Männer, die Opfer sind

31. März 2023. Hier stehen nicht die Kirche und ihre Fehler im Fokus. Hier sprechen ihre Opfer. Christian Stückl zeigt Thomas Melles Missbrauchsstück "Bilder von uns" und macht seine aktuellen Bezüge unmissverständlich klar.

Von Christa Dietrich

"Bilder von uns" in der Regie von Christian Stückl am Volkstheater München © Arno Declair

31. März 2023. Fast alle Männer auf dieser Bühne haben Karriere gemacht. Das soll man sofort sehen: Die Dresscodes für Kanzlei, Management und die obere Medienetage werden bis zu den Sneakers zum Anzug penibel gewahrt. Nur der, der auf der Strecke blieb, steckt in Hoodie und Jogginghose. Das Setting auf der großen Bühne im Münchner Volkstheater ist steril. Das Thema des Abends berührt das Abscheuliche: den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Bildungseinrichtungen.

Eine Nachrichtenstimme klärt noch vor dem ersten Schauspieler-Dialog über einen Missbrauchsfall an einer Jesuitenschule auf. Derartige Eingriffe in den Stücktext des deutschen Schriftstellers und Dramatikers Thomas Melle erweitert Regisseur Christian Stückl mit einer journalistischen Methode. Mit der Erwähnung von Fällen in Bayern, etwa bei den Regensburger Domspatzen und im Klostergymnasium Ettal, unterstreicht er die lokale Relevanz des Stücks. Viel Kombinationsgabe mutet der Intendant des Hauses seinem Publikum somit nicht zu. Er betont jedoch die Absicht, die zur Wahl des Werkes führte: Schaut hin! Die Bereitschaft zur Aufklärung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche hält sich in Grenzen und die Entschädigung der Opfer ist immer noch beschämend gering.

Opfer im Fokus

Thomas Melle geht es mehr um die Bewältigungsstrategien der Betroffenen als um die Kritik an jenen kirchlichen Strukturen, die die Aufklärung und den Eingriff der Justiz behindern. Das steht seit der Uraufführung von "Bilder von uns" Anfang 2016 am Theater Bonn fest. Dieser Aspekt wird auch im vor wenigen Monaten erschienenen Roman Melles verstärkt. In "Das leichte Leben" verwob der Autor überarbeitete Passagen aus dem Theaterstück.

Bilder von unsvon Thomas MelleRegie Christian StücklBühne & Kostüme Stefan HageneierMusik Tom WörndlDramaturgie Leon FrischLicht Björn GerumMünchner VolkstheaterPremiere am 30. März 2023Jesko - Alexandros KoutsoulisBettina - Henriette NagelMalte - Janek MaudrichJohannes - Max PoertingLehrerin  - Carolin HartmannKonstantin - Jan Meeno JürgensSandra  - Nina SteilsCopyright by Arno DeclairBirkenstr. 13b10559 Berlin+49 (0)172 400 85 84arno@iworld.deKonto 600065 208 Blz 20010020 Postbank Hamburg IBAN/BIC : DE70 2001 0020 0600 0652 08 / PBNKDEFFVeröffentlichung honorarpflichtig!Mehrwertsteuerpflichtig 7%   USt-ID DE 273950403St.Nr. 34/257/00024       FA Berlin Mitte/TiergartenSterile Bühne, traumatische Vergangenheit: Stückls Ensemble kämpft mit Missbrauchsvorfällen im Rahmen einer katholischen Bildungsstätte © Arno Declair

Am ausdrücklichen Engagement von Christian Stückl, an seiner hier zu Tage tretenden Betrachtung der Funktion des Theaters ist an und für sich nichts auszusetzen. Vom Premierenpublikum erfuhr er hörbare Zustimmung. Die Inszenierung selbst bleibt allerdings flach und weitgehend eindimensional. Sie korrespondiert mit der Ausstattung von Stefan Hageneier, der das schmale Aktionsfeld an der Rampe mit einzeln postierten Wänden abgrenzt, neben denen die in grelles Licht getauchten Schauspieler sozusagen nach getaner Tat abgehen.

Verzicht auf Figurenentwicklung

Jesko bekommt ein Foto aufs Handy gesendet, das ihn halbnackt als Schüler zeigt. Der sich dadurch entspinnende Diskurs über den Umgang mit weit zurückliegendem Geschehen, mit dem sich jetzt aber alle konfrontiert sehen, lässt sich stringenter in den Verlauf der Handlung verzahnen als es in Stückls Inszenierung der Fall ist. Es sind dabei nicht die ohnehin gestrafften Prosa- bzw. Monologpassagen, die Argumente für oder gegen eine Veröffentlichung der Taten anführen, die einige Längen erzeugen. Es ist der weitgehende Verzicht auf die Entwicklung der Figuren.

Am deutlichsten zeigt sich das bei Malte, der nicht sofort nach Aufklärung drängt. Dennoch ist Janek Maudrich von Anfang an derart auf hundert, dass die sachlichen Argumente von Max Poerting der als Johannes die Kontrahenten bemüht beschwichtigt, beinahe untergehen. Dass Jesko sein Verhalten bzw. seinen Hang zur Verdrängung noch ändern könnte, dass er seine Selbstwahrnehmung hinterfragt, lässt Alexandros Koutsoulis zumindest offen, als er sich der weitreichenden Folgen der Vorgänge bewusstwird. Für Konstantin findet Christian Stückl eine simple Lösung: Jan Meeno Jürgens hat weite Passagen seines Parts ins Publikum zu sprechen. Er war jener, von dem Pater Stein einst nicht nur Fotos gemacht hat. Was mit der Erinnerung daran beginnt, dass die Jugendlichen die Vorgänge nicht gleich einordnen konnten und sich als begehrte Fotoobjekte auch in der Gunst des Lehrers sahen, endet mit einem tödlichen Schuss.

Frauen als Stichwortgeberinnen

"Wäre es nicht schön, wenn einfach alle Lügen aufhörten?" Nina Steils stellt als Sandra diese Frage nach der Beerdigung des Freundes. Regisseur Christian Stückl setzt damit vorzeitig einen berührenden, wenn auch etwas unbeholfen wirkenden Schluss. Den letzten Satz lässt er somit eine der Frauen sprechen, die Thomas Melle in der Rolle von Stichwortgeberinnen sieht. Die Lehrerin Carolin Hartmann und Henriette Nagels Bettina holen an Selbstbewusstsein und Klugheit an diesem Abend alles heraus, was geht. Gelegentlich mit Nachdruck: "Ich habe kein Problem mit Männern, die Opfer sind, sondern mit solchen, die keine Opfer sein können," bringt Bettina die psychologische Problematik laut auf den Punkt.

 

Bilder von uns
von Thomas Melle
Regie: Christian Stückl, Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier, Musik: Tom Wörndl, Dramaturgie: Leon Frisch, Licht: Björn Gerum.
Mit: Alexandros Koutsoulis, Janek Maudrich, Max Poerting, Jan Meeno Jürgens, Henriette Nagel, Carolin Hartmann, Nina Steils.
Premiere am 30. März 2023.
Dauer: 2 Stunden 5 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

Thomas Melle schrieb "ein polystilistisches Stück, voll mit Verlautbarungen, Mutmaßungen, Erzählungen, mit treffsicheren Dialogen", berichtet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (€ | 31.3.2023). "Christian Stückl räumt auf, bringt dem Theatertext Rasanz bei und inszeniert ihn mit fabelhafter Präzision, kühl, analytisch, in jeder Geste, jedem Ton wahr."

Einen "Psychothriller", der sich zum "argumentengesättigten Diskurstheater" entwickele, hat Mathias Hejny von der Abendzeitung (31.3.2023) am Volkstheater gesehen. "Eine Qualität von Spielvorlage und Inszenierung ist, keine Täter oder Taten zu zeigen und sich auch nicht mit der Frage zu plagen, wie es dazu kommen kann, dass strafrechtlich relevantes Handeln nicht von der Staatsanwalt untersucht wird, wenn es von Geistlichen verübt wird. Hier bleiben die Opfer auf sich zurückgeworfen und auch in der Gruppe einsam."

Auf Christoph Leibold vom Bayerischen Rundfunk BR|24 (31.3.2023) wirkt "die Inszenierung trotz starker Momente zwischendurch immer wieder so aseptisch wie Stefan Hageneiers klinisch weißes Bühnenbild. Trotz all ihrem Hadern und hingebungsvollen Streiten um den richtigen Umgang mit den Dämonen der Vergangenheit hat man doch allzu oft das Gefühl, Charakteren zuzusehen, die ihre Probleme eher wie Therapeuten in eigener Sache systematisch durchanalysieren als durchleiden und durchleben. So vermag der Abend nie das brennende Interesse zu wecken, das er angesichts des zweifelsohne brisanten Themas verdient hätte."

Ein "sehr intimes Stück" hat Sven Ricklefs für die Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (30.3.2023) gesehen. Das Missbrauchsgeschehen nehme gegen Ende des Stückes "auf beklemmend spürbare Weise" Raum ein "in dieser Pseudo-Erfolgswelt" der Täter von einst. Für den Kritiker: "ein starker Theaterabend"; "zu diesem Urteil habe ich mich aber gleichsam hinentwickeln müssen", denn das Stückl auf ein sehr junges Ensemble setze, sei zunächst einmal ein "Problem für diesen Abend", weil Melle die Figuren als Menschen um die 40 entworfen habe. Diese "Diskrepanz" werde über die Zeit "völlig vergessen gemacht von diesem Ensemble".

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