Im Menschen muss alles herrlich sein - Münchner Kammerspiele
In der Spelunken-Zeitlosigkeit
1. Oktober 2023. Sasha Marianna Salzmanns Generationen-Roman erzählt vom Aufwachsen in Zeiten des Umbruchs und Lebenslinien, die in der Ukraine beginnen. Regisseur Jan Bosse und Dramaturgin Viola Hasselberg haben das Buch für die Bühne auseinandergenommen und erfolgreich wieder zusammengesetzt.
Von Martin Thomas Pesl
1. Oktober 2023. Zeitenwenden und Familienzwistigkeiten: Dass Sasha Marianna Salzmanns Roman Im Menschen muss alles herrlich sein aus 2021 als Vorlage für Dramatisierungen sehr beliebt ist, liegt nicht nur daran, dass Salzmann auch Dramatik schreibt. Hamburg, Magdeburg, Nürnberg brachten die Geschichte zweier Mütter und ihrer Töchter bereits auf die Bühne, bald folgt Berlin, und zum Saisonstart haben die Münchner Kammerspiele Jan Bosse mit der Inszenierung des Epos beauftragt.
Kein typischer Generationenroman
Dabei ist "Im Menschen ..." nicht wie ein typischer Generationenroman aufgebaut: Tatjana schildert ihre Lebensgeschichte der jungen Edi auf einer einzigen Autofahrt. Am meisten Platz erhält das Aufwachsen von Edis Mutter Lena in der Sowjetunion – genauer: der Ukraine – ab den Siebzigern, während Tatjanas Tochter Nina nur auf ein paar Seiten über ihr eigenes Leben berichten darf, obwohl sie als Einzige aus der Ich-Perspektive erzählt.
Bosse und die Dramaturgin Viola Hasselberg finden eine ganz eigene Chronologie. Der hier erste Dialog ist im Buch der letzte – und lässt Mühsames befürchten: Edith Saldanha als Edi und Maren Solty als Nina erzählen einander Dinge, die eigentlich als Info fürs Publikum dienen. Kein Wunder, in Wahrheit kennen die Töchter einander kaum, es eint sie nur, dass sie die Mütter für "diktaturgeschädigte Jammerlappen" halten.
Doch diese Vorausschau findet noch vor dem Eisernen statt, und kaum geht der hoch, schwindet jede Sorge. Denn der gesamte Zerfall der UdSSR findet an einem Schauplatz statt: in der abgeranzten Bar in Jena, wo Lena in Teil zwei ihren 50. Geburtstag feiern wird. Da sind schreckliche Wandfarben und Holzvertäfelung, da sind Spirituosen und Biergläser, viele Gitarren, ein Schlagzeug und eine Jukebox, und das Ensemble sitzt bereit wie für eine moderat moderne Tschechow-Inszenierung (von ihm stammt das titelgebende Zitat). Durch ein großes Fenster dringt immer wieder täuschend echtes Tageslicht. Die Scheiben bestehen aus schmelzendem Eis, bis zur Pause sind sie weg.
Kindheit im Pionier-Lager, Auswanderung dank Perestroika
Hier erleben wir, was bisher geschah, mit Sprüngen zwischen dem Tatjana- und dem Lena-Strang und Ausflügen in die Gegenwart. Lena (Wiebke Puls) wird als Kind ins Pionierlager geschickt, studiert Medizin, wird aber zu spät Ärztin, um ihre Mutter zu heilen. Sie lässt sich vom Tschetschenen Edil (Martin Weigel) schwängern, heiratet aber den Juden Daniel (André Benndorf) und wandert dank Perestroika mit ihm aus. Tatjana (Johanna Eiworth) führt mit ihrer Cousine einen Spirituosenladen und verliebt sich dort in Michael (Weigel), der sie nach Berlin mitnimmt und dort mit Kind im Stich lässt.
Nur Kathrin Plaths schalkhaftes Kostümbild gibt bisweilen Auskunft über Zeit und Ort. So ist Martin Weigel als Deutscher in den Neunzigern klar dadurch zu erkennen, dass er Shorts und ein Palmenhemd trägt und seiner Freundin den singenden Fisch schenkt (erinnern Sie sich?). Maren Solty wiederum kraxelt in der Verkleidung eines Star-Wars-Klonkriegers wie Spiderman die Wände hinauf.
Mitgerissen vom Takt
Nach zweieinviertel Stunden lädt Wiebke Puls als Lena, auf Versöhnung zwischen der todkranken Tatjana und ihrer an chronischer Menschenphobie leidenden Tochter Nina hoffend, alle zu ihrem Fünfziger ein, und die Band spielt schon mal einen ersten Song. Die Band, das ist der musikalische Großteil der Ensemblemitglieder, angeführt von Komponistin Carolina Bigge. An der Stelle ist man traurig, dass Pause ist. Man war hineingesogen in eine eigentümliche Zeitlosigkeit, wie sie Spelunken wie diese ausstrahlen, mitgerissen vom Takt des emphatischen Spiels ausnahmslos aller Beteiligten.
Wie Wiebke Puls vor Verliebt-Verlegenheit peinliche Schlagertexte singt! Wie Johanna Eiworth mit Karacho Party macht! Wie Svetlana Belesova zwei Figuren mit völlig gegensätzlichen Temperamenten mit wenigen Mitteln auf den Punkt bringt! Wie Edmund Telgenkämper als Lenas Vater voller Leidenschaft Pilznamen auflistet! Und wie Lisa-Katrina Mayer als (meist) tote Großmutter durchs Lokal geistert, mit finsterer Miene die Absurdität von Geschichte verkörpernd!
Nichts Wichtiges fehlt. Sogar Pirosmanis Giraffe, ein wichtiges Symbol im Roman, findet am Ende noch Erwähnung. Bosse und Hasselberg haben Salzmann auseinandergenommen und auf der Bühne erfolgreich wieder zusammengesetzt. An einem eigenen Narrativ jenseits dieser sportlichen Leistung scheint ihnen nicht gelegen. Aber so ist das: Kammerspiele-Intendantin Barbara Mundel hat ihren Kritiker:innen mehr lustvolle Schauspielabende versprochen. Dies ist definitiv einer davon, ein ziemlich herrlicher.
Im Menschen muss alles herrlich sein
nach dem Roman von Sasha Marianna Salzmann
In einer Fassung von Jan Bosse und Viola Hasselberg
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik (Komposition, Livemusik): Carolina Bigge, Musik (Sounddesign): Arno Kraehahn, Licht: Stephan Mariani, Charlotte Marr, Dramaturgie: Viola Hasselberg.
Mit: Svetlana Belesova, André Benndorf, Carolina Bigge, Johanna Eiworth, Lisa-Katrina Mayer, Wiebke Puls, Edith Saldanha, Maren Solty, Edmund Telgenkämper, Martin Weigel.
Premiere am 30. September 2023
Dauer: 3 Stunden, 10 Minuten, eine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
Kritikenrundschau
Einen "Start mit Schwächen" diagnostiziert Christiane Lutz den Münchner Kammerspielen in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2023) angesichts des Saisonauftakts mit Jan Bosses Salzmann-Inszenierung. Anders als bei der Saisoneröffnung mit Gabriele Tergits "Effingers" durch den Regisseur vor zwei Jahren wolle "der Bosse-Move" diesmal "nicht zünden" – "trotz tollem Stoff, trotz tollem Team, trotz guter Momente", urteilt die Kritikerin. "Die Inszenierung tritt oft auf der Stelle, variiert kaum in Dramatik und Atmosphäre, wie ein sehr langer Song, der eine eigentlich spannende Melodie anstimmt, aber nach einiger Zeit ermüdet."
Sven Ricklefs vom Bayerischen Rundfunk (1.10.2023) lobt das Bühnenbild. "Es ist ein sehr poetischer Raum, der es ermöglicht, den ebenso poetischen wie zeitlich sehr komplex gebauten Roman von Sasha Marianna Salzmann auf frappierend einfache und dabei theatral faszinierende Weise auf die Bühne zu bringen." Man schaue einem bravourösen Ensemble dabei zu, wie es sich durch die Hoffnungen, Ängste, Lebenslügen und Bewältigungsstrategien der verschiedenen Generationen spiele und dabei noch in der Lächerlichkeit Würde bewahre.
Jan Bosse und seinem "starken Ensemble" gelinge es "sehr unterhaltsam, ein Fenster in die Historie aufzureißen", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (1.10.2023). Die Inszenierung blick zwar "auf einzelne Charaktere – findet in ihnen aber Allgemeingültiges und unbedingt Erzählenswertes". Die neun Schauspieler*innen "verraten ihre Figuren dankenswerterweise nie für eine Pointe – vielmehr glücken ihnen immer wieder Momente von großer Klarheit, die begreifen lassen", zeigt sich der Kritiker erfreut.
"Bosse schneidet vieles an, kratzt ob der Fülle an Themen, Figuren und Konflikten hie und da aber nur an der Oberfläche, dringt nicht immer in die Tiefe des Romans ein. Er springt durch Raum und Zeit, und das wunderbar gelaunte Ensemble springt mit. Allen voran Wiebke Puls! Wie schön, diese große Schauspielerin wieder ganz in ihrem Element zu sehen", schreibt Anne Fritsch von der Abendzeitung (2.10.2023). Ihre Resümee: "Ein Saisonstart mit großem Stoff und großem Ensemble. Barbara Mundel und ihr Team scheinen es ernst zu meinen mit der Kehrtwende hin zur Stadt und dem Publikum."
"Spielerisch leicht und erzähltheaterhandwerklich gut gemacht", schreibt Teresa Grenzmann in der FAZ (4.10.2023) über die Inszenierung "im wandelbaren Einheitskneipenraum von Stéphane Laimé und unter stetiger Live-Beschallung" - auch wenn aus ihrer Sicht viele Facetten des Romans nur angedeutet werden können. "Auch Salzmanns Epos spart nicht an feiner Ironie, seine Nachdenklichkeit hat nichts Larmoyantes oder Verklärt-Nostalgisches. Doch in den Kammerspielen ist nicht ganz klar, ob wir in manchen Momenten der Unterhaltsamkeit nicht auch dazu aufgefordert sind, auf Kosten derer zu lachen, denen auf der Suche nach dem Glück die Hände gebunden sind."
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Meine Eindrücke auf www.qooz.de.
Das ist wirklich sehr provinziell, was zuletzt an den oftmals so wunderbaren Kammerspielen passiert.
Über Gesellschaft und Menschen hat z.B. ein Toshiki Okada mehr, intelligenter und spannender erzählt. Mit so einer Auswahl an altbackenen Regisseuren, Regie-Handschriften oder auch Schauspielern wie aktuell: gähn..
Und warum solch ein Russlandbashing? warum auch da der Holzhammer? sicher war und ist vieles nicht gut dort, aber wozu?!
Und warum gibt es kein Gästebuch? Das wäre doch eine Möglichkeit, verschiedene Assoziationen im Theater zu hinterlassen. Bitte wieder einführen
Der aus der Romanvorlage erarbeitete Text – sicher mit viel Mühe und Aufwand von Regisseur Jan Bosse und Dramaturgin Viola Hasselberg entwickelt – hat zwar versucht, möglichst viele Umsetzungen des Romans in direkte Dialoge zu wandeln, lieferte dennoch viele Passagen in der Sprache eines erzählenden Ichs. Wir haben genügend für das Theater geschriebene Texte, alte wie neue. Weshalb finden stattdessen aus Romanen wenig überzeugende Theaterfassungen so häufig Aufnahme in den Spielplan der aktuellen Kammerspiele. Jan Bosse ist nicht Jon Fosse, der mit dem Nobelpreis für Literatur nicht nur für seine Romane sondern auch für seine vielen dramatischen Texte für das Theater ausgezeichnet worden ist und somit – wie viele andere Dramatiker:innen – hinreichendes Material für die Bühne geliefert hat. Außerdem waren für mich viele szenische Sprünge in der zeitlichen und personellen Zuordnung im Textverlauf wie auch in der Inszenierung nicht nachvollziehbar. Dennoch lieferten sie in ihrer Kontrastierung einige anschauliche Bilder der unterschiedlichen Entfremdungen. Insbesondere das Bild der auftauenden Fensterwand aus Eis war beeindruckend, wenn auch nur bedingt passend. Ist doch das „Eis“ anders als im Bühnenbild zwischen den dargestellten Generationen und Personen sozial „nicht geschmolzen sondern dicker geworden“.
Die Wiederholung der immer wieder selben arg einfach gestrickten Melodie der Musikerin und der beteiligten Schauspieler:innen wirkte auf mich nicht melancholisch sondern platt, als würde die Inszenierung Ihrer eigenen Tragik nicht trauen. Dies machen auch die mittelmäßigen bis schwer zu ertragenden Musikeinlagen nicht besser.
Ach, ich vermisse anregende und anspruchsvolle Theaterkunst an den Münchner Kammerspielen! Die wenigen überzeugenden Inszenierungen pro Spielzeit, wie „Nora“ & „Die Freiheit einer Frau“ in der letzten Spielzeit reichen nicht aus. Kein Wunder, dass die Auslastung der kommenden Abende so erschreckend gering ist.