Gepackt vom Inselvirus

28. Oktober 2023. Derzeit viel gespielt, weil man ja auch in Krisenzeiten lachen muss, funktioniert Shakespeares "Was ihr wollt" auch bei Christian Stückl prächtig. Um auf sein Plädoyer für Geschlechterfluidität zu kommen, muss man allerdings (zu oft) um die Ecke denken.

Von Sabine Leucht

"Was ihr wollt" in der Regie von Christian Stück am Volkstheater München © Arno Declair

28. Oktober 2023. Genets "Die Zofen", Ágota Kristófs "Das große Heft", demnächst Erich Kästners "Fabian" – zwischen so viel (Klassen-)Kampf, Verrohung und "Gang vor die Hunde" soll das Publikum mal was zu lachen bekommen. Dachte sich der Hausherr des Münchner Volkstheaters und griff zu Shakespeares vermeintlich so leichtfüßiger Komödie "Was ihr wollt". Machen gerade viele. Vermutlich aus ähnlichen Gründen. Wobei Shakespeares Humor und seine Verwechslungs-Dramaturgie einen doch nur schwindelig machen, damit man die überall winkenden Abgründe übersieht. Und holterdipolter hineinfällt.

Christian Stückl kitzelt gemeinhin gerne die derbe Klamotte aus Shakespeares Stücken heraus. Sein letztes aber war ein polit-thrillerhafter "Julius Caesar", der, mit Kriegsopfern und Tyrannenmord an die politischen Zeittläufte andockend, den Oberammergauer Theatersommer verdunkelte.

Sattpinkes "L O V E"-Labor

Stefan Hageneier hatte damals schon viel Rot ins Bühnenbild gemischt. Das Rot für Illyrien aber ist kein politischer, sondern ein Künstlichkeits-Marker: Eine Art japanisches Teehaus mit rot lackiertem Reetdach ist von blutroten Palmen überschattet. Sattpink die Plastikcouch im Inneren, pink schreien anfangs auch die mit Lämpchen besetzten Lettern "L O V E". Sie hängen vor einer Scheibe, die wie die obere Hälfte eines Glücksrads aussieht und die Tiefe der Bühne begrenzt.

Die Farben verursachen Hirn- und Augenschmerz und haben offenbar auch schon Spuren bei denen hinterlassen, auf die Viola in diesem Liebes-Glücksspiel-Labor trifft. Sie und ihr Zwillingsbruder Sebastian haben vor der Insel Illyrien Schiffbruch erlitten und sich aus den Augen verloren. Mit der Unterstützung des Narren verkleidet sie sich als Mann, um Herzog Orsino als Page dienen zu können. Gender-Trouble anno 1602! Für diesen muss sie als Cesario Liebesbotschaften an die Gräfin Olivia überbringen, obwohl sie selbst in ihn verknallt ist.

Das Herz dem falschesten Objekt

Wofür Puck im "Sommernachtstraum" seine Zauberblume braucht, ist bei "Was ihr wollt" schon angerichtet: Alle hängen ihr Herz an das falscheste Objekt. Aber ist hier wirklich das Herz involviert oder bricht sich nur Narzissmus neue Kanäle? Christian Stückl braucht nur wenige Minuten, um das klar zu machen, indem er eine komplett durchgeknallte hermetische Inselgesellschaft etabliert. Jeden Moment könnte der Verrückte Hutmacher um die Ecke kommen. Aber auf eine*n wie Henriette Nagels Viola/Cesario ist sie nicht gefasst. Schon dieses Schiffbrüchigen-Normalo-Outfit mit blauem Rock und Rettungsweste! Und diese Straightforwardness, mit der Viola sagt: "Ich brauch'n Bart, komm!"

Liz Stapelfeldts Olivia und ihre energische Zofe Maria mussten zuvor höchst umständlich mit Taucherflossen auf die Bildfläche watscheln. Während Maria Intrigen spinnt und Luise Deborah Daberkow, die sie spielt, zwischendurch mal schnell in den Spagat fällt – "Ach-das ist-doch-nichts"-Blicke ins Publikum inklusive –, büßt die Gräfin ihre Bewegungsfreiheit bald ein: Um dem androgynen Boten zu gefallen, wird sie sich in ein Seejungfrauenkleid pressen, in dem sie nur hüpfen oder notfalls rollen kann.

Liebes-Verrenkungen: Lorenz Hochhuth als Narr und Luise Deborah Daberkow als Zofe Maria © Arno Declair

Und die Subalternen/Männer erst! Olivias Onkel Toby ist bei Alexandros Koutsoulis ein murmelnder Stoiker im Hippielook (im schlank und frei ins Lokale und Popkulturelle ausgreifenden Text, der offenbar bis zuletzt für Improvisationen offen war, wird er auch als Oberammergauer Robinson Crusoe betitelt). Als sein Saufkumpan Sir Andrew knetet Vincent Sauer gerne seine Zehen, während er sich kindlich juchzend debile Brieftexte und Strafen ausdenkt, wie zum Beispiel Shampoo in die Conditoner-Flasche zu füllen.

Risse in der komischen Fassade

Dagegen ist die/der Neue auf Illyrien selbst in der Verkleidung noch patent und natürlich. Wie Lorenz Hochhuths Narr, der mit einem sehr eigenwilligen Song-Repertoire diverse Bedürfnisse triggert und bedient, scheint auch Viola Herr*in ihrer Sinne. Dass sie sich dennoch in Jan Meeno Jürgens vor Selbstliebe bibbernde Vogelscheuche Orsino verliebt, beweist nur: Auch sie hat das Inselvirus gepackt.

Und nun ist nicht ganz klar, was dieses Virus in Stückls Inszenierung ist: denn der Plan mit dem Lachen geht dank tollem Timing, unfassbar engagierten Schauspielern und einigen (fäkal-)humorigen Extras auch ganz hintergedankenfrei auf. Dass die Knallchargenmasken Risse haben, kann man vor lauter Klamauk fast übersehen.

Angebetetes Objekt: Jan Meeno Jürgens als Orsino (Mitte) mit Henriette Nagel und Lorenz Hochhuth © Arno Declair

Haarrissfein zeigen sie sich etwa im langzahnigen Grinsen des Haushofmeisters Malvolio (mit viel Mut zur Lächerlichkeit: Steffen Link) oder in den stets zu großen, fast trampeligen Bewegungen und Gesten Olivias, die eine leicht verzweifelte Bedürftigkeit durchschimmern lassen. Hier fragt der Abend sehr viel leiser danach, wer wir sind, dass wir Liebesphantomen und Glücksgespenstern nachjagen, die wir gar nicht meinen. Und dafür Larven und Masken anlegen, die uns verstecken.

Der Shakespeare-Forscher Jan Kott hat "das erotische Delirium oder die Metamorphosen des Geschlechts" als Thema dieses Stückes ausgemacht. Mit dem Blick auf Henriette Nagels entspannte*n Viola/Cesario wird fast eine Empfehlung zur Genderfluidität daraus. Aber sie kommt vergleichsweise verdruckst und über mehrere Ecken daher. Die falsche Erlösung am Schluss jedenfalls erspart uns Stückl, der bereits im Interview mit der AZ spoilerte: "Am Ende stehen sie da wie aus einem Rausch aufgewacht und haben Kopfweh." Da stehen sie also, Kopfweh oder nicht, wippen auf der Stelle – und warten auf den Regen.

 

Was ihr wollt
von William Shakespeare
Deutsch von Jens Roselt
Regie: Christian Stückl, Bühne & Kostüme: Stefan Hageneier, Musik: Tom Zimmer, Licht: Björn Gerum, Dramaturgie: Bastian Boß.
Mit: Jan Meeno Jürgens, Henriette Nagel, Jawad Raipoot, Cengiz Görür,  Liv Stapelfeldt, Luise Deborah Daberkow, Alexandros Koutsoulis, Vincent Sauer, Steffen Link, Lorenz Hochhuth.
Premiere am 27. Oktober 2023
Dauer: 2 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

"Shakespeares Illyrien als knalliges Love Island, bevölkert von ähnlich bekloppten, schwer selbstverliebten Typen wie in der Dating-Reality-Show auf RTL. Damit muss man sich erst einmal anfreunden", so Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (30.10.2023). Auch mit dem anfangs so juvenilen Offensiv-Theaterton. Das Fremdeln dauere eine Weile, werde erleichtert durch den "ansteckenden Behauptungsfuror, mit dem das spielfreudige Ensemble diese Inselwelt erschafft". Fazit: "Es fehlt hier, wie im großen Ganzen, die Schreckenskomik. Aber wie genüsslich eitel und facettenreich fies Steffen Link etwa diesen Spießer Malvolio spielt, macht Spaß." Am Ende schauen alle dumm aus der Wäsche. Denn anders, als der Titel zu versprechen scheint, kriege keiner das, was er will."
 
Stückl lasse den Abend nicht mit dem berühmten Vers "Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist,/..." beginnen, sondern mit dem Narren und der Zofe Maria, "sie sind die Spielmacher", so Simone Dattenberger im Münchner Merkur (30.1.2023). "Der zweite Akzent der Konzeption: Die Frauen sind emanzipiert und wissen, was sie wollen und was nicht." Stückl folge Shakepeares Komödien-Räderwerk und lasse ihn gut gekürzt, entspannt dahinschnurren. Ihm glücke es, das Lustspiel voller Fröhlichkeit und dennoch Hintersinn in Szene zu setzen, und das liege insbesondere am Ensemble. 
 
Ein großartiges Ensemblespiel sah auch Anne Fritsch (Münchner Abendzeitung, 30.10.2023). "Die Inszenierung ist ein ausgelassenes Festival der Liebe, eine Reise in eine Welt, die mit unserer sehr wenig gemein hat." Extrem gut getimt und gelaunt, "es ist Stücksl beste Shakespeare-Inszenierung ever, ein candybunter Trip in eine Traumwelt".
 

"Mit großer Beharrlichkeit inszeniert Hausherr Christian Stückl seit Jahrzehnten in München wie Oberammergau Shakespeares Werke, aber so angespitzt gegenwärtig wie 'Was ihr wollt' ist ihm das noch nie geglückt," schreibt Teresa Grenzmann in der FAZ (1.11.2023) und gibt "wirbelstürmischen Applaus" zu Protokoll. "Die Konsequenz, mit der Stückl und das spieltolle Ensem­ble die vergebene Liebesmüh in einer Sonnenuntergangsgesellschaft der narzisstischen Einsamkeit vorführen, deren Geltungssucht in vielen kleinen Bei­seitehieben auch vor dem Publikum nicht haltmacht, schafft aufregend junges Volkstheater."

Kommentare  
Was ihr wollt, München: Zeit
Etwas aus der Zeit gefallen, oder?
Was ihr wollt, Volkstheater: Spielfreude ohne Zusammenhang
Vor lauter Klamauk und Aktivismus verliert man die Zusammenhänge und den Sinn des Ganzen. Es bleibt viel Farbe und die Spielfreude.
Was Ihr wollt!, München: Nicht nachvollziehbar
@Sabine Leucht: Sie sprechen von einem Piraten bei Sir Toby, was ich nicht nachvollziehen kann, denn es ist vom Oberammergauer "Robinson Crusoe" die Rede. Mit den Farben hatte ich im Vorfeld der Aufführung auch meine Probleme, in der Vorstellung selbst fand ich sie absolut passend. Ludwig Frank
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