Das Schlangenei - Am Münchner Residenztheater bringt Anne Lenk Ingmar Bergmans Film auf die Bühne
Panisches Vergnügen
von Philipp Bovermann
München, 1. Oktober 2017. Die Verhältnisse sind unklar. Auf offener Straße schlachten sie Pferde, um ihr Fleisch zu verkaufen. Keiner weiß, wie es morgen weitergehen soll. Und dennoch könne man, so wird es am Ende des Abends ein Wissenschaftler sagen, wie bei einem Schlangenei durch die dünne Schale schon das vollständig ausgebildete Reptil sehen.
Es ist der Vorabend zum Hitler-Putsch im Jahr 1923, von dem sich die zeitgenössischen Journalisten offenbar bestens unterhalten fühlten. Einer schrieb damals seinem "geschätzten Leser", sollte dieser mal "eines Tages nach München reisen und an einem Bierkeller vorbeikommen, in dem gerade ein Putsch stattfindet, so rate ich ihm, hinzugehen". Bestes Theater werde da geboten, es gebe "Reden, Geschrei, patriotische Lieder und Bier", also all das, was auch in der gegenwärtigen Popkultur gut funktioniert.
Nun sind die Parallelen zwischen der Gegenwart und der Weimarer Republik oft bemüht worden. Aber während das sonst meist mit angeschalteter Alarmleuchte geschieht, macht Regisseurin Anne Lenk eine vom Surrealen umspielte Farce daraus. Das passt gut, der Surrealismus ist schließlich selbst ein Gewächs jener Zeit. Als Vorlage dient der gleichnamige Film von Ingmar Bergman, den er 1977 gedreht hat, als er sich vor den schwedischen Steuerbehörden und ihren – wie sich später herausstellte, falschen – Anschuldigungen in München versteckte. Die grotesken Momente gibt es auch dort schon zuhauf, wenn zum Beispiel ein Priester sagt, wir müssten "uns gegenseitig die Vergebung gewähren, die ein ferner Gott uns versagt" und dann eins seiner Schäfchen bittet, die gerade erhaltene Absolution möge sie doch nun auch ihm zurückgeben.
Žižek gefällt Trump
Lenk betont diese Aspekte und interpretiert damit Bergman so, wie Kafka zurzeit gern gelesen wird: als Komiker, und fügt noch dezent Zirkus-Humtata hinzu. Ein arbeitsloser Trapezkünstler ist nämlich die Hauptfigur. Er vertreibt sich seine Zeit und sein Geld mit Saufen und "Herumhuren", wie man das damals nannte. Dadurch verkörpert er einen Typus, der seine Unterwerfung unter die aufmarschierenden Faschisten vorbereitet, und genau das macht ihn aktuell so relevant, wenn Linke mit der Band K.I.Z. "Hurra, die Welt geht unter" singen und Slavoj Žižek groovy finden, der sagt, die Präsidentschaft Trump könnte langfristig ein Segen sein, denn dann knallt's wenigstens mal, und die historische Dialektik kommt in Schwung.
Auch Lenk findet diese Momente bei Bergman besonders interessant. Es ist der Trapezkünstler, ein Herr Abel Rosenberg, ein Jude, der den ersten Pflasterstein gegen das Schaufenster eines jüdischen Geschäfts schmeißt. Franz Pätzold spielt ihn derber als David Carradine im Film, als einen souveränen Zyniker. Seine Freundin schlägt vor, bei einer geplanten neuen Show ohne Netz zu arbeiten, "das hat viele Vorteile".
Das Berlin der Weimarer Republik, durch das sich Rosenberg schnäpselt, wirkt mit seiner panischen Vergnügungssucht und seinen labyrinthischen Archiven noch postmoderner als im Film. Zunächst stellt es sich auf der Bühne als ein langer, schwarzer Gang aus einzelnen schwarzen Wandteilen dar, von dessen Ende her uns einmal ein Licht entgegenstrahlt, aber so hell, dass es sich schmerzhaft in die Netzhaut frisst.
Irgendwann beginnt sich die Bühne zu drehen und gibt dadurch den Blick auf die Lücken zwischen den Wänden frei. Abel ist über eine sinistre Verschwörung gestolpert. Die Fädenzieher wollen der "Fehlkonstruktion" Mensch ein paar Updates verpassen, wobei sich das Menschenbild der Nazis und das heutiger "Trans-Humanisten" unangenehm nahe kommen.
Aber die allgegenwärtige Angst, die wie ein Gift in die Gesellschaft einsickert, vergeht hier nicht mit lautem Pistolenknall. Noch nicht. Der Münchener Hitler-Putsch scheitert. Sehr zufrieden über seine eigene Geistesklarheit winkt der trans-humanistische Wissenschaftler ab: "Die haben die Stärke der deutschen Demokratie unterschätzt." Es ist heute ein bisschen wie damals: Die Zeiten sind gruselig, aber immerhin wird in München gutes Theater gespielt.
Das Schlangenei
von Ingmar Bergman
Deutsch von Heiner Gimmler
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Sibylle Wallum, Musik: Jan Faszbender, Licht: Markus Schadel, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Franz Pätzold, Nora Buzalka, Oliver Nägele, Thomas Lettow, Ulrike Willenbacher, Wolfram Rupperti Hollinger, Alexander Breiter, Claudia Ellert (Vertikaltuch), Julien Feuillet, Rudolf Hamburg, Farah O´Bryant.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.residenztheater.de
Unser Autor war am Abend der Premiere aus unvorhersehbaren Gründen verhindert, die Aufführung zu besuchen. Die Kritik entstand daher nach Besuch der zweiten Vorstellung.
Kritikenrundschau
"Wie ein treffsicherer Kommentar zur Bundestagswahl" wirkt der Abend auf Egbert Tholl, der in der Süddeutschen Zeitung (2.10.2017) schreibt: "Lenks metaphorische Inszenierung ist nicht laut, sondern suggestiv. Es ist ein Unwohlsein in der Welt."
Mathias Hejny schreibt in der Münchner Abendzeitung (2.10.2017): Anne Lenk suche möglichst große Entfernung zur Vorlage Bergmans, doch drängten sich die Parallelen geradezu "lästig" auf. Die "starken visuellen Reize" vertrieben aufkommende Langeweile vor dem "Kluggemeinten und Offensichtlichen". Die Atmosphäre des Traumhaften verstärke sich durch Surreales. Dazwischen bewege sich Franz Pätzoldt mit "gewohnt prägnanter Präsenz".
Michael Schleicher schreibt im Münchner Merkur (2.10.2017): Der Regisseurin und ihrem "gut aufgelegten Ensemble" glücke ein "surrealer Albtraum". Unaufdringlich analysiere die Arbeit die "Gegenwart zwischen Wutbürgern und Protestwählern". Lenk setze "klug auf Reduktion und inszenatorische Strenge", sie entwickle einen "zwingenden Rhythmus aus Dialogen und berichtenden Passagen". Franz Pätzoldt spiele mit "enormer Präsenz".
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nachtkritikvorschau
Was mir jedoch sofort beim Lesen der Kritik ("Zunächst stellt es sich auf der Bühne als ein langer, schwarzer Gang aus einzelnen schwarzen Wandteilen dar, von dessen Ende her uns einmal ein Licht entgegenstrahlt, aber so hell, dass es sich schmerzhaft in die Netzhaut frisst")
und auch beim Betrachten des Bühnenbildfotos auffällt: erinnert auffällig an die Sommernachtstraum-Inszenierung von C. Mehler im Frühjahr 2016 in Augsburg.
Zufall?
Beste Grüße
B.Henning