Frösche im kochenden Wasser

14. Oktober 2023. Ein Recherchestück gemeinsam mit Ukrainer- und Russ*innen – ist das ein Dialogversuch mitten im Krieg? Das nicht, aber eine wagemutige psychologische und künstlerische Abstandsvermessung nimmt die Regisseurin Kamilė Gudmonaitė mit "Ха́та-Zuhause" vor. 

Von Sabine Leucht

Kamilė Gudmonaitės "Ха́tа - Zuhause" mit Ukrainer*innen und Russ*innen an den Münchner Kammerspiele © Maurice Korbel

14. Oktober 2023. Kriegsgegner, Feinde, Angehörige ehemaliger "Brüdervölker"? Was sind sie noch, die Ukrainer- und Russ*innen, die hier auf der Bühne stehen? Wenn auch niemals gemeinsam. Etwa in der Mitte von "Ха́та – Zuhause" gibt es einen Cut, der ukrainische Chor geht ab und das aus mehreren Vorhang-Schichten bestehende Bühnenbild rüscht sich für die russischen Ballerinen um. Aus Rücksicht auf die Ukrainer*innen haben die Münchner Kammerspiele ihre gesamte Probenlogistik umgekrempelt: Garderobe, Maske, Zu- und Abgangswege. Man versteht's und wundert sich doch kurz über die strenge Zweigleisigkeit, die die Kunst Menschen bahnt, die sich in München jederzeit an der Supermarktkasse treffen könnten.

Bereits im Februar lebten rund 25.000 Ukrainer*innen und 17.000 Russ*innen in dieser Stadt. Andererseits: Wie anmaßend wäre es, auf der Bühne die tiefen Wunden schließen zu wollen, die der russische Angriffskrieg noch immer täglich reißt? Dass er auch Russ*innen heimatlos gemacht hat – dieser schon im Titel von Kamilė Gudmonaitės "musikalisch-tänzerischer Gratwanderung" angerissene Gedanke ist in diesen Zeiten unerhört genug.

Verlust-Erzählungen auf allen Seiten

Die 31-jährige litauische Regisseurin wie ihre ukrainischen Mitstreiter*innen riskieren, missverstanden zu werden. Nicht nur von ihren Landsleuten. Und auch die Exil-Russinnen und -Russen riskieren viel, indem sie öffentlich Farbe bekennen. Deshalb agieren viele Protagonist*innen dieses Abends teilweise oder ganz anonym. Ansonsten aber steht er für Offenheit – auch in Bezug auf die eigenen Methoden.

Gudmonaitė verschränkt dokumentarisches mit tänzerisch-musikalischem Material. Konkretes trifft auf Abstraktes, Inhalt auf Form. Auch hier geht es streng zweigleisig zu. Auf kantigen Projektionsflächen vor rüschigen Vorhängen stehen vorab Interviewte im kalten Licht Rede und Antwort. Wie auf dem Polizeirevier komme er sich vor, sagt ein Mann, "wie im Gefängnis" ein anderer. Der Abend, der sich für das Verbindende interessiert, aber vor allem diverse Abstände vermisst, nimmt den Abstand, den er selbst produziert, nicht aus und exponiert auch das Messgerät: das Theater.

Angst, Wut, Ohnmacht, Identitätskrisen, davon handeln die Erzählungen in "Ха́tа – Zuhause" an den Münchner Kammerspielen © Maurice Korbel

In einem Prolog am Seil liefern zwei Akteurinnen aus dem Ensemble der Kammerspiele vor dem prächtigsten Vorhang eine Art Clownsnummer ab. Sie müsse irgendwas "be-heben", hat Maren Solty so im Gefühl. Die beiden mühen sich und erwägen Alternativen. Doch erst, als sie aufgeben, kommt der türkise Stoff in Bewegung. Ob das als Omen oder gar Rezept für den Krieg taugt? Eher nicht.

Trennung in zwei Teile

Der überraschend unbeschwerte Auftakt bleibt selbst rätselhaft in der Luft hängen, die später von einer sirrenden, puckernden, zur Überillustration neigenden Soundtapete beschwert wird. Sie bauscht sich bedrohlich, als sich in Teil 1 ukrainische Sänger*innen um ein Fake-Lagerfeuer versammeln. Schwatzend, Suppe trinkend und traditionelle Lieder von Bäumen und (schwarzen) Vögeln singend, die Verlust und Sehnsucht meinen und Pathos, Wut und Tatkraft ausstrahlen. Im Video erzählt ein ukrainischer Regisseur, der seinen Namen nur im Programmheft verschweigt, wie sich seine Frau am ersten Morgen des Krieges auf das noch schlafende Kind warf.

Ein anderer Mann ging nach Jahren im französischen Exil zum Kämpfen zurück. Seine Verlust-Bilanz ist niederschmetternd, spür- und sichtbar. Er hat fliehende Menschen an ihren Adrenalinschüben sterben sehen, fragt nach der Zukunft eines Kindes, das Monate im Keller verbringt und erzählt von einem russischen Gefangenen, der zitternd darum bat, nicht aufgegessen zu werden.

Xata4 1200 Maurice Korbel uVolkstanz inklusive: den Sprecher*innen sind Tänzerinnen zugeordnet © Maurice Korbel

Im zweiten, dem "russischen" Teil, vergleicht der Transmann Alex die Propaganda-Waffe mit der Atombombe. Und eine Frau fällt dazu die Geschichte vom Frosch ein, der nicht merkt, dass er kocht, wenn das Wasser nur langsam genug erwärmt wird. Hier stehen die Brüche der Identität als Russen im Zentrum, die in einer Kultur der Angst teils lange Vorgeschichten haben.

"Niemand" heißt es einmal, "hat den Russen erlaubt, von Freiheit auch nur zu träumen". Eine Protagonistin stammt ursprünglich aus Tschetschenien, eine andere hat ukrainische Kinder. Und bei der Erinnerung an die guten Menschen, die es auch in Russland gibt, fließen Tränen. In Gedanken an gute Menschen zu weinen: Das ist eine der großen, verbindenden Konstanten im Krieg!

Rädchen im Getriebe

Die Regie hat den Sprecher*innen, die viel vom unfreiwilligen Verstummen erzählen, fünf Tänzerinnen zugeordnet. Wie sie sich stretchen und nach der Pfeife des Ballettmeisters tanzen. Das riecht nach dem üblichen Russland-Klischee. Grausig überhöht wird es in der Volkstanz-Szene danach: Figurinen mit wächsernen Gesichtern zirkeln auf unsichtbaren Füßen durch den Raum, eingekapselt in einen Kokon aus Disziplin und Form. Dazu gibt es Kriegs-Sound von Fliegern und Detonationen auf die Ohren. Ein Bild, nein, ein Plakat von fünf Rädchen im Getriebe des russischen Kulturimperialismus, der sich anschickt, die Welt zu überrollen. Aber gottlob bleibt es nicht so. Am Ende kommt Alex aus dem Video zu einem (wieder überraschenden) Schlussmonolog auf die Bühne. Und dann hottet er ab – und selbst die Ballerinen verlieren ihre Fasson. Vielleicht ein Quäntchen Hoffnung?

Ха́та – Zuhause
Eine musikalisch-tänzerische Gratwanderung
Mit Ukrainer*innen (Teil I) und Russ*innen (Teil II) aus München
von Kamilė Gudmonaité
Regie: Kamilė Gudmonaitė, Bühne und Kostüme: Barbora Šulniūtė, Video: Lion Bischof, Musik: Dominykas Digimas, Chorleitung: Svitlana Tsedik, Choreografie: Dmitri Katunin, Dramaturgie: Viola Hasselberg, Hannah Saar.
Mit: Anja Signitzer, Maren Solty, Ukrainischer Chor ( ▬▬ ▬▬, Iryna Gress, ▬▬ ▬▬, ▬▬ ▬▬, Olena Lobova, Luká Snaktin, Svitlana Tsedik, Mykhailo Trostianetskyi, Nataliia Vysochyna, ▬▬ ▬▬)
Ukrainische Stimmen im Video (Andranik Pogosyan, Andriy Shvets, Julia Slepneva , ▬▬ ▬▬, ▬▬ ▬▬, ▬▬ ▬▬), Russischer Tanz (Alina Beliagina, Alessandra Brugnetti, Sofia Ivanova-Skoblikova, Dmitri Katunin, Kira Lokotkova, Anastasia Lyubinski, Irina Stadnik, Isabel Wilhelm), Russische Stimmen im Video (Evgenia Eltsova, Alex ▬▬, ▬▬ ▬▬, Bella Nadirashvili).
Premiere am 13. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Was Kunst aber sehr wohl zu leisten vermag", erfährt Michael Schleicher vom Münchner Merkur (16.10.2023) an diesem Abend: "Sie kann Menschen zum Zuhören bringen, kann Empathie lehren, und manchmal ist schon viel gewonnen, wenn Trennendes bewusst gemacht wird."

Eine "mutige Produktion" hat Anne Fritsch für die Süddeutschen Zeitung (17.10.2023) gesehen: "Die vielen Stimmen setzen sich dokumentarisch zu einem erschütternden Bild zusammen. Trauer, Schmerz, Wut, Scham- und Schuldgefühle machen ein Gespräch vorerst beinahe unmöglich. Geschickt verwebt Gudmonaitė die persönlichen Schicksale durch den Einsatz von ukrainischem Gesang und russischem Tanz mit zwei grundverschiedenen kulturellen und politischen Systemen, die hier – und in diesem Krieg – aufeinander treffen. Die nach Freiheit strebende Ukraine, in der die Menschen laut ihre Stimme erheben wie der Chor. Und ein repressives Russland, in dem kein Raum ist für eigene Meinung oder Individualität, in dem es strikt verboten ist, aus der Reihe zu tanzen."

"Das Prinzip der Trennung – es ist das notwendige Übel eines solchen Theaterstücks. Denn die Trennung zu negieren, hieße, den Konflikt nicht ernst zu nehmen", Tobias Krone auf Deutschlandfunk Kultur (14.10.2023). Regisseurin Kamilė Gudmonaité "beschaut diese Wunde sehr gut, sehr schonungslos, sehr eindringlich. XáTa ist das Stück der Stunde zur Ukraine und anderen Konfliktregionen der Welt".

"Kamilė Gudmonaitė ist es mit 'Хáта' gelungen, die vielschichtigen Probleme zwischen der Ukraine und Russland offenzulegen", schreibt Silja Vinzens für die Deutsche Bühne (14.10.2023). "Das Publikum wird Zeuge zahlreicher offener und schrecklicher Wunden. Das schmerzt beim Zusehen und hinterlässt ohne Zweifel das Gefühl der absoluten Ohnmacht. Eine Brücke zwischen Ukrainern und Russen schlägt 'Хáта' nicht. Es wäre wohl auch – ganz abgesehen davon, dass es Traumata bei Beteiligten aufgerissen hätte – zu kitschig, zu weit weg von der bitteren Realität."

Kommentare  
Ха́та-Zuhause, München: Respekt
Ein großartiger, berührender, klug gemachter Abend, der einen nicht so schnell loslässt.
Respekt für die tolle Arbeit aller Beteiligten und den Mut dieses Projekt auf die Bühne zu bringen !
Ха́та-Zuhause, München: Trennendes zu groß
Von Kamilė Gudmonaité habe ich zuletzt "Unspoken" am Deutschen Theater, sowie "Trans Trans Trance" gesehen, beides besonders gute, persönliche Theaterabende. Entsprechend neugierig war ich auf "Ха́та-Zuhause", und das natürlich auch, weil die Ausgangskonzeption spannend und auch umstritten ist.
Leider ist diese Inszenierung nicht vollständig gelungen. Die Dokumentarebene, die "talking heads" erreichen mich schon, sind aber letztlich Fernsehen und auch überpräsent. Die SpielerInnen dagegen, die sicherlich jede/r für sich etwas riskieren, stehen irgendwie als Statisten ihrer selbst auf der Bühne. Einiges mag darin begründet sein, dass hier doch das Trennende zu groß war, das künstlerische Team das "was ist" am Ende akzeptieren musste. Und so wird das Trennende natürlich thematisiert und inszeniert. In der Tat muss man dann doch schlucken, wenn auf einmal die UkrainerInnen abtreten und "Teil 2" auf die Bühne projiziert wird.

Aber mir jedenfalls war im Vergleich zur auf der Dokumentarebene spürbar werdenden persönlichen Not das Bühnengeschehen zu plakativ. Die UkrainerInnen trifft es hierbei besser, sie pflanzen einen Baum, sie kochen Eintopf am Lagerfeuer und singen kämpferisch und mit Emphase Volkslieder. Die RussInnen hingegen nehmen den Baum weg und dürfen dann als Ballett-Püppchen Grazilität, körperliche Disziplin und Verschlossenheit darstellen. Das ist insgesamt zu platt und wird niemandem gerecht, der hier in den Kammerspielen seine Haut zu Markte trägt.
Aber wie gesagt, es war sicher ungeheuer mühsam einen Abend dieser Art überhaupt zu realisieren, und dafür gebührt allen Beteiligen Respekt. Und so ist der Abend vielleicht vor allem auch eine Beschreibung des Status-Quo, des heute machbaren, und damit ein notwendiges Experiment.
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