Susn - Thomas Ostermeier und Brigitte Hobmeier arbeiten einen Achternbusch nachhaltig auf
Herzenswund, unbändig und trauerdunkel
von Petra Hallmayer
München, 24. April 2009. Am Ende rutscht sie mit halb heruntergelassener Wollstrumpfhose besoffen von der Kloschüssel, liegt zusammengekauert auf dem Boden. Tiefer kann sie kaum mehr sinken. Die Geschichte einer Vernichtung erzählt Herbert Achternbuschs frühes Stück "Susn", das unter Regie von Thomas Ostermeier Premiere feierte.
Der Himmel über Bayern ist grau. Es ist ein tristes grönlandkaltes Nebelland fernab der Sommerfrischekataloge, durch das die Kamera auf der Videoprojektionswand fährt, eine menschenleere, von Strommasten und Überlandleitungen zerschnittene endlose Einöde. Vor Bildern einer gar nicht anheimelnden Heimat vollzieht sich im Werkraum der Kammerspiele das Stationendrama einer Widerspenstigen, die sich nicht zähmen, sondern nur zerstören lässt.
Achternbuschs weibliches Spiegelbild
Ostermeier hat die in Zehnjahressprüngen alternde Susn nicht wie der Autor 1980 in seiner Münchner Inszenierung mit vier Darstellerinnen besetzt. Stattdessen verkörpert Brigitte Hobmeier in allen Altersstufen die Titelfigur, eine Schwester von Achternbuschs ewiger Susn, die seit dem Roman "Die Alexanderschlacht" durch seine Bücher und Filme geistert als geschundene und wehrhafte Frau und sein weibliches Spiegelbild.
Zu Beginn sehen wir sie im Beichtstuhl knien, eine leuchtende goldrot gelockte Mädchenmadonna, die sich gegen die Kirche und einen alltäglich gebrochenen Moralkodex auflehnt, im Dorf als "Judnsau" beschimpft wird und sich dem lüstern lauschenden Pfarrer (Bernd Moss) anvertraut, während die Gesichter beider in Großaufnahme auf der Videowand erscheinen. Atemlos flüsternd berichtet sie, warum und wie sie den Kerl umbringen wollte, der ihre Freundin geschwängert hat, die bei der Abtreibung beinahe gestorben wäre, von grausamen Kinderspielen und im Fett gerösteten Knödeln, dem Kuss, den ihr die Lies abgerungen hat und haucht den Sätzen dabei eine Sinnlichkeit ein, als sei dies eine Illustration der Foucault`schen These von der Feier der Lust im Ritus des Sündenbekenntnisses.
Brigitte Hobmeier, dieses Wunderwesen, das so elfenzart und so burschikos-bodenständig sein kann, ist ein erotisches Naturereignis. Wie sie in Unterwäsche auf einem Stuhl sitzend tief aus und einatmet, das ist pure Verführung, neben der die Pin-up-Posen sämtlicher Supermodels wie plumpe Anmache wirken.
Anrührender emotionaler Hochseilakt
Thomas Ostermeiers klug konzentrierte Inszenierung, die die Textversion von 1987 benutzt, die nicht wie die frühere Fassung mit Susns Selbstmord endet, ist frei von Gefühlskitsch und Opferromantik. Er tappt in keine Falle, vermeidet Dorffolklore ebenso wie Bayernkabarettnummern und Pfaffenkarikaturen. Er zitiert mit Can musikalisch die Siebziger Jahre, lässt die Studentin Susn ihr zorniges Wortgewitter als Sprechgesang ins Mikro schreien und schafft es, den Staub von dem Stück zu pusten, das in eine Zeit zurückführt, als die Religion in Niederbayern ein Frauenleben regierte.
Dass diese Passionsgeschichte nie in Peinlichkeiten abrutscht, ist natürlich vor allem auch der Ausnahmeschauspielerin Hobmeier zu verdanken, die den emotionalen Hochseilakt mit atemberaubender Sicherheit bewältigt, einfach jeden Ton trifft, die Kindlichkeiten und Schroffheiten, den eigensinnigen Trotz, die Verlorenheit und das im Sprechen aufflackernde unbändige Verlangen berührt zu werden. Wenn sie das uralte liebeshungrige Klagelied der Frauen anstimmt, gegen den schweigend in die Schreibmaschinentasten hämmernden Herbert aufbegehrt, der sie als literarisches Kunstobjekt ausbeutet, zum "Putzlumpen" degradiert, und plötzlich ihre Stimme ganz klein macht, herzenswund um ein wenig Zuwendung bettelt, dann ist das tatsächlich zum Weinen anrührend.
Achternbuschs "Susn", das Drama einer scheiternden Suche nach einer eigenen, wahrhaftigen, aus der Einsamkeit erlösenden Sprache, ist ein langer großer Aufschrei, gehört zu werden. In der Schlussszene, in der sich Hobmeier mit ein paar Handgriffen in eine Menschenruine verwandelt, alkoholumnebelt durch dicke Brillengläser stiert, legt ihre Susn die Fremdsprache Hochdeutsch ab. Da erklärt sie im allergeschertesten Bayerisch, dass sie dem Pfarrer in den Finger beißen möchte, damit er einmal "aua" sagt, und vom Herrgott oft nichts mehr wissen will, nur dass sie außer ihm halt gar keinen mehr hat, der ihr zuhört. Und auch dieser letzte brutal derbe, trauerdunkle Sturzflut-Monolog glückt Brigitte Hobmeier – wie überhaupt alles an diesem Abend.
Susn
von Herbert Achternbusch
Regie: Thomas Ostermeier, Bühne und Kostüme: Nina Wetzel, Musik: Nils Ostendorf, Video: Sebastian Dupouey. Mit: Brigitte Hobmeier, Bernd Moss.
www.muenchner-kammerspiele.de
Mehr zu Brigitte Hobmeier? Im Jänner 2009 spielte sie in Stefan Puchers Maß für Maß-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen, ein Jahr zuvor am selben Ort in Hass, Sebastian Nüblings Theaterversion des Filmes von Matthieu Kassovitz und schließlich im Juni 2007, ebenfalls unter der Regie von Thomas Ostermeier und wiederum an den Kammerspielen, die Hauptrolle in Die Ehe der Maria Braun.
Kritikenrundschau
Auf der Website von Deutschlandradio Kultur (24.4.) berichtet ein Anonymus über die Neuinszenierung von Achternbuschs "Susn" an den Münchner Kammerspielen: "Herbert Achternbusch hat in seinem Stück vorgesehen, dass Susn in jedem Lebensalter von einer anderen Schauspielerin gespielt wird – ein dramaturgischer Kunstgriff, dessen Notwendigkeit nicht wirklich zwingend ist, wie Thomas Ostermeiers Inszenierung beweist, in der es Schauspielerin Brigitte Hobmeier eindrucksvoll gelingt, die Brüche der Figur über die Jahrzehnte hinweg auch ganz allein zu erspielen." Szene für Szene werde Brigitte Hobmeiers Stimme tiefer, "vom körperlosen Geflüster bis fast zu einem tief in den Eingeweiden sitzenden Basston." Perfekt treffe Brigitte Hobmeier "die Gestimmtheit ihrer Figur in den verschiedenen Lebenslagen. Dabei bleibt ihre Darstellung nie reiner Naturalismus." Von ihrer "schauspielerischen Präsenz und Brillanz" lasse man sich auch gerne darüber hinwegtäuschen, "dass Achternbuschs Stück ordentlich Staub angesetzt hat".
Brigitte Hobmeier sei – so meint Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (27.4.) – "mit ihrer zugleich naturkindhaften und ätherischen Aura die Idealbesetzung" für Achternbuschs rothaarige Susn, "eine Madonna mit Bodenhaftung". Auf den Punkt unterstützt von ihrem stummen Mitspieler Bernd Moss, zeige Brigitte Hobmeier "in dieser Paraderolle ihre Wandlungsfähigkeit. Aus dem rotzigen Mädchen des Anfangs wird eine depressive Studentin, die in der Großstadt, die Entfremdung durchlebt, um an der Seite eines liebelosen Mannes zu vertrocknen". Am Ende habe Thomas Ostermeier – wie auch schon in Kroetz' "Wunschkonzert" – "den Selbstmord gestrichen, um die weiblichen Figuren, die von den Autoren allzu chauvinistisch auf dem Altar der Gesellschaftskritik geopfert werden, zu ermächtigen". Hobmeier und Ostermeier sei mit diesem "tragikomischen Heimatabend" eine "ebenso zarte wie eindringliche Beschwörung des sanften Grusels mit Zitherspiel und Leberkäs aus der Aluschale" gelungen.
In der Frankfurter Rundschau (27.4.) zitiert Christine Diller Herbert Achternbusch mit dem Satz: "Kunst kommt nicht von Können, sondern von Kontern." Thomas Ostermeiers und Brigitte Hobmeiers "sinnlich-zarte Aufführung" von Achternbuschs "Susn" sei, "bis auf ihr allzu billiges Ende, eine einzige Konter gegen verkrampftes Kunst-können-Wollen". Der Regisseur beweise "großes Gespür für die Tragik dieser gescheiten, gescheiterten Susn, die Brigitte Hobmeier mit Haut und Haar spielt. 'Kunst', sagt sie am Anfang, 'kunst die ned anständig verabschieden? Servus... .' Der Satz, der nicht in dieser Fassung von 1987 steht, umreißt es gut: Um Kunst, ihre regionale Verwurzelung und Verwirklichung, um Abschied und eine Lebensbilanz geht es."
Thomas Ostermeier sei immer "besonders gut, wenn er in München arbeitet", schreibt Matthias Heine in der Welt (27.4.): "Erst recht, wenn Brigitte Hobmeier dabei ist (...), die jetzt wieder die Last des zweieinhalbstündigen Monologdramas bravourös trug. Und Achternbusch rührt bei echten Bayern, so wird dem Norddeutschen ergriffen versichert, ohnehin eine Seelensaite an, die wir hier oben gar nicht haben."
Diese Inszenierung habe "von Beginn an etwas von einer Hommage", schreibt Georg Oswald in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (26.4.). Und so klangen die ersten Sätze der Susn "wie eine Frage in den Raum: 'Kunst – Kunst– Kunst die ned anständig verabschieden? Seass, Seass, Seass." Dieses "Seass", zu deutsch: Servus, könne vieles ausdrücken: "Zum Beispiel eine gewisse Verachtung." Birgitte Hobmeier sei nun "die beste Schauspielerin, die man sich für dieses Stück vorstellen kann", denn bei ihr klinge der Dialekt nicht unbeholfen. Dennoch sei "Susn" kein "Dialektstück". Es erzähle nämlich "viel davon, wie man sich in den siebziger Jahren Kunst, männliche Künstler und ihre Beziehungen zu Frauen vorstellte". Thomas Ostermeiers "unaufdringlicher Regie" gelinge es, "das Stück in die Gegenwart zu retten." Dafür und für die "spielerische Leistung" Hobmeiers gab es "am Ende großen Applaus".
Das letzte Premierenwochenende in der Ära des Münchner Kammerspiele-Intendanten Frank Baumbauer hat zwei großartige, verblüffend parallele Theaterabende geschaffen, die der Kunst und nicht der Künstlichkeit gewidmet sind, dem einfachen Menschen, nicht der komplizierten Maske, dem Dialekt, nicht der Dialektik, so Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.4.). "Die vier Lebensalter seiner Lieblingsleidensfrauenfigur Susn, die Herbert Achternbusch anfänglich von verschiedenen Schauspielerinnen verkörpert sehen wollte, spielt Brigitte Hobmeier mit faszinierend leichter Wandelbarkeit allein." Mit jedem Accessoire, das sie aus der Tasche ziehe - das Papier, mit dem sie erst sich, dann die Klobrille, dann ihre Brille abputzt -, "gibt sie die einst so kraftvolle Susn mehr und mehr der Kümmerlichkeit preis. So schafft sie einen unverwechselbaren Schluss für ein implosives Solo in vier Sätzen und in einer metaphorischen Gesellschaftskulisse aus niederbayerischer Tristesse, Schlaglöchern und Pfützen."
Die Regisseure, denen Frank Baumbauer Raum gab, sich zu entwickeln, begleitete er nicht selten über Jahre. Diese Unbeirrbarkeit ist sein bestes Erbe, schreibt Johanna Schmeller in der taz (28.4.). Mit Achternbusch knüpfe er an das Sprechtheater seines Vorgängers Dieter Dorn an "- jetzt allerdings progressiv, neu und kraftvoll umgesetzt von Ostermeier." Brigitte Hobmeier liefere in der Rolle eine Glanzleistung dieser Spielzeit ab. Als 17-jährige Susn verführt sie zunächst den Pfaffen mit einer saftreichen Beichte. "Laut Leuchtanzeige 'zehn Jahre später' lässt Ostermeier ihr dunkle Tinte wie schwarzes Blut über die Arminnenseiten fließen, so sehr wünscht sie nun, kaum in der Stadt angekommen, dass endlich 'das Gewitter losbricht'." Als Enddreißigerin greine sie ihre Klagen hin an ihren sexuell unlustigen Mann. Und schließlich stirbt Susn als greise, grantige Frau, "von Hobmeier ebenso brillant gespielt wie eingangs das junge Mädchen, das in ihrer Schilderung vom Hund Fips und in Fett gebackenen Knödeln und von Apfelkompott auch ein widerwilliges Heimatgefühl erwachen lässt".
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