Fabian oder: Der Gang vor die Hunde - Münchner Volkstheater
Schwimmen gegen den Krieg
26. November 2023. In Erich Kästners "Fabian" lässt sich die Titelfigur treiben durch eine krisengeschüttelte Vorkriegs-Epoche. Regisseur Philipp Arnold hat seine Adaption erweitert mit Texten von drei osteuropäischen Autor:innen, lässt das Stück in einer Filmstudio-Bühne spielen, und am Ende steht ein Appell.
Von Silvia Stammen
26. November 2023. Krieg ist eine Entscheidungsmaschine. Hier hat alles, selbst das Warten oder Nichtstun, seine Konsequenz. Nur gut sein, geht nicht. Zu wenig wollen bedeutet manchmal so viel wie alles verlieren, und wer weiß schon, was zu viel und zu wenig ist. Als Erich Kästner Anfang der 1930er Jahre in Berlin mit einem seismografischen Gefühl für gefährliche politische Großwetterlagen an seinem ersten Erwachsenen-Roman "Fabian oder: Der Gang vor die Hunde" schrieb, saßen ihm nicht nur die Roaring Twenties, sondern auch ein kurzer Einsatz im Ersten Weltkrieg in den Knochen, der ihn für den Rest seines Lebens zu einem radikalen Pazifisten machte.
"Und jetzt sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa!", ruft Fabian seinem besten Freund Labude zu. Der ist Kommunist, aus reichem Hause und will die Kleinbürger in eine revolutionäre Masse verwandeln. Der Werbetexter Dr. Jakob Fabian dagegen ist so ein Abwartender, kein Mitläufer, sondern das Gegenteil davon, ein leicht im Abseits stehender Beobachter, der sich gern als Moralist bezeichnet, aber nicht weiß, welche Seite seinen Moralvorstellungen standhalten könnte. Gern möchte er "helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen", und ist selbst nicht überzeugt davon, dass sie dazu geeignet wären. So lässt er sich treiben durch eine ebenso krisengeschüttelte wie emanzipierte Epoche, der gerade in letzter Zeit immer wieder Ähnlichkeit mit unserer Gegenwart nachgesagt wird.
Wartesaal Europa
Für das Münchner Volkstheater haben Hausregisseur Philipp Arnold und Dramaturgin Hannah Mey nun nicht nur Kästners Roman adaptiert und auf ein übersichtliches Maß von gerade mal fünf Figuren zurechtgestutzt, sondern auch drei aktuelle osteuropäische Stimmen dazu eingeladen, den Stoff aus ihrer Sicht weiterzuschreiben. Die litauische Autorin Arna Aley, die seit 1996 in Berlin lebt und 2022 Stadtschreiberin von Chemnitz war, Viktor Martinowitsch aus Belarus, der immer noch dort lebt, seine Werke aber nur im Ausland veröffentlichen kann, und dessen beklemmenden Politthriller "Revolution" Philipp Arnold bereits letztes Jahr am Volkstheater inszeniert hat, und die ukrainische Dramatikerin und Schauspielerin Maryna Smilianets, die zurzeit zwischen Stuttgart und ihrem Theater in Kiew pendelt, haben sehr individuell auf die Anfrage reagiert.
Smilianets mit persönlichen Erinnerungen an Berlin, erst als Touristin, die kurz vor dem 24. Februar 2022 zufällig in eine Demo gegen den drohenden Krieg stolpert, an den sie da noch nicht glauben mag, um wenig später dann als Geflüchtete zurückzukehren. Aley mit einer sarkastischen Fortschreibung der Kästnerschen Romanfiguren in ein futuristisches Irrenhaus, in dem eine Friedensgöttin ausländerfeindlich ausflippt und eine höfliche KI-Assistentin auf die entscheidende Frage "Was tun?" leider auch keine Antwort weiß. Von Martinowitsch stammt die verstörend realistisch erzählte Geschichte eines belarussischen Dissidentenpaars, das ohne seine siebenjährige Tochter fliehen muss, weil sie so schnell kein Visum für sie bekommen können. Und weil "ein Mädchen, dessen Eltern im Gefängnis sind, in einem staatlichen Kinderheim unter schlechteren Bedingungen leben muss als ein Mädchen, dessen Eltern ins Ausland geflohen sind, um nicht ins Gefängnis zu kommen".
Gemeinsam ist diesen neuen Texten vor allem, dass in ihnen die Realität des Kriegs, die sich im "Fabian" erst ankündigt, bereits eingetreten ist, sodass sich das Zögern nun nicht mehr auf seine Moral herausreden kann. Die drei heterogenen Binnenstücke werden unter Nennung der Autor*innennamen von allen sechs Darsteller*innen gesprochen und sind dabei nur ansatzweise in den Erzählbogen des Romans integriert.
Traumtänzer im Filmstudio
Auf die große Drehbühne hat sich Arnold dazu von Viktor Reim ein fragiles begehbares Gerüst bauen lassen, eine Art Brücke mit einer Treppe links und einer abschüssigen Rampe rechts als Aufgängen, darunter Scheinwerfer, Mikrofone und eine Windmaschine wie in einem Filmstudio. Dort werden Szenen immer wieder auch live gefilmt und in Schwarz-Weiß abwechselnd mit historischen Berliner Außenaufnahmen (Video: Sebastian Pircher) in Farbe auf den Rundhorizont projiziert.
Von Anfang an tritt der Titelheld in dieser rudimentären Traumfabrik in doppelter Besetzung auf: Anton Nürnberg ist ein jugendlicher Traumtänzer, der mit Labude (Pascal Fligg) lässig um die Wette swingt und mit der zielstrebig strahlenden Juristin Cornelia (Ruth Bohsung) kurz die große Liebe ausprobiert, bevor die sich als klassischer MeToo-Fall von einem 50-jährigen Produzenten zum neuen Modetyp der "intelligenten deutschen Frau" casten lässt. Silas Breiding wahrt dagegen kühl mehr Distanz zu sich als Figur und ebenfalls zu der sympathisch-nymphomanischen Männerbordellbetreiberin Irene Moll, von Nina Steils hier eher charmant als aufdringlich verkörpert.
Schwimmen lernen
Den fiebrigen Alptraum der Großstadt, der bei Kästner so fesselt, hat Arnold nur andeutungsweise in Romain Frequencys leise pulsierenden Elektrosound transponiert und die personenreichen Schlüsselszenen ohnehin gestrichen. Was übriggeblieben ist, wirkt von der Stimmung gedämpft, manchmal fast wie unter einer Glasglocke, die reißende Abwärtsspirale des Romans gebremst, sodass auch die letzte Pointe nicht mehr zündet. Nachdem er seinen Job verloren, seine Liebe ihn verlassen und sein Freund sich erschossen hat, findet Fabian bei Kästner überraschend zu einer Tat, die in ihrer Sinnlosigkeit wie ein absurder Befreiungsschlag wirkt.
Zurückgekehrt in seine Heimatstadt springt er einem Kind hinterher, das von einer Brücke in den Fluss gefallen ist. Der Junge rettet sich allein ans Ufer, aber Fabian ertrinkt. "Er konnte leider nicht schwimmen", so der berühmte letzte Satz, der in der Volkstheaterfassung gestrichen ist. Hier gibt es stattdessen einen verzweifelten Appell von Maryna Smilianets: "Das Grauenhafte an dem Ganzen ist nicht einmal die Tatsache, dass die Welt so einen schrecklichen Krieg in Europa wieder zugelassen hat. Grauenhaft ist, dass die ganze Welt schon seit zwei Jahren nicht in der Lage ist, ihn zu beenden. … Das Kind ertrinkt, aber niemand rettet es – aus Angst, mit ihm zusammen unterzugehen. Lernt schwimmen. Bitte lernt schwimmen." – Fraglich bleibt, ob das noch hilft.
Fabian oder: Der Gang vor die Hunde
nach Erich Kästner
Mit neuen Texten von Arna Aley, Viktor Martinowitsch und Maryna Smilianets
Regie: Philipp Arnold, Bühne: Viktor Reim, Kostüme: Julia Dietrich, Musik: Romain Requency, Video: Sebastian Pircher, Licht: Björn Gerum, Dramaturgie: Hannah Mey.
Mit: Ruth Bohsung, Silas Breiding, Pascal Fligg, Jonathan Müller, Anton Nürnberg, Nina Steils.
Premiere am 25. November 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.muenchner-volkstheater.de
Kritikenrundschau
"Was auf den ersten Blick ziemlich konstruiert wirkt, leuchtet auf den zweiten Blick, zumindest streckenweise, ein. Kästners Metapher vom 'Wartesaal Europa' lässt sich etwa durchaus auf heutige Verhältnisse übertragen", schreibt Michael Stadler in der Abendzeitung (26.11.2023). Eine Antwort auf die von ihm aufgeworfene Frage "Was tun?" biete "der luftig-abwechslungsreiche Abend" nicht "und gibt auch keine Ahnung davon, wie der eingeforderte politische Aktivismus denn aussehen könnte", so Stadler. "Immerhin: Die Passivität Fabians erscheint als schlechtes Vorbild. Die gemeinschaftliche Leistung des Ensembles, das sich beim Erzählen gut rhythmisiert abwechselt und sich der Herausforderung dieses vielstimmigen Projekts beherzt stellt, begeistert hingegen."
"Spannend spannungsvoll ist dieser 'Fabian'-Abend", schwärmt Moritz Holfelder im Bayerischen Rundfunk (26.11.2023). "Ein wilder Ritt durch die Zeitläufe, toll gespielt von Anton Nürnberg und Ruth Bohsung als Liebespaar." Die Inszenierung schaffe eine stimmige Balance zwischen dem Berlin der Weimarer Republik und der aktuellen Welt, ohne platt die gesellschaftlichen und politischen Kümmernisse der Jetztzeit zu betonen. "Das Theater verlässt man inspiriert nachdenklich, sinnend darüber, wie man sich selbst der Welt gegenüber verhält – resignierend oder kämpferisch."
"Kästners Roman pulsiert" und "vieles greift an diesem Abend hervorragend ineinander, ergänzt sich auf verschiedenen Ebenen, beschleunigt das Tempo", schreibt Yvonne Poppek in der Süddeutschen Zeitung (27.11.2023). "Vieles klug zu verbinden, nicht zuletzt die Historie mit der Gegenwart, und gleichzeitig eine ergreifende, theatrale Erzählung zu formen, ist die starke Leistung dieses Abends."
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