biografie und die Anspannung ist greifbar. Bloß, viel intensiver als bei ihrem ersten Auftritt und fast durchgängig seitdem geht es jetzt nicht mehr. Puls ist hoch eingestiegen und hat sich um die Möglichkeit gebracht, ihr Spiel als Anna stärker zu modulieren. Dass sie ein viel größeres Spektrum von Intensität punktgenau bespielen kann, das zeigt sie, wenn sie kurz in die Nebenfiguren aus Busters Rückblenden schlüpft und dann wieder in Anna einrastet.

Alslebtenwirineinembarmherzigen3 1200 Maurice KorbelDie Schmerzen steigen herauf © Maurice Korbel

Es ist schwer, die Chronologie zu verstehen und der Handlung zu folgen. Die Adaption macht große Sprünge. Die Figuren Paul und F. L. spielen wichtige Rollen in Annas Leben, aber auf der Bühne werden sie nicht verkörpert und bleiben deswegen verschwommen. Strunz und Hasselberg haben für ihre Fassung die Sprache des Romans kaum verändert. Deshalb ist die Figurensprache sehr literarisch und voller Manierismen, die schon beim Lesen stolpern lassen.

Musikalisches Ereignis

Der Abend spielt sich ausschließlich auf der Vorbühne des Schauspielhauses ab. Ein Vorhang aus weißen Kunststoffbahnen füllt das Bühnenportal aus. Das dritte Objekt auf der schmalen Bühne neben Plexiglaszelle und Nest/Strandkorb ist ein Trautonium. Das Trautonium war eines der ersten elektronischen Musikinstrumente. Es sieht aus wie der Spieltisch einer kleinen Orgel. Es gibt weltweit nur eine Handvoll professioneller Musiker, die Trautonium spielen und einer von ihnen ist Peter Pichler. Im grauen Hoodie sitzt er am Manual und begleitet das Stück wie einen Stummfilm. Knarzend und schwirrend lässt er sein Instrument mit den Stimmen der Figuren in Dialog treten. Das ist eine wertvolle Gelegenheit, den Musiker Pichler und das historische Instrument live zu erleben. Gleichzeitig vermittelt der Soundtrack aus Geräuschen und Stimmungen das Gefühl, fremdgesteuert zu sein. Mitunter erschwert das Musikbett auch das Textverständnis. Dafür entschädigt der Epilog, in dem Telkämper und Puls den Pogues-Song "Rainy Night in Soho" im Duett mit Trautonium singen. Puls' Stimme ist umwerfend.

So ist der Abend ein musikalisches Ereignis, ohne dass die Musik eine produktive Synthese mit dem Stück eingeht. Das Stück ist ein schauspielerisches Ereignis aus zwei Naturgewalten, die für feinere Kontraste bloß mehr leise Töne beizumischen bräuchten. Die stark gekürzte Textfassung kann nicht reparieren, dass sich schon in der Romanvorlage die Teile nicht geschmeidig fügen. Deutlich klingt trotzdem die unzynische Botschaft durch: Ein hoffnungsfrohes Leben in einem barmherzigen Land ist möglich, aber vor den Stilzchen muss man immer auf der Hut sein.

Als lebten wir in einem barmherzigen Land
nach dem Roman von A. L. Kennedy
In einer Fassung von Sandra Strunz und Viola Hasselberg
Regie: Sandra Strunz, Bühne & Kostüme: Sabine Kohlstedt, Live-Musik: Peter Pichler.
Mit: Wiebke Puls, Edmund Telgenkämper. 
Premiere am 26. Januar 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

muenchner-kammerspiele.de


Offenlegung: Der Autor ist im Hauptberuf Angestellter der Münchner Volkshochschule GmbH, die mit der Landeshauptstadt München dieselbe Gesellschafterin hat wie die Münchner Kammerspiele.

Kritikenrundschau

"Der Abend ist ein Schauspielfest", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (29.1.2024). "Welche Magie Theater entfalten kann und wie großartig Telgenkämper sowie seine famose Kollegin Wiebke Puls agieren." Kennedy erzähle von zwei Menschen, die eine Vergangenheit teilen. Durch einen Zufall treffen die beiden einander Jahrzehnte später wieder. Puls und Telgenkämper "zeigen außerordentliche Leistungen", trotz der Intensität gelinge es ihnen stets, Kennedys Sprache sehr überzeugend zu gestalten.

"Zum Weinen ist und zum Lachen und das alles in ein und demselben Moment" sei der Abend, so Anne Fritsch in der Abendzeitung (29.1.2024). Sandra Strunz habe viel gekürzt. "Sie konzentriert sich auf die beiden Figuren, auf Anna und Buster. Und auf Wiebke Puls und Edmund Telgenkämper, die von einer Rolle in die nächste springen, dass es einem schwindelt." Fazit: "Ein Abend reinen Schauspielglücks. Traurig, komisch, bitter, voller Lust, Witz und Schmerz." 

"Kennedys Stärke ist die Freundlichkeit der Einzelteile, die nicht zwangsläufig etwas durchgehend Sinnstiftendes ergeben", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (29.1.2024). Gewinnbringender wäre es gewesen, Sandra Strunz hätte ihre Inszenierung gleich zu einem echten Kunstwerk erhoben, anstatt mühselig an einem Narrativ festzuhalten, das wiederzugeben ein eher aleatorisches Unterfangen sei. Der Buster-Strang zum Beispiel sei ein völlig wirrer Krimi, aber voller Figuren, die Edmund Telgenkämper verkörpert. "Großartig, oft reines Spiel um des Spielens willen, laut, lustig, präzise und albern". Und Wibke Puls singe und leuchte als Anna vor sich hin. "Was Puls und Telgenkämper veranstalten, ist so zauberhaft, dass es wurscht ist, wenn man nicht kapiert, worum es gerade geht."

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