Kleiner Mann, was nun? - Luk Perceval inszeniert seine Fassung des Hans Fallada-Romans
Es weint die Würde
von Georg Kasch
München, 25. April 2009. Ja, was denn nun, kleiner Mann? Ein merkwürdiges, verhaltenes Etappen-Happy-End, diese familiäre Idylle inmitten des sozialen Abstiegs, die Hans Fallada in seinem Erfolgsroman zur Weltwirtschaftskrise 1929 Johannes Pinneberg und dessem "Lämmchen" Emma Mörschel angedeihen lässt. Und das nach einer Achterbahnfahrt zwischen Anstellung und Arbeitslosigkeit, Hoffnungsschimmer und trostloser Realität, Geld-Fetischismus und Angst. Fallada traf den Nerv seiner Zeit – und trifft ihn wieder, 80 Jahre nach dem Schwarzen Freitag. Seine Romane haben Konjunktur, auch auf der Bühne – eben erlebte Wer einmal aus dem Blechnapf frisst in Hamburg Premiere.
In den Münchner Kammerspielen sorgen Luk Perceval und ein glänzendes Ensemble dafür, dass Falladas Roman "Kleiner Mann, was nun?" um eine Liebe, die größer ist als der entmenschlichende Wirtschaftswanderzirkus, nicht auf den Fettaugen des Kitsches ausgleitet. Sachlich entschlackt ist schon die weite Bühne (Annette Kurz), von einem Orchestrion beherrscht, diesem zaubrischen Konglomerat aus Pianola, Xylofon, Akkordeon und Gründerzeitmöbel, aus dem ein Teil von Mathis B. Nitschkes unaufdringlich magischer Musik tönt.
Komm Glück, wir singen dir eins
Bewegte Bilder umspülen Schauspieler und Instrument mit ihrem fahlen Licht, weniger Illustration (etliche Eindrücke stammen aus Walther Ruttmanns Film "Berlin, Sinfonie einer Großstadt" von 1927) als rhythmisierende Schlaglichter der (stockenden) Industrialisierungs-Maschine. In Percevals Digest-Version des Romans, die immer noch gute vier Stunden dauert, beschreiben und kommentieren die Hauptfiguren mit Falladas Worten sich selbst und ihre Umgebung. Dopplungen zwischen Bericht und Szene aber weiß Perceval zu verhindern: Pinnebergs Konfektionsabteilung besteht nur aus einer Hand voll Kleiderbügeln, eine Verkaufsanprobe wird mit einem um und um gewendeten Jackett bestritten.
Wie aus dem Nichts tauchen hier die Figuren auf, fügen sich zu Gruppen, auch zu Tableaus, und dann singen sie zur orgelnden Melancholiemaschine mehrstimmig: "Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück", "Einmal schafft’s jeder" und, ein Berliner Konsum-Spaß, "Komm mit zu Möbel Hübner".
Im Zentrum des Textmarathons entsprudeln Paul Herwigs stets verdruckstem Pinneberg und Annette Paulmanns Lämmchen unentwegt die Worte. Herrlich naiv sind sie in ihrem himmelhochjauchzenden Glück wie in ihrer Angst. Sie reden, als könnten sie Worte vor dem Morgen bewahren. Es schmerzt physisch, Herwigs biederen Jungen unter Dauerspannung buckeln und sich wegducken zu sehen, wie er hysterisch seinen Bleistift schärft und verzweifelt aktionistisch vorm Arbeitgeber nach der Lohnsteuerkarte sucht.
... und bist du auch noch so klein
Ein Loriot-Sketch ist sein Verkaufsgespräch, in dem er für alle redet und Peter Brombacher als Dame den Mund plappernd bewegt, eine Demütigung in Raten sein Versuch, beim Schauspieler (André Jung brillierte zuvor als Unternehmer Kleinholz und als Kollege Heilbutt) die Absatzquote zu erfüllen.
Annette Paulmann hingegen postuliert ihren Glauben an Mann und Kind in einem kindlichen Ton, der kaum erschütterbar ist. Daneben glanzvolle Miniaturen: Stefan Merkis schmieriger Unternehmens-Rationalisierer und schnippische Sekretärin, Hans Kremers verhalten schillernder Zuhälter und – ein krummer Rücken, ein plattdeutsch eingefärbter Akzent – Lämmchens Mutter, Wolfgang Preglers sich kaiserlich spreizender Personalchef. Nur so zum Beispiel.
Schrecklich komisch blitzt das oft hervor, ist unterhaltsam, macht Tempo. Aber gegen Ende fndet Perceval noch einen neuen, einen atemlos dringlichen Ton: Aus den getriebenen Monologen Pinnebergs und Lämmchens schreit eine existenziell bedrohte Würde, die nur durch Paul Herwigs Tränen gerettet wird. Für diesmal.
1972 stürzte sich Peter Zadek mit einer ungemein erfolgreichen Volkstheater-Revue-Version von „Kleiner Mann, was nun?“ in seine Bochumer Intendanz. Mit dieser stilleren, zutiefst menschlichen Inszenierung setzte Perceval nun einen fulminanten Schlusspunkt unter die Kammerspiel-Ära Frank Baumbauers. Seit 2001 ist Baumbauer Intendant der Kammerspiele, jetzt hört er auf – und 2010 folgt ihm, nach einer Übergangsspielzeit, Johan Simons.
Kleiner Mann, was nun?
von Hans Fallada, in einer Fassung von Luk Perceval
Regie: Luk Perceval, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Musik: Mathis B. Nitschke, Video: Luk Perceval, Martin Noweck, Philipp Trauer. Mit Annette Paulmann, Paul Herwig, Gundi Ellert, Wolfgang Pregler, André Jung, Hans Kremer, Stefan Merki, Peter Brombacher, Tina Keserovic.
www.muenchner-kammerspiele.de
Mehr lesen? In Hannover inszenierte Luk Perceval im Januar 2009 Nach der Probe von Ingmar Bergmann.
{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=knZEpJAfzEM}
Kritikenrundschau
Mit Achternbusch und Fallada zeigen sich die Münchner Kammerspiele zum Ende der Intendanz von Frank Baumbauer von ihrer besten Seite, schreibt Johanna Schmeller (taz, 28.4.) in iher Doppelrezension der beiden Abende. Selbst wenn man von einer herbeiargumentierten Nähe zwischen Falladas Roman und der aktuellen wirtschaftlichen Lage wenig hält, gehe es dem heutigen Publikum statt ums Überleben doch "nur" um die Vermeidung von Wohlstandsverlust, "die biedere, innige Art, mit der sich Pinneberg an sein 'Lämmchen' Emma klammert, erscheint in Luk Percevals Inszenierung als ein allzu nachvollziehbarer Wunsch nach Berechenbarkeit in unruhigen Zeiten." Als er hilflos seinen kleinen Sohn "festhalten will und zugleich Angst hat, zuzupacken, verliert die Inszenierung ihren gewollt musicalhaften Grundton". In diesem Moment berühre Pinnebergs Angst den Zuschauer fast ebenso tief wie das Aufbegehren gegen die bayerische Provinz von Achternbuschs "Susn" am Abend zuvor.
Auch Teresa Grenzmann (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.4.) sieht in "Susn" und "Kleiner Mann, was nun?" zwei "großartige, verblüffend parallele Theaterabende". Percevals Inszenierung sei ein so "simples wie vollendetes Gesamtkunstwerk aus Bühne, Musik, Video, Licht und Ruttmanns Großstadtimpressionen, die manchmal als einzige flackernde Lichtquelle ihre halbschattigen Schemen auf die Szene werfen, begleitet von den nostalgischen Tönen des illuminierten Orchestrions." Ein Abend fabelhafter ästhetischen Unmittelbarkeit. Susn, Lämmchen und Pinneberg seien drei Figuren, "die der Gefangenschaft gesellschaftlicher Zwänge zum Opfer fallen", scheinbar gottverlassen, glücksverlassen. "Hier sieht man sie träumend vor den mannigfaltigen Flügelaltären des Lebens, Triptychen aus sorgenvoller Gegenwart, verdrängenswerter Vergangenheit und ungewisser Zukunft."
In seiner Hans-Fallada-Adaption "Kleiner Mann – was nun?" an den Münchner Kammerspielen habe sich Luk Perceval "bewundernswert zurückgenommen" und stelle "seine Mittel ganz in den Dienst der Geschichte", was für Perceval einen "Schritt in eine neue Richtung" darstelle – schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (27.4.). Am Anfang klapperten zwar noch die szenischen Anschlüsse, "weil Perceval zu vorsichtig am Buch entlanginszeniert", doch nach der Pause finde die Aufführung "zu ihrem Rhythmus, wagt Perceval größere Sprünge in der Handlung und verdichtet die Szenen. (...) Von da an entfaltet die Inszenierung einen unwiderstehlichen Sog, weil Perceval zeigt, dass es nicht der eine Schicksalsschlag ist, der den kleinen Mann vernichtet, sondern die tausend kleinen Schläge und Stiche." Perceval mache nicht "das Roaring-Twenties-Fass auf wie einst Peter Zadek in seiner großen Fallada-Sause; er zeigt die Härten ungemildert, aber auch mit komischen Tupfern".
Für Matthias Heine von der Welt (27.4.) grenzt es "an ein zuschauerfreundliches Wunder, dass der Regisseur Perceval sich diesmal aller dekonstruierenden 'Zugriffe' (so heißt das sittenstrolchig im Dramaturgenjargon)" enthalten habe. Perceval erzähle "einfach mit handwerklicher Bravour, mit wunderbaren Schauspielern, die das Zarte ebenso beherrschen wie, wenn nötig, die Knallcharge, und mit dem Willen zur ironischen Revue die Geschichte von Johannes Pinneberg und seiner Frau Emma (genannt 'Lämmchen'), die versuchen, inmitten der Katastrophe ihr Kind, ihr Selbstwertgefühl und ihre Liebe zu retten." Im Ergebnis seien das "die kürzesten vier Stunden, die es derzeit im Theater zu sehen gibt".
Perceval mache mit "Kleiner Mann – was nun?" "klassisches Erzähltheater, das trotz seiner epischen Ausmaße von über vier Stunden nie langatmig wird", schreibt Christine Diller in der Frankfurter Rundschau (27.4.): "Eine Geschichtsstunde, die alles lehrt, was man wissen muss über den damaligen Zustand der Gesellschaft, über Nazis, Kommunismus, einen skrupellos gewordenen Kapitalismus." Perceval habe den Roman "so geschickt bearbeitet, dass rezitierende und szenische Passagen nahtlos und unterhaltsam ineinander übergehen. Paul Herwig und Annette Paulmann verkörpern das Paar temperamentvoll und unverträumt, mit all den Zweifeln und dieser großen, aufrichtigen Zuneigung. Die Truppe um sie herum verwandelt sich spielend in Mitstreiter, Miesmacher, Verräter."
"Ach, wäre das schön, wenn sich die Münchner Kammerspiele wieder mehr aufs Theater besinnen und nicht so viele Romane und Filme der Bühne aufpfropfen würden", seufzt Simone Dattenberger im Münchner Merkur (27.4.). Percevals Version von "Kleiner Mann – was nun?" sei "ein Gebilde, das man eine halbszenische Roman-Rezitation oder eine Abart des Epischen Theaters nennen könnte." Denn Perceval reanimiere "gewissermaßen Brechts Dramenform, ohne allerdings dessen Forderung nach Gefühlsdistanz nachkommen zu wollen. Daher bleibt die herzerwärmende Liebesgeschichte zwischen Lämmchen und Pinneberg wundersam gefühlsträchtig, aber wird nie gefühlig." Freilich gebe Perceval "dem Theater nicht, was des Theaters ist. Sympathisch ist sein Respekt vor dem Buch, über gut vier Stunden trägt das jedoch nicht. Schon gar nicht, wenn einer die Geschichte des Paares kennt und auf eine echte dramatische Umsetzung gespannt ist."
"Nach vier Stunden puren Theaterglücks wollten die Ovationen nicht enden", berichtet Gabriella Lorenz in der Abendzeitung (27.4.). Mit Videobildern aus Walter Ruttmanns "Berlin: Die Sinfonie der Großstadt" vergegenwärtige Perceval "die 20er-Jahre-Atmosphäre, ohne dass die Bilder je von den Schauspielern ablenken". Denn die seien "das Zentrum und Wunder dieser Aufführung. Mit hinreißender Frische spielen Annette Paulmann und Paul Herwig die unerschütterliche Liebe und Naivität des jungen Paars." Epische Erzählung und Spiel flössen ständig ineinander: "Die Szenen aus Pinnebergs Arbeitswelt und dem familiären Umfeld inszeniert Perceval fast kabarettistisch. Die Figuren wirken wie scharf überzeichnete Karikaturen wie von George Grosz oder Otto Dix." Die Schlager-Botschaften der 20er und 30er Jahre schließlich seien "die bittere Würze dieses großen und großartigen Theaterabends".
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 13. September 2024 Staatstheater Kassel: Geschäftsführer freigestellt
- 13. September 2024 Salzburg: Nuran David Calis wird Schauspieldirektor
- 12. September 2024 Heidelberg: Intendant Holger Schultze hört 2026 auf
- 12. September 2024 Auswahl des "Augenblick mal"-Festivals 2025 in Berlin
- 12. September 2024 Freie Szene Hamburg: Protest-Aktion zur Spielzeiteröffnung
- 12. September 2024 Baden-Baden: Nicola May beendet Intendanz 2026
- 12. September 2024 Berlin: Aufruf der Komischen Oper zu Musikschulen-Problem
- 12. September 2024 Literaturpreis Ruhr für Necati Öziri
neueste kommentare >
-
Augenblick mal Juryfragen
-
Augenblick mal Roter Baum
-
Tod eines Handlungsreisenden, Berlin Realistisch inszeniert
-
Augenblick Mal Kriterienantwort
-
Frau Yamamoto, Zürich Glück
-
Augenblick mal Kriterienfrage
-
Buch Ideologiemaschinen Klarsichtigkeit
-
Tabori-Preis Danke für die Aufklärung
-
Buch Ideologiemaschinen Eine Bitte
-
Tabori-Preis Preisgeld ist Projektgeld
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Zu den Rezensionen: In der allgemeinen Baumbach-Perceval-Begeisterung behält einzig die Rezensentin im Münchener Merkur einen klaren Blick. Wenn man den Text auf die Hälfte zusammenstriche, wäre das Stück weniger geschwätzig und es könnte eindrucksvolles Theater daraus werden. Aber das Publikum erträgt geduldig die Willkür der Regisseure und ihrer Komplizen, der Rezensenten. Allerdings: Als ich während des Schlussapplauses die Tür zum Foyer öffnete, betrachtete ein Teil des bis dahin geduldig und pflicht- schuldig klatschenden Publikums das offenbar als einen Akt der Befreiung und erhob sich Richtung Ausgang.
41/4 Stunden können wie zwei sein und zwei wie sechs. Ich habe jede Minute genossen und auch das Ende mit all seiner Langsamkeit gehört dazu. Das war ein Stück fürs TT10! Großartig und die standing ovations in Berlin haben ja bewiesen, dass das so mach ein Zuschauer auch so sah.
Der Zerfall des "klassischen Proletariats" und damit die Möglichkeit einer gegen die Verhältnisse Widerstand leistenden Massenbewegung wurde mir durch die zunehmende Marginalisierung und Isolation von Pinneberg umso schmerzlicher bewusst.
Auch die Liebe und Fürsorge bzw. das Füreinander-Einstehen zwischen den Geschlechtern und damit das immer wieder besungene kleine bzw. private Glück ist heute wohl kaum noch so bruchlos zu behaupten wie im Kontext der Weimarer Republik. Da hält man zusammen, geschehe und komme was wolle.
Zudem habe ich mich gefragt, wie es in heutigen Ohren wohl klingen mag, wenn davon gesprochen wird, dass Lämmchen eine Kommunistin sei. Das Theatertreffen 2010-Publikum ging bei diesem Satz begeistert mit. Sind das jetzt alles KommunistInnen oder SozialdemokratInnen? Oder haben die womöglich gar nicht richtig zugehört?
Weiterhin rückte folgende Szene in den Fokus meiner Aufmerksamkeit, in welcher Pinneberg dem berühmten Schauspieler, bekannt für die Darstellung der kleinen Leute und Arbeiter, etwas verkaufen will. Brüsk weist dieser Schauspieler Pinneberg ab, als dieser versucht, ihm die unsichere Position seines Arbeitsverhältnisses und damit die (Überlebens-)Notwendigkeit des Verkaufs (eines Maßanzugs) verständlich zu machen. Fazit: Darstellen muss noch lange nicht heissen, dass einer auch danach lebt. Ist also alles nur Spiel bzw. Theater? Hoffentlich nicht. Diese Inszenierung hat für mich einmal mehr deutlich gemacht, dass es Theatermacher mit einer politischen Haltung bzw. mit einem Blick auf solche (Selbst-)Widersprüche braucht. Hier zeigte sich die Notwendigkeit eines Bewusstsein für die gesamtgesellschaftliche Verantwortung eines Künstlers. Danke, Luk Perceval.
Schließlich, könnten Sie kurz darlegen, worum es in dem Programmheft-Essay geht und wer der Verfasser desselben ist? Ich kann mir nämlich kaum vorstellen, dass es Perceval hier nur um "die Liebe" ging.
Es wäre allerdings wirklich schön, wenn Sie den Interviewauszug hier noch posten würden, denn das erscheint mir eigentlich kaum zu glauben, dass Perceval jetzt den Rückzug in die Kleinfamilie als "die Lösung" ansieht. Nee nee nee.
Also im Programmheft sagt Perceval und ich muss das jetzt etwas aus dem Zusammenhang zerren, da es sonst zu lang wird: „...Der einzige Gegenentwurf, an den ich glaube, ist eigentlich, und das ist, was Pinneberg glaubt, dass man auf eine sehr individualisierte Art und Weise versucht, in seiner eigenen direkten Umwelt ein Klima zu schaffen, dass jedenfalls ein Gegenentwurf sein könnte. Letztendlich beruht dieser Entwurf so Pinneberg und Lämmchen auf Begriffen wie Menschlichkeit, Solidarität und Mitgefühl.“ So weit noch sehr gut, aber dann: „...das sind Werte, die in dieser Welt nicht zur Geltung kommen, die kaum eine Überlebenschance haben. Es sei denn, in dem höchst intimen und kleinen Kreis, den der Mensch um sich schaffen kann.“ Hm, ist das jetzt Vogel Strauss-Mentalität?
„In dem Sinn finde ich das eigentlich schon einen Gegenentwurf, den Fallada da am Ende sehr subtil und überhaupt nicht sloganhaft anbietet. Er glaubt an die Liebe. Die alte Liebe. Das alte Glück.“
Ich will das nicht banalisieren, aber das sind Grundwerte für mich, über die muss ich eigentlich nicht mehr nachdenken. Moralisch und respektvoll miteinander um zu gehen, ist das Grundgerüst einer sozialen Gesellschaft. Da kann man dann aber nicht bei stehen bleiben, wenn das nicht mal funktioniert.
Sie vereinfachen hier wieder sehr die Entsehung von Faschismus. Vom Schlechten habe ich gar nicht gesprochen, ich habe den Rückzug ins Private kritisiert. Während sich in den 20er und 30er Jahren die Nazis und Kommunisten auf den Straßen gejagt haben, hat der Großteil der Bevölkerung weg geschaut und dann das vermeintlich kleinere Übel gewählt. Soziales Elend gepaart mit nationalistischen Großmachtfantasien beförderte die Entwicklung von Faschismus. Dazu kamen globale Wirtschaftsinteressen, die ohne Demokratie besser durchsetzbar waren und die Überheblichkeit der in der Weimarer Republik regierenden Parteien. Die Künstler der Neuen Sachlichkeit Dix, Grozs, Schad, Schlichter usw. haben das in ihren Bildern sehr gut dargestellt. Zur Zeit ist eine Ausstellung des Verismus in der Gemäldegalerie Berlin zu sehen, unbedingt auch den Videofilm im Foyer ansehen. Für die Literatur stehen als Vertreter dieser Kunstrichtung Döblin, Kästner, Tucholsky, Horvath oder eben auch Hans Fallada. Zusammen mit dem Film von Walter Ruttmann „Berlin die Sinfonie einer Großstadt“ hat Perceval die Stimmung in den 20er Jahren gut eingefangen. Man hätte übrigens genau so Filme von Wilhelm Pabst nehmen können, oder auch den Film „Menschen am Sonntag“ von Billie Wilder, Fred Zinnemann und den Siodmak-Brüdern aus dem Jahre 1929/30. All das sind gute Beispiele für das Gefühl dieser Zeit, einerseits die Freiheit der Weimarer Republik, andererseits die aufkommende Wirtschaftskrise und die sozialen Probleme der einfachen Leute auf der Straße.
Fallada beschreibt ja im Roman minutiös den Ablauf des Alltags eines kleinen Angestellten, das in genau dieser epischen Form auf die Bühne zu bringen ist schon sehr mutig, angesichts der zur Zeit herrschenden Bühnenästhetik. In 4,5 Stunden bei Castor hätte das sicher anders ausgesehen, wäre aber auch nicht unbedingt aufregender gewesen.
So zieht sich nun dieser Reigen an uns vorbei und man kann daraus schon einiges nehmen und auf die heutigen Verhältnisse ummünzen, aber dann zum Schluss, wenn Pinneberg dann wirklich unten angekommen ist, wieder nur die Liebe als Allheilmittel zu preisen, das greift zu kurz. Gerade weil wir heute wissen, wie es weiter gegangen ist. Wer sagt denn wirklich, ob Pinneberg in 2-3 Jahren nicht auch die Nazis gewählt hätte?
Vielleicht hat Perceval, das ja auch alles nicht genau so gemeint, aber die Gefahr besteht wieder, das weg geschaut wird, weil man mit den eigenen Problemen beschäftigt ist und dann merkt man irgendwann zu spät, das man schon im Sack sitzt. Da hilft Ihnen dann Ihr Zizek auch nicht mehr.
Übrigens sollte mal einer Bauern, Bonzen und Bomben von Fallada für die Bühne bearbeiten, da steckt mehr Brisanz und Heutigkeit drin. So im Stile eines Werner Schwab, die Verlogenheit des Kleinbürgers und die Korruption in Wirtschaft und Politik zeigen.
Dazu möchte ich Ihnen antworten: Nein. In meiner Lesart ist das keine Vogel Strauss-Mentalität, sondern ein sehr klarer und realistischer Blick auf unsere Gegenwart. Das hat nichts mit einer abstrakten Idealisierung "der Liebe" zu tun, sondern es geht Perceval wohl eher um die konkreten Beziehungen zwischen Menschen. Was können wir bereits im Kleinen tun, jenseits von abstrakten politisch-ideologischen Menschheitsentwürfen?
Vergils "amor vincit omnia" ist auch in meiner Perspektive (überlebens-)notwendig, und zwar im Sinne der Aufrechterhaltung einer solidarischen Zivilgesellschaft. Und das war und ist leider oftmals kein selbstverständlicher "Grundwert" - wie Sie schreiben. Weder die Staatsgewalt noch der Einzelne hielten und halten sich an diese rechtliche Setzung. Es geht also immer wieder neu um die kommunikative Verhandlung dieser eben nur vermeintlich fixierten Grundwerte.
Hm, also Liebe besiegt alles. Was wäre denn so dieses alles? Für mich ist das nichts als ein schöner Poesiealbum-Spruch. Den können Sie sich in Ihr Taschentuch sticken und dem Ritter Ihres Herzens zu werfen. Mal ein kleiner Scherz zum Herrentag. Aber sind Sie wirklich so hoffnungslos romantisch? Das nehme ich Ihnen, nach dem was Sie hier alles schon so geschrieben haben, nicht ab. Solidarität oder Nächstenliebe, was wäre erstrebenswert? Sicher beides, nur bleibt die Nächstenliebe eben nur ein Akt, während Solidarität ein Hinterfragen der Umstände voraussetzt. Das sollte man schon unterscheiden, bevor man allgemein von Liebe spricht. Das kommt in der Inszenierung nicht klar heraus und so wird nur die Liebe im Privaten gegen die raue Gesellschaft in den Vordergrund gestellt.
Ich vermag nicht genau beurteilen, worum es Fallada vorrangig ging, aber er ist auf jeden Fall auch eine tragische Figur, der vor allem in seinem Streben nach einer gesicherten Existenz und privatem Glück immer wieder Rückschläge erlitten hat. Anders als Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Egon Erwin Kisch, Ödön von Horvath, Thomas und Heinrich Mann, blieb er in Deutschland, zog sich ins Private zurück und schrieb Kinderbücher und Unterhaltungsliteratur. Das wertet natürlich sein Gesamtwerk in keiner Weise ab. Güte und Menschlichkeit durchziehen sein ganzes Werk, wie auch in "Wolf unter Wölfen". Er ist sicher nicht nur ein Moralist, aber er bezog auch nie eine klare politische Stellung.
Nach dem, was auch Sie hier zu Fallada schreiben, verstehe ich allerdings nicht, warum Sie von Percevals Inszenierung überhaupt eine politische Stellungnahme erwarten. Vielleicht sind Falladas Stoffe dafür einfach nicht die geeignetsten Vorlagen. Gegenüber Falladas "Arme, aber anständige Leute-Logik" ist Brechts Dialektik auch in meiner Perspektive tatsächlich interessanter. Man analysiere dazu nur einmal folgendes Brecht-Zitat im Hinblick auf die Widersprüche, die es eröffnet:
"Ist ihre Schlechtigkeit ohne Maß, so ist's / Ihre Armut auch. Nicht der Armen Schlechtigkeit / Hast du mir gezeigt, sondern / Der Armen Armut. / Zeigtet ihr mir der Armen Schlechtigkeit / So zeig ich euch der schlechten Armen Leid." (aus, natürlich: "Die heilige Johanna der Schlachthöfe")
Ich präzisiere: Akt (von lat. agere "handeln"; Partizip "actum" "das Gemachte" oder actus, actio "Tat") bezeichnet: allgemein einen Vorgang, eine Handlung.
Ein Akt
der Nächstenliebe
den können sie natürlich auch nackt
Hauptsache Sie tun Ihn.
Dieser Slogan "Just do it!", den gebraucht doch inzwischen sogar der Turnschuhhersteller Nike. Diese politisch-ökonomisch-kirchliche Botschaft des "Don't think, do it!" soll einen falschen Ausnahmezustand suggerieren, wonach wir alle unverzüglich zur Aktivität bewegt werden sollen, anstatt die Situation (zunächst einmal) kritisch zu analysieren. Wir sollten daher die 11. These von Marx vielmehr umdrehen, welche da lautet: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Vielleicht kommt es heute wieder verstärkt darauf an, schamlos gegen das überhastete Tun zu sein und sich verstärkt für das DENKEN einzusetzen. Wenn schon Bill Gates und Starbucks zur "Rettung der Dritten Welt" aufrufen, dann sollten wir hellhörig werden. Das könnte auch ein Signal für die schleichende Entpolitisierung der Gesellschaft sein.
Also nun ist aber gut. Ich habe doch deutlich geschrieben, das ich sehr wohl zwischen dem einfachen Akt der Nächstenliebe und echter Solidarität unterscheiden kann. Wir zerreden die Inszenierung inzwischen mehr, als das wir zu irgendeinem Ergebnis kommen. Sie können jetzt noch den Obama-Slogan „Yes We Can“ rauszerren und dann sind wir endgültig in der neoliberalen Konsens-Hölle angekommen. Nein Danke!
Was ist denn nun für Sie "echte Solidarität"? In welcher Form ist "echte Solidarität" auf dem Theater darstellbar, und zwar ohne diese Dramaturgie von Schuld und Erlösung aufzurufen, wonach der passive Zuschauer zu kollektiver Aktivität bewegt werden müsse.
Ich würde sagen, dass Percevals "Kleiner Mann" deswegen kein Rührstück geworden ist, weil die Schauspieler in jedem Moment deutlich machen, dass das hier ein Spiel der Wieder-Holung des Fallada-Kontexts in der Differenz zum heutigen Kontext ist. Das wird vor allem über die körperlichen Bewegungen demonstriert, welche eine andere Bedeutung als die gesprochenen Worte eröffnen. So wird der Fallada-Kontext des möglichen privaten Glücks durch die hier und jetzt durch die Schauspieler hergestellte Bühnenrealität zugleich aufgerufen und kommentiert.
Am Ende gingen Perceval dann doch die Einfälle für den Sportlerfasching aus oder er meinte, jetzt müsse man auch mal ernst werden. Heraus kam nur noch Sentimentalität, die dann schon wieder unfreiwillig komisch wirkte.
Dass im ersten Halbjahr der Kammerspielsaison Bühnenfassungen von Romanen die Regel, genuine Dramen die Ausnahme sind, ist ein Krisensymptom. Dass renommierte Kritiker den „Kleinen Mann“ zum Theaterereignis hochschreiben, ist ein weiteres.