Antigone - Residenztheater München
Nichts ist so dämonisch wie der Mensch
29. Januar 2023. Alles eine Frage der Perspektive in Theben: Regisseurin Mateja Koležnik hat für diese Bühnenfassung mehrere Texte verschnitten – und lässt die Geschehnisse um Antigone in komplizierter Familienkrise auf der Bühne gleich zweimal ihren Lauf nehmen. Der Blick erschließt sich (auch) unheimlich und überraschend die Hinterzimmer.
Von Theresa Luise Gindlstrasser
29. Januar 2023. Diese "Antigone" ist vielstimmig. Denn die Regisseurin Mateja Koležnik erarbeitete gemeinsam mit der Dramaturgin und Autorin Diana Koloini eine Fassung, basierend auf dem Text von Sophokles und dem Stück "Die drei Leben der Antigone" von Slavoj Žižek. Dabei sorgt die Kombination der zwei Texte nicht nur für ein Mehr an Positionen. Das Žižek-Stück macht von sich her verschiedene Möglichkeiten auf, indem drei Schlüsse die Geschicke Thebens, Kreons und Antigones je anders imaginieren.
Die zwei Seiten der Tür
Zwei davon greift die Inszenierung am Residenztheater auf und aufgeteilt auf einzelne Figuren erfährt Žižeks Chor eine Individualisierung, ja, wahrlich viele Stimmen sind's, die nach dem Ende der Schlacht um den Anfang einer Gesellschaftsordnung ringen. Der zweigeteilte Abend fokussiert zunächst die familiäre Gemengelage der Geschichte. Dass die Brüder Eteokles und Polyneikes im Kampf um den Thron starben, dass der neue Herrscher Kreon anordnet, Polyneikes nicht zu begraben, da dieser für die Enthebung des unrechtmäßig herrschenden anderen gegen seine Heimatstadt in den Krieg gezogen war und vor allem: dass Antigone darauf beharrt ihren Bruder zu bestatten.
Nach der Pause werden die Geschehnisse aus anderer Perspektive wiederholt. Diesmal ist es der zu Parlamentspräsidentin, Royalist und Veteran gewordene Chor, der im Fokus steht und über ideologische Gräben hinweg über Recht und Ordnung diskutiert. Der Clou der Inszenierung: Die Geschehnisse werden tatsächlich wiederholt. Und die Bühne von Christian Schmidt lässt das Publikum zunächst auf der einen, dann auf der anderen Seite einer Tür dabei sein.
Diese Tür trennt den kahlen Flur (vor der Pause) vom vertäfelten Sitzungszimmer (nach der Pause) – die ganze Regierungsgesellschaft hat sich in einen fenster- und schnörkellosen Schutzbunker zurückgezogen – und manchmal steht sie offen, diese Tür. Dann dringen Gesprächsfetzen, die sich erst später oder schon früher im Kontext erschließen werden beziehungsweise erschlossen haben, ans Ohr. Oder bleiben Personen im Hinein-Hinaus-Treten an der Schwelle stehen, vor der Pause dem Publikum den Rücken zeigend, nach der Pause das Gesicht. Die präzise gearbeitete Gleichzeitigkeit der Geschehnisse am Flur und im Sitzungszimmer intensiviert den Eindruck von Polyphonie.
Lautstark in der Understatement-Atmosphäre
Was zu einem insgesamt höchst ereignisreichen Vormittag für Theben werden wird, beginnt jedoch in der halbdunklen Langsamkeit eines frühen Morgens. Vassilissa Reznikoff und Linda Blümchen tapsen als die Schwestern Antigone und Ismene durch den Flur. Während die eine auch den eigenen Tod nicht scheut, will sich die andere an das Verbot Kreons halten. In weißen Nachthemdchen blicken sie verstohlen um sich, sie sind in diesem Bunker fremd.
Ganz anders die adrett und beige gekleideten Mitglieder des Parlaments, die eilig ihren Weg ins Sitzungszimmer kennen und hinter der Türe verschwinden. Oliver Stokowski gibt den unerbittlichen Kreon; die lautstarken Konfrontationen zwischen Antigone, Ismene und Kreon unterbrechen die grundsätzliche Understatement-Atmosphäre des Abends.
Hier und da: eine Überraschung
Die Wiederholung der Geschehnisse aus anderer Perspektive ermöglicht so manche Überraschung. Wie Florian Jahr als Parlamentssekretär am Flur vor allem dienstbeflissen tut und die Herrschaft Kreons erst nach den vielen Selbstmorden und in einem stillen Moment im Sitzungszimmer in Zweifel zieht. Wie Cathrin Störmer in der Rolle der Parlamentspräsidentin Anlauf nimmt, sich zu trauen, Kreon zu sagen, er müsse sein Urteil über Antigone zurücknehmen und wie der im Flur genommene Anlauf sich als Anspannung im Sitzungszimmer fortsetzt. Wie umso stärker die von Hanna Scheibe gespielte Humanistin in ihren Standpunkten wirkt, nachdem die Kontras, die sie im Sitzungszimmer erfährt, zu Gehör gekommen sind. Und vor allem: Dass es da eine Figur gibt, Thiemo Strutzenberger spielt den Demokrat, die am Flur kaum ein Wort verliert, im Sitzungszimmer jedoch die Volksherrschaft propagiert.
Dieser Theaterabend bietet keine Zentralperspektive an, von der aus sich die Geschehnisse im Gesamten überblicken lassen könnten. Die beiden Räume werden zum jeweiligen Hinterzimmer füreinander, wo private Kommentare über die öffentliche Situation auf der anderen Seite fallen beziehungsweise wo eine öffentliche Situation für einen privaten Moment hinter der Türe verlassen wird. Sauber voneinander trennbar erscheint da nix, nicht das Private vom Öffentlichen und nicht das Familiäre vom Gesellschaftlichen. Dass am Ende, nach so viel Spannung und nach so viel spannender Diskussion, der Bunker erstürmt wird, als wär's das Kapitol: "Unheimlich und dämonisch ist viel, doch nichts so unheimlich dämonisch wie der Mensch."
Antigone
von Sophokles und unter Verwendung von "Die drei Leben der Antigone" von Slavoj Žižek
In einer Bearbeitung von Mateja Koležnik und Diana Koloini
Deutsch von Frank Born
Regie: Mateja Koležnik, Bühne: Christian Schmidt, Kostüme: Ana Savić Gecan, Musik: Bert Wrede, Licht: Gerrit Jurda, Choreografie: Matija Ferlin, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Vassilissa Reznikoff, Linda Blümchen, Oliver Stokowski, Vincent zur Linden, Steffen Höld, Simon Zagermann, Cathrin Störmer, Florian Jahr, Thiemo Strutzenberger, Thomas Lettow, Hanna Scheibe, Michael Goldberg, sowie: Sophia Hertenstein / Marie Höhne, Alexander Jürgens / Andrew Vanoni, Philipp Künstler /Josef Pfitzer und Marvin Bredlau, Alexander Breiter, Alexandra Hacker, Kai Mesinovic, Florian Pürner.
Premiere am 28. Januar 2023
Dauer: 2 Stunden, 15 Minuten, eine Pause
www.residenztheater.de
Kritikenrundschau
In Mateja Koležniks "rasant exekutierter Inszenierung" sei Antigone "keine moralisch strahlende Protagonistin, auch keine radikalisierte Staatsterroristin", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (29.1.2023). Die Regisseurin brauche sie "einfach nur als Katalysator für den politischen Prozess, der hier mehrperspektivisch beleuchtet werden soll". Der "in seinen Abläufen perfekt" gemachte Abend beziehe seine Stärke aus dem, "was er an Assoziationen zum Nach- und Weiterdenken anbietet". Die Hinzunahme des Žižek-Texts sei "ein echter Regiecoup in einer Inszenierung, die weniger das Gefühl als den Intellekt anspricht".
Die Hinzunahme des Žižek-Texts als zweiten Teil des Abends hätte es zwar "nicht unbedingt gebraucht", meint Matthias Hejny in der Abendzeitung (30.1.2023), aber Koležnik könne mit der "schon bei Sophokles angelegten Vielstimmigkeit" so "virtuos umgehen wie nur wenige andere". Vassilissa Reznikoff gelinge in der Hauptrolle "mit diskretem Charme die brisante Ambivalenz zwischen dem humanistischen Widerstand einer jungen Frau gegen eine als ungerecht empfundene Ordnung und einer Dogmatikerin, die jeden Zweifel an ihrer Position zurückweist".
Mateja Koležnik erzähle die "Antigone" als "doppelten Psychothriller", berichtet Alexander Altmann im Merkur (30.1.2023). "Die hoch konzentrierte Atmosphäre aus Anspannung, Misstrauen, Furcht und lauernder Vorsicht macht fast körperlich spürbar, dass hier etwas Unausgesprochenes im Raum steht, ein Tabu, um das herum alle einen ängstlichen Eiertanz aufführen – der zum Spiegel der Inszenierung selbst wird. Denn es liegt auf der Hand, dass 'Antigone' mit dem Konflikt zwischen Normabweichung und Gehorsam auch das Stück zur Corona-Politik der vergangenen Jahre wäre, wenn das Theater nicht Angst davor hätte, dies auszusprechen. Langer Applaus."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
- 29. September 2024 Oberhausener Theaterpreis 2024
- 29. September 2024 Schauspieler Klaus Manchen verstorben
- 28. September 2024 Schauspielerin Maggie Smith gestorben
- 26. September 2024 Nicolas Stemann wird 2027 Intendant in Bochum
- 26. September 2024 Berlin: Bühnenverein protestiert gegen drastische Sparauflagen
neueste kommentare >
-
Einsparungen 3sat Unterschreiben!
-
Spardiktat Berlin Nicht konstruktiv
-
Einsparungen 3sat Geschätzter Stil
-
Spardiktat Berlin Verklausuliert
-
Spardiktat Berlin Gagen
-
Faust, Frankfurt Video
-
Spardiktat Berlin Intransparente Bosse
-
Spardiktat Berlin Menschen wie Max Reinhardt
-
Augenblick mal Jurybegründung
-
Medienschau Peter Turrini In der DDR
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Die dargestellte Gleichzeitig der unterschiedlichen Systeme Familie und Parlament ist zwar in Bayern noch nicht ganz Geschichte, doch findet sie sich heute stärker in Familienunternehmen. Diese müssen mit der Gleichzeitig von Familiendynamik, Unternehmensorganisation und Vermögensverhältnissen zu Recht kommen. Jedes der drei Systeme hat eine eigene Identität und Dynamik. Auch hierfür liefert die Inszenierung viele anschauliche Verschränkungen, Konfliktdarstellungen und Anregungen.
Ebenso wird die Notwendigkeit einer stabilen und verlässlichen Regelung von Entscheidungen thematisiert. Auch wenn die unterschiedlichen Mitglieder des Parlamentssystems verschiedene politische Positionen vertreten, wie diese Entscheidungsfähigkeit und damit Ordnung, Frieden zu Zukunftsfähigkeit hergestellt werden kann, so ringen Sie doch alle um ein belastbares Entscheidungssystems. Die Folgen der Destabilisierung dieser politischen Entscheidungsfähigkeit und ihre konsequente Umsetzung wird im Schluss der Inszenierung durch den gewaltsamen Sturm des Parlamentsgebäudes sichtbar. Die vorher von Kreon vertretene Position einer notwendigen Stabilisierung von Asymmetrie erscheint dadurch in einem anderen gar notwendigen Licht.
Die konzeptionelle Idee der Regisseurin Mateja Koležnik und der Dramaturgin Constanze Kargl im Rückgriff auf Sophokles´ „Antigone“ und Slavoj Žižeks Theaterstück „Die drei Leben der Antigone“ ist beeindruckend, die Umsetzung ebenfalls. Anders als bei vielen anderen Inszenierungen des Residenztheaters – insbesondere diejenigen der Hausregisseurinnen - überzeugen hier Text und Regie. Ich schätze es, wenn ich nach einer erlebten Inszenierung mit neuen und mehr Fragen das Theater verlasse, als ich hineingegangen bin. Ich würde mich freuen, wenn sowohl Frau Mateja Koleznik als auch Karin Henkel (Medea) mit weiteren kunstvollen und geistreichen Inszenierungen am Resi zu sehen wären.
Anerkennen möchte ich darüber hinaus die Präzision des Ensembles, den zweiten Akt exakt passend zum selben szenischen Verlauf des ersten Aktes zu spielen – nun jedoch aus einer anderen Perspektive.
Dass sich Andreas Beck als Intendant über die für alle anderen öffentlichen Gebäude beschlossene maximale 19 Grad-Regelung der Stadt München hinwegsetzt und den „Zuschauerraum im Residenztheater (…) ebenso beheizt wie in all den Jahren zuvor“ (Homepage des Residenztheaters) stößt mir in diesem Kontext umso mehr auf.
Die arkadische Priesterin Diotima scheint damals noch einen zweiten, nicht minder berühmten Schüler in Athen geworben zu halten, denn nur wenige Monate nach ihrer Tätigkeit in Athen führt der tragische Dichter Sophokles den Athenern eine Tragödie des Eros vor, jenes Gottes, dem Aischylos noch aus dem Weg gegangen ist. Es kann kaum Zufall sein, dass hier in sonst unerhörter Weise zu gleicher Zeit der Eros, die ewigen Ideen des Gerechten, die weibliche Autorität, verherrlicht werden. Auch Sophokles muss ein Hauch jenes Geistes berührt haben, als er dem Gott, der damals noch allgemeiner Verehrung ermangelte, in der Antigone jenen Hymnos dichtete :
"0 Eros. Allsieger im Kampf! Du. der liestürmt, wenn er bezwungen. Der nachts auf schlummernder Jungfrauen Zartblühenden Wangen webet:Hin übers Meer schweifst du. besuchst Hirtliche Wohnstätten ; Und kein ewiger Gott kann dir entrinnen. Knin sterblicher Mensch, des Tagres Sohn ; Und ergriffen rast er.
Im Blick der holdseligen Braut
Leuchtet der Sehnsucht Macht
Siegreich, thronend im Rath hoher Gesetze:
Denn nimmer bezwingbar übt ihr Spiel
Aphrodites Gottheit..."
.Und ist es ein Zufall, dass dieser Eros, der die Jungfrau ergreift, sie auch die ewigen Ideen des Rechts erkennen lässt ? Des Rechts, das nicht durch willkürliche Menschensatzung aufgedrängt wird, sondern das von Zeus kommt, das bei den Todesgöttern wohnt.
Es ist der Götter ungeschriebenes, ewiges Gesetz, „denn heute nicht und gestern erst. nein, alle Zeit lebt dies. und niemand wurde kund, seit wann es ist".
Dieser Eros führt zu der reinen Idee des "Zeus, dess Gewalt keiner bezwingen kann, die nimmer der Schlaf bändigt. In nie alternder Jugend wohnt er in Olympos lichtem strahlendem Glanz", als Köniog alles Ewigen. Dieser Eros lässt die Jungfrau das verehren, was im Hades, im Jenseits ist, sicher, nicht unbelohnt sich zu mühen. Nach eigener Wahl und lebend, wie sonst kein Sterblicher, wallt sie zu diesem Hades, und hat den „Ruhm, mit Göttergeschlecht das Geschick im Tode zu theilen-. So nimmt sie theil am Ueberseienden. „im Leben nicht heimisch noch im Tode..."