Abtauchen ins Seepferdchenreich

26. Juli 2023. "Eine Show über die Lügen, auf denen das Leben basiert", so der Untertitel der letzten Spielzeit-Premiere der Münchner Kammerspiele. Sie entstand im Rahmen einer neuen Schwesternschaft mit dem Theater TR Warszawa und erzählt von queerem Leben, der Ballroom Culture und der Frage: Wo ist man sicher?

Von Silvia Stammen

"niedoskonała utopia / an imperfect utopia" von Noémi Ola Berkowitz und Martyna Wawrzyniak an den Münchner Kammerspielen | Auf dem Bild: Justyna Wasilewska und Edith Saldanha © Judith Buss

26. Juli 2023. Nein, ein echter Ball ist das nicht, was als letzte Premiere der Saison auf der Bühne der Münchner Kammerspiele ausgetragen wird, das beteuern die vier Agierenden selbst, die sich zwischen den Zuschauer*innen in einer Art Boxring mit blau spiegelndem Boden bewegen. Schon gar nicht im Sinne einer traditionellen Vergnügungsveranstaltung mit Gesellschaftstänzen und einem nostalgischen Zeremoniell, aber auch nicht in der subversiven Form, auf die hier konkret angespielt wird: Der Ball als Ausdruck der Queer Culture ist ein Überlebensraum, ein Ort für die Träume derjenigen, die sonst ausgeschlossen sind, für das Erwachen ihres Stolzes und die Freude daran, für einen Moment endlich all das sein zu dürfen, was man sich selbst vorstellen kann und nicht nur das, was eine homophobe Gesellschaft für sie vorgesehen hat.

Der Ball gehört uns 

"A ball ist our‘s. The ball is like our world", erklären die Schwarzen und Latino-Jugendlichen in Jennie Livingstones legendärem Dokumentarfilm "Paris is burning" aus dem Jahr 1990, der erstmals Einblicke in die Ballroom Culture im Harlem der 1980er Jahre erlaubte und bei "niedoskonała utopia / an imperfect utopia" von Noémi Ola Berkowitz und Martyna Wawrzyniak in kurzen Ausschnitten zitiert wird. Dort wachten Drag Queens wie Pepper LaBeja oder Paris Dupree über ihre chosen family und wurde Voguing erfunden, diese Kunstform des Schaulaufens und der Selbst(er)findung aus dem Geist der Mode (der Choreograf Trajal Harrell präsentierte sie gut 20 Jahre später auch an den Kammerspielen als physisch-poetisches Tanztheater).

Die Produktion mit dem Untertitel "Eine Show über die Lügen, auf denen das Leben basiert" entstand aus einer neu geschlossenen Sisterhood zwischen den Münchner Kammerspielen und dem polnischen TR Warszawa heraus. Nachdem die Münchner Premiere vor einem Jahr den Nachwirkungen von Corona zum Opfer fiel, wurde sie im letzten Oktober bereits in Warschau mit Erfolg uraufgeführt. Und das polnisch-deutsche Ensemble mit Stefan Merki, Edith Saldanha, Tomasz Tyndyk, Justyna Wasilewska und der Elektro-Musikerin Trace Polly Müller trifft sich nun zu einem neuen Anlauf. 

Diese Welt ist unsere: Tomasz Tyndyk, Justyna Wasilewska © Judith Buss

Ein wenig auserwählt fühlt man sich auch, wenn man zu den gerade mal 75 Zuschauer*innen gehört, die an diesem Abend mit auf die Bühne des Schauspielhauses dürfen, um dort von freundlichen Zauberwesen in kanariengelben Spitzentrikots (Kostüme: Florian Buder) empfangen zu werden, die Englisch, Polnisch, Deutsch und zwischendurch ein bisschen Seepferdisch sprechen. Man sitzt auf Bänken oder Gymnastikbällen an den Seiten entlang, der Zuschauerraum ist hinter einer Projektionsfläche aus Gaze verdeckt und hoch oben im Schnürboden hat Bühnenbildnerin Miriam Pleines zart schimmernde, quallenartige Gebilde wie Lampions aufgehängt.

Das Unsichtbare war schon immer da

Berkowitz und Warzyniak wollen jedoch nicht nur feiern, sondern auch berichten von queerem Leben, das es immer schon gab und das auch heute noch zu oft versteckt, unter Bedrohung stattfinden muss. Wasilewska beginnt mit Geschichten aus einem Tagebuch, die immer mit Selbstmord enden. Wo fühlt man sich sicher? Wo kann man sich jenseits des Leids begegnen?

Als einen "Traum von der Überschreitung des Normalen, des Möglichen", beschreibt Berkowitz ihre Arbeit an einer unvollkommenen Utopie, wobei Vollkommenheit ja schon wieder Diskriminierung aller Abweichungen bedeuten würde und damit per se unvereinbar wäre mit einer a-normativen Fantasie der fluiden Übergänge. "Vielleicht ist queer sein der natürliche, wilde Zustand des Seins. Vielleicht bedeutet zu 'queeren' einfach, sich selbst und allen anderen mit Neugier und Mitgefühl statt mit Urteilen zu begegnen." Während sich die fünf auf der Bühne mal wie in sanfter Trance oder auch mal mit einer kurzen wilden Polonaise umkreisen, handeln die lose eingestreuten Texte von Versteckspielen mit sich selbst, von der Suche nach dem Unsichtbaren, das doch immer schon da war.

Im Saal mit den freundlichen Zauberwesen: Stefan Merki, Justyna Wasilewska, Tomasz Tyndyk, Trace Polly Müller © Judith Buss

So erzählt Merki von einer Kindheitserinnerung an Onkel Krzysztof, den gemütlichen Bergmann mit Schnurrbart und dickem Bauch, der in einem polnischen Stahlwerk arbeitete. Als das geschlossen wird und die Familie ins Ruhrgebiet übersiedelt, ist plötzlich von einer Krysia die Rede, die sonst noch nie in Erscheinungen getreten ist, bis die Mutter dem Zehnjährigen auf die Frage, wer das sei, beiläufig erklärt: "Dein Onkel Krzysiu. Früher war es so, und jetzt ist es so."

Abtauchen in die Utopie

Eingebettet in den schwebenden Elektrosound, den Trace Polly Müller mit E-Gitarre und am Synthesizer erzeugt, bleibt das alles sehr sanft, harmonisch und manchmal fast ein bisschen vage, vielleicht weil auf dem Theater Verwandlung schon immer das "Normale" ist und es dafür eigentlich keine besondere Begründung braucht. Aufhorchen lässt ein Text, den Wasilewska zuletzt noch fast beiläufig auf Polnisch spricht, von einer jungen Frau, die eigentlich keine Lust hat, sich zu outen: "Der eine Fuß ist im Schrank, der andere Fuß draußen. … Ich bin schon wieder zu viel. Ich taumele ständig zwischen zu viel und versteckt. Ich krieche so oft in meinen Schrank rein und raus, dass die Türscharniere jeden Tag brechen müsste."

Was muss also ans Tageslicht, was darf vielleicht auch im Verborgenen bleiben? Wenn sich zum Schluss der Gazevorhang hebt und fünf neonfarbene Seepferdchen in der blauen Leere des Zuschauerraums tanzen, dann scheint die Welt da draußen, in der nach wie vor Hass und Gewalt gegen queere Menschen an der Tagesordnung sind, sehr weit weg. Aber wer weiß, vielleicht hilft ja ein kurzes Abtauchen in die Utopie, um Luft zu holen für die Wirklichkeit.

 

niedoskonała utopia / an imperfect utopia
Eine Show über die Lügen, auf denen das Leben basiert
von Noémi Ola Berkowitz und Martyna Wawrzyniak
Regie: Noémi Ola Berkowitz, Text: Martyna Wawrzyniak, Noémi Ola Berkowitz, Ensemble, Bühne: Mirjam Pleines, Kostüme: Florian Buder, Musik: Trace Polly Müller, Lichtdesign: Charlotte Marr, Daniel Sanjuan Ciepielewski, Video: Jake Witlen, Dramaturgie: Viola Hasselberg, Rania Mleihi, Martyna Wawrzyniak.
Mit: Stefan Merki, Edith Saldanha, Tomasz Tyndyk, Justyna Wasilewska, Trace Polly Müller.
Deutschland-Premiere am 25. Juli 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Das Setting sei zauberhaft, "ein experimenteller Abend zum Thema Queerness, zusammengesetzt aus leuchtenden Bildern, Party, Historie, Verzweiflung, Wut, Freude, Wärme und Geschichtchen", so Yvonne Poppek in der Süddeutschen Zeitung (27.7.2023). Die Grundfrage sei, was in einem Menschen vorgehe und was mit ihm passiere, wenn er nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht. "Dazu schwingt die Situation in Polen mit, die dortige Ächtung der LGBTQ-Community." Der Abend drifte von hier nach dort. "Dabei ist nicht alles verständlich, muss es auch nicht. (...) Kann man das akzeptieren, bleiben am Ende zwei Eindrücke übrig: von der Wärme und Schönheit der queeren Community. Und von ihrer Zartheit und Bedrohtheit."

Michael Stadler vergleicht in der Abendzeitung (27.7.2023) die Performance mit dem Tanzabend Joy2022: "Während der belgische Choreograph Michiel Vandevelde mit seinem Ensemble in neun bewegten Tableaus vorführte, wie ein sexpositives Zusammensein aussehen könnte, entwickelt Regisseurin Noémi Ola Berkowitz nun mit ihrem Ensemble eine queere Utopie, die, wie der Titel schon verrät, keinen Anspruch auf Perfektion hat, weil der Mensch nun mal ein fehlerhaftes Wesen ist." Dabei sei der Abend, der Corona-bedingt erst jetzt herauskommt,  "sicherlich kein fulminantes Saison-Finale, sondern eher ein kleineres Puzzlestück in dem auf Diversität und Offenheit ausgelegten Programm des Hauses unter Barbara Mundel".

Berkowitz setze stark auf Farben, auf Kontraste, auf einprägsame Bilder und spreche damit alle Sinne an, schreibt Ulrike Frick im Münchner Merkur (28.7.2023). "Wie es sich anfühlt, permanent abschätzigen Blicken ausgesetzt zu sein, lernt man an diesem verzaubert anmutenden Abend ebenso wie die Geschichte der 1892 erstmals veranstalteten Ballroom-Partys und deren Bedeutung für die LGBTQI+Szene." Am Ende tanze das Ensemble zu sphärischen Seepferdchenklängen durch den leeren Zuschauerraum. "Ein paar Minuten herrlichster Utopie, schön wie im Traum, ehe es wieder hinaus geht in die verregnete Realität, in der queere Personen nach wie vor im Kino nur den modischen Sidekick des Heteropärchens bilden."

 

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