Die Brüder Karamasow - Münchner Volkstheater
Liebe ohne Gott
5. Dezember 2022. Fjodor Dostojewskis letzten Roman über die verschiedenen Arten der Liebe und des (Un-)Glaubens hat jetzt Christian Stückl als eine Art dunkles Gegenstück zu seinen Oberammergauer Passionsspielen inszeniert – inklusive großem Showdown der Weltanschauungen.
Von Silvia Stammen
5. Dezember 2022. Von den Passionsspielen 2022, die diesen Sommer fast eine halbe Million Menschen nach Oberammergau lockten – für viele nach den dürren Corona-Jahren der lang ersehnte Wiederbeginn gemeinsamen Theatererlebens – hat sich Christian Stückl an seinem Münchner Volkstheater gleich ins nächste Mammutwerk gestürzt: "Die Brüder Karamasow" könnte man auch als eine Art dunkle Passion lesen, in der Gott wie Schrödingers Katze mit gleicher Wahrscheinlichkeit tot und lebendig ist. Wenn er existiert, dann als Erfindung der Menschen, und wenn nicht, dann müsste man ihn schnellstens erfinden, denn sonst wäre ja alles erlaubt, wie Iwan, der mittlere Bruder und Atheist, am meisten fürchtet. Und sogar Jesus hätte seinen Auftritt haben können, wenn Stückl in seiner auf zweieinhalb Stunden eingedampften Fassung die Binnenerzählung vom Großinquisitor, der den zur Erde zurückgekehrten Heiland auf den Scheiterhaufen schickt, nicht gestrichen hätte.
In allen Stadien des Rausches
Dostojewskis letzter Roman enthält auf den ersten Blick vor allem Zutaten zu einem wilden Theaterrausch à la Frank Castorf. Dabei lässt sich die streng konstruierte Figurenkonstellation durchaus auch zu einem Kammerspiel verdichten, wie es Stückl in München zumindest bis zu Pause packend gelingt. Dass sich der Regisseur im eigenen Haus die mittlere Bühne 2 ausgesucht hat und nicht etwa die große mit Drehscheibe und Tiefensog, hat seine Logik, wenn man Stefan Hageneiers einnehmend übersichtlichen Raum gesehen hat: Das Publikum sitzt in je zwei bis fünf Reihen am Rand verteilt um eine in elegantem Schwung gewellte rechteckige Spielfläche herum, die wie ein großer Manta-Rochen die Mitte ausfüllt und über die sich wunderbar in allen Stadien des Rausches torkeln lässt.
Getrunken wird hier in jeder Phase viel, wenn auch nicht von allen. Über dem dunklen Urgrund schwebt als Kontrast ein schmal leuchtendes Rechteck, das je nach Bewusstseinszustand auf- oder abgedimmt werden kann.
In dieser abstrakten Seelenlandschaft wirken die Spielenden schon zu Beginn wie versprengte Überlebende, die einer lang zurückliegenden Menschheitskatastrophe entkommen zu sein scheinen. Hageneier, auch für die Kostüme verantwortlich, hat für die vier Brüder und den Vater einen zerfransten Lumpenlook mit zerknitterten Hosen und Pullovern entworfen, aus denen überall die Fäden heraushängen. Von den Frauenfiguren sind nur die tugendwütige Katerina Iwanowna (Pola Jane O'Mara) im kurzen Strickharnisch und Ruth Bosung als mürrisch-sinnliche Gruschenka im zerschlissenen Leoparden-Catsuit übriggeblieben, die sich ebenso erbittert bekämpfen wie die Brüder über alle Widersprüche hinweg doch zusammenhalten.
Verbrechen und Strafe werden nur kurz verhandelt
Zu Beginn lässt Pascal Fligg als gewitzt-versoffener Vater Fjodor Karamasow, der sich im Laufe des Abends immer weiter in einen luziden Rausch der Erleuchtung hineintrinkt, seine Söhne im philosophischen Ping-Pong gegeneinander antreten: Ist es möglich, die Menschen zu lieben, ohne an Gott zu glauben? Und welche Liebe zählt am meisten, die lustvoll egoistische oder die tätige Nächstenliebe, die auch schnell zur besitzergreifenden Falle werden kann? Jakob Immervoll als Iwan leidet am Zweifel und hat doch dem Glauben zugunsten der vermeintlichen Freiheit rigoros abgeschworen, während Lorenz Hochhuth als Aljoscha ruhig und keineswegs weltfremd dagegenhält und Janek Maudrich als Smerdjakow, der Diener und vermutlich uneheliche vierte Sohn, pragmatisch auf reelle Bezahlung pocht. Einzig Dimitri, Anton Nürnberg spielt ihn als kindlichen Wüstling, den beide Frauen lieben und den der Vater deshalb am meisten hasst, hat keine Rezept dafür und bringt doch das Karussell der Leidenschaften sofort so aus der Balance, dass alle ihm den Vatermord zutrauen, den allerdings nicht er, sondern Smerdjakow im Vertrauen auf Iwans Antigottesbeweis begeht.
Während sich Gedankenbögen und erotischer Suspense zu Tom Wörndls energetischem Gitarrensound im ersten Teil organisch aufbauen bis zum großen Showdown der Weltanschauungen zwischen Iwan und Aljoscha, bleibt nach der Pause für gut 500 Seiten Roman in einer halben Stunde nicht mehr allzu viel Zeit. Verbrechen und Strafe werden nur kurz verhandelt, ebenso wie die unmöglichste Liebesbegegnung von allen zwischen Aljoscha und Gruschenka, die inzwischen all ihre erotischen Einsätze verloren geben muss und von der schillernden femme fatale immer mehr zu einem traurigen lost child wird. Das Paradies, das für Aljoscha in jedem von uns verborgen liegt, wird so knapp und endgültig verabschiedet – mit ein paar Takten aus Louis Armstrongs "What a wonderful world". Eine rudimentär-radikale Passion, diesmal ohne Trost und Erlösung, die den Schrecken der Freiheit und der Liebe ins Zentrum stellt.
Die Brüder Karamasow
nach dem Roman von Fjodor Dostojewski
Regie: Christian Stückl, Bühne und Kostüm: Stefan Hageneier, Musik: Tom Wörndl, Licht: David Jäkel, Dramaturgie: Bastian Boß.
Mit: Pascal Fligg, Anton Nürnberg, Jakob Immervoll, Lorenz Hochhuth, Janek Maudrich, Pola Jane O'Mara, Ruth Bohsung.
Premiere am 4. Dezember 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.muenchner-volkstheater.de
Kritikenrundschau
Die Inszenierung sei ein düsterer Familienthriller, "hochspannend und stark umgesetzt", schreibt Michael Schleicher vom Münchner Merkur (5.12.2022). "Stückl hat den Roman geschickt destilliert. Er konzentriert sich ganz auf Beziehungsgeflecht und Machtverhältnisse innerhalb der Familie." Ein besonderes Lob erhält der kurzfristig eingesprungene Schauspieler Janek Maudrich. "Maudrich spielt völlig souverän: kein Zögern, nirgends. Zu Recht wurde er von Publikum und Team für diese Leistung gefeiert."
"'Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt?' lautet die zentrale Frage des Romans, an der sich Stückl, dieser katholisch geprägte Zweifler, abarbeitet, freilich ohne eine abschließende Antwort zu finden. Aber auch die vorläufige, auf die seine Inszenierung hinausläuft, hat es in sich. Sie lässt sich auf die Formel bringen: Kein Gott ist auch keine Lösung“, so Christoph Leibold vom Bayerischen Rundfunk (5.12.2022).
"Man meint in dieser angestrengten Inszenierung Stückl, dem mit seinem Glauben ringenden katholischen Zweifler, förmlich in den zermarterten Kopf blicken und ihn beim Grübeln und Hin- und Herwenden der Argumente zusehen zu können. Das ist, wie immer bei ihm, interessant, aber fürwahr kein Spaß. Es wirkt, als habe er sich total vergraben und festgebohrt in der Thematik", schreibt Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (5.12.2022). Die Kritikerin erinnert daran, dass es doch auch Sinnlichkeit, Freude und Farbe gebe auf der Welt. Jedoch: "Nichts davon an diesem Abend. Alles freudlos und aschgrau. Hartes Theaterbrot."
"Alles ist erlaubt – das könnte auch eine Devise für Stückls eklektische Inszenierung sein." Stefan Hageneiers Bühne eigne sich vorzüglich als "offener Diskussionsraum, in dem sich die Figuren immer wieder neu positionieren und von einem Moment zum anderen in die Über- oder Unteransicht gelangen", schreibt Michael Stadler von der Abendzeitung (6.12.2022). Den zentralen Kriminalfall spiele Stückl in der zweiten Hälfte in aller Eile durch und nähe seine Inszenierung behelfsmäßig zu. "Gerade in der ersten Hälfte gelingen ihm jedoch einige dichte, von seinem Ensemble großartig gespielte Momente."
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