Crashkurs mit Live-Musik

von Petra Hallmayer

München, 27. November 2015. Aus rotgrauen Nebelwolken tauchen Schattengestalten mit grotesken Tierkopf-Gasmasken auf und verkünden die grausige Nachricht: Ein aggressives Vogelvirus hat einen Großteil der Menschheit ausgelöscht. Ein gespenstisches Szenario eröffnet im Volkstheater Jessica Glauses Inszenierung "Das Handbuch für den Neustart der Welt" nach Lewis Dartnells gleichnamigem Buch. Darin lädt uns der britische Astrobiologe zu einem spannenden Gedankenexperiment ein: Angenommen, eine globale Katastrophe hätte die Erde heimgesucht und nur wenige Menschen hätten überlebt, welche Kenntnisse und Fähigkeiten würden sie für einen Neuanfang benötigen? Er erläutert in rasanten Sprüngen die Grundlagen der Metallurgie, der Elektrizität und der Medizin, einfach "alles, was man wissen muss, wenn nichts mehr geht". Den Sachbuch-Bestseller für die Bühne zu adaptieren, ist ein ziemlich kühnes Unterfangen, und nach der Lektüre fragt man sich etwas bang: Kann das wirklich funktionieren?

Der Zuschauer als konsumierender Durchschnittsidiot

Dartnells "Leitfaden für Überlebende" konfrontiert uns damit, wie wenig wir, die wir uns gern für so viel schlauer und informierter halten als unsere Vorfahren, über die Welt, in der wir leben, wissen. Wir verlassen uns darauf, dass der Strom aus der Steckdose und die Lebensmittel aus dem Supermarkt kommen, und haben gemeinhin keine Ahnung, wie all die Dinge, die selbstverständlich zu unserem Alltag gehören, hergestellt werden.

HandbuchfuerdenNeustartderWelt3 560 ArnoDeclair uBegeisterungsrausch beim Thema Amplitudenmodulation: das Münchner Ensemble in Aktion
© Arno Declair

Die Rolle der gedankenlos konsumierenden Durchschnittsidioten übernehmen im Volkstheater die Zuschauer, denen sechs Akteure einen Schnellkursus in technischen und naturwissenschaftlichen Basiskenntnissen geben. Sie erklären, wie man Wasser desinfiziert, aus toten Katzenkörpern Biodiesel gewinnt und aus Kot und Urin Methan erzeugt. Damit all dies nicht zu knochentrocken gerät, schlüpfen sie in immer fantastischere Kostüme und lockern ihre Vorträge spielerisch auf. Bei der Einführung in den Ackerbau demonstrieren sie die Aussaat der Samen in einem kleinen Bewegungsballett, und bei jedem Evolutionsprung hüpfen sie gemeinsam in die Luft.

Jonathan Müller singt ganz reizend die Liste der chemischen Elemente vor, Mara Widmann warnt in Rotkreuzschwestertracht tänzelnd vor Infektionen, während Luise Kinner sich in einem beulenübersäten Schlauchanzug krümmt. Lenja Schultze schmückt ihren Kopf zur "Chemie für Fortgeschrittene" mit einer extravaganten Hutkreation aus Plastikflaschen, Leon Pfannenmüller steigert sich beim Thema Amplitudenmodulation kindlich strahlend in einen herrlichen Begeisterungsrausch. Laut und untröstlich aufschluchzend bejammert Mehmet Sözer den Verlust von Facebook, und auf einem Gerüst erinnern sich Paare auf englisch wehmütig an Chocolate Chip Cookies, Kühlschränke und Flugzeuge.

Im Korsett wortreicher Lehrvorträge

Über viele Fragen wird fröhlich hinweggehuscht. Mit dem Verzicht auf Sprengstoff scheint den Architekten der neuen Zivilisation eine friedliche Zukunft gesichert. Am Ende mündet der Abend, der einem naiv romantischen Naturbegriff eine klare Absage erteilt, in ein Plädoyer für das "rationale Denken", für Wissenschaft und Technik. Dass dies elementare Bausteine unserer Kultur sind, ist zweifellos richtig, und uns daran zu erinnern, schadet gewiss nicht. Allein, der Tenor dabei gerät allzu munter positivistisch, und dass Glause die geistigen Funken, ohne die keine Zivilisation entstanden wäre, die enge Verschränkung von Philosophie, Literatur und Kunst mit dem technischem und naturwissenschaftlichen Fortschritt völlig ausspart, ist etwas irritierend. Ein paar über die Buchvorlage hinausreichende Reflexionen, kluge und kritische Denkanstöße hätte man sich im Theater schon gewünscht.

So spaßig und gewitzt sich dieser Crashkurs mit Live-Musik zum "Neustart der Welt" immer wieder präsentiert, letztlich bleibt er doch im Korsett wortreicher Lehrvorträge gefangen. Um nicht gar zu lang und zu ermüdend zu dozieren, ziehen die Schauspieler häufig das Tempo an, jagen durch die Explikationen, und irgendwann rauscht die Sturzflut an Informationen einfach nur noch vorüber. Nein, Glauses Sachbuch-Adaption funktioniert nicht wirklich, aber der Charme ihrer theatralen Knoff-Hoff-Show und das so lustvoll agierende junge Ensemble versöhnen immer wieder mit den Schwächen der Inszenierung.

 

Das Handbuch für den Neustart der Welt
nach Lewis Dartnell
Regie: Jessica Glause, Bühne: Mai Gogishvili, Kostüme: Bettina Werner, Musik: Joe Masi, Licht: Günter E. Weiß, Dramaturgie: David von Westphalen.
Mit: Luise Kinner, Jonathan Müller, Leon Pfannenmüller, Lenja Schultze, Mehmet Sözer, Mara Widmann, Livemusiker: Joe Masi, Tom Wu.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

Die Dramatisierung eines Sachbuchs sei "an sich schon ein genialer Scherz, eine (unfreiwillige?) Parodie auf die herrschende Mode der Roman-Theatralisierungen", schreibt Alexander Altmann im Münchner Merkur (29.1.2015). Jessica Glause habe aus dem Buch ein "surreales Survival-Seminar", gemacht, eine "Freakshow", die am besten da sei, "wo sie aus dem bloßen 'szenischen Vortrag' in die schräge Verfremdung hinübergleitet", so Altmann. "Überdrehungen ins Absurde hätte der Abend noch viel mehr haben dürfen und gerne auch schrillere." Denn darin liege halt der Vorteil der Kunst, "dass sie, anders als die Wissenschaft, über den Tellerrand hinausblicken und so zum Beispiel den latenten Irrwitz erkennen kann, der in Dartnells Sachbuch-Bestseller steckt, wenn man ihn ernst nimmt".

"Glause beweist erneut, dass sie klug erzählen kann und wohl selbst die Betriebsanleitung für einen Thermomix erfolgreich dramatisieren könnte", zollt Christiane Lutz der Regie in der Süddeutschen Zeitung (30.11.2015) ihre Anerkennung. Der Abend konfrontiere die Zuschauer "mit ihrer totalen Ahnungslosigkeit, in der sie als Konsumenten durchs Leben stapfen und jegliche technische Errungenschaft als selbstverständlich hinnehmen", er entlarve dies "höchst unterhaltsam und ist gleichzeitig eine Kampfansage dagegen."

 

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