Minetti - Residenztheater München
Im Schneesturm ins neue Jahr
29. Oktober 2023. Claus Peymanns "Minetti"-Inszenierung von 1976 gilt längst als Klassiker. Jetzt hat er Thomas Bernhards Suada eines misanthropischen alten Künstlers noch einmal inszeniert. Mit Manfred Zapatka, einer überraschenden Durchlässigkeit für die Gegenwart und feinem Theaterzauber.
Von Sascha Westphal
29. Oktober 2023. Wie viel Verachtung und Abscheu, aber auch wie viel Schmerz, wie viel Trauer und wie viel Enttäuschung in einem einzigen Wort liegen können. Es kann einem schwindelig werden. "Dinkelsbühl", immer wenn Manfred Zapatka den Namen dieser kleinen malerischen Stadt in Mittelfranken ausspricht, scheint sich ein Abgrund aufzutun. Mal dehnt er die Silben, als wollte er mit ihnen gleich auch den Ort selbst zermalmen, mal spuckt er sie aus, wie etwas Ekelerregendes, vielleicht sogar Giftiges, vor dem er sich schützen muss.
Jedes "Dinkelsbühl" wird in Claus Peymanns zweiter Inszenierung von Thomas Bernhards "Minetti" so zu einem Triumph tönender Theatralik, wie sie Bernhards egozentrische und misanthropische Figuren so sehr lieben. Zugleich ist es ein verzweifeltes Eingeständnis der eigenen Niederlage. Niemals wirkt Zapatkas Minetti, dieser von sich selbst berauschte Schauspieler und Künstlerwahnsinnige, so groß in seiner Tragik und so klein in seiner Lächerlichkeit wie in den Momenten, in denen er den Ort seiner selbstgewählten Verbannung verflucht.
Symbolische Verschiebungen
In diesem Nebeneinander der Gegensätze, die eigentlich unvereinbar sind und sich doch nicht voneinander trennen lassen, liegt die große Kunst der Bernhard'schen Texte und auch dieser Inszenierung, mit der Claus Peymann noch einmal zu dem Stück zurückgekehrt ist, das er im Herbst 1976 mit Bernhard Minetti in der Titelrolle uraufgeführt hat. Mittlerweile ist Peymann 86 Jahre alt. Seine einst gefeierte Theaterästhetik hat nun etwas Altmodisches. Sie scheint aus der Zeit gefallen zu sein, überholt von den Moden und Entwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Doch ganz so einfach und ganz so eindeutig ist es nicht.
Natürlich zelebrieren Peymann und Zapatka den Bernhard'schen Furor und Weltekel auf eine sehr klassische Weise. "Minetti", diese Tirade eines Künstlers gegen die Klassiker, ist längst selbst zu einem von ihnen geworden. Aber sie kämpfen auch gegen diese Musealisierung an. Das beginnt schon bei dem Raum, den Achim Freyer geschaffen hat. Er hat in den Marstall eine leicht erhöhte Bühne gebaut. Auf ihr steht eine Hotellobby, die mit ihren schwarzen, leicht spiegelnden Wänden und der viel zu hohen Empfangstheke eher an die Hölle aus Sartres "Geschlossene Gesellschaft" als an ein in die Jahre gekommenes Hotel in Ostende erinnert. Eine überaus faszinierende Verschiebung, die dem Stück alles Realistische austreibt und es auch visuell in die Nähe des Symbolismus‘ eines James Ensor rückt.
Minetti selbst spricht immer wieder von Ensor, der ihm vor mehr als dreißig Jahren eine "König Lear"-Maske angefertigt hat. Eben die Maske, in der er immer als Lear aufgetreten ist und die er nun in seinem großen Überseekoffer wie ein Heiligtum aufbewahrt. Peymann und Freyer nehmen diese Verweise auf den belgischen Künstler so ernst, dass sie eine Welt wie aus einem von Ensors Gemälden geschaffen haben. Eine Welt, in der sich das Bürgertum und seine postmodernen Urenkel als Gestalten einer Schreckensvision entlarven. Das gilt für die von Barbara Melzl gespielte Dame, die sich in dieser Silvesternacht heillos mit Champagner betäubt, ebenso wie für die maskierten Feiernden, die immer wieder durch die Lobby ziehen.
Welt aus den Fugen
Es ist eine Welt aus den Fugen, in der Manfred Zapatkas Künstler-Tyrann gestrandet ist. Eine Welt, die er nicht mehr versteht, gegen die er rebelliert und an der er doch nur scheitern kann. Die Trauer und die Wut, die Sehnsucht und die Lust, die in Zapatkas Blicken liegen, spiegeln die widerstreitenden Emotionen, die Ensor in Gemälden wie "Die Intrige", "Selbstbildnis inmitten von Masken" und "Der Tod und die Masken" auf Leinwand verewigt hat. Wie der Minetti des Stücks verzweifeln anscheinend auch Peymann, Freyer und Zapatka an der Gegenwart, und doch gibt es da ein schmerzliches und deswegen nur notdürftig verdrängtes Verlangen, Teil eben dieser Gegenwart zu sein.
So anachronistisch die Inszenierung in Teilen auch wirken mag, etwa im exaltierten, bewusst immer einen Pinselstrich zu dick auftragendem stummen Spiel Barbara Melzls, so durchlässig ist sie für das Heutige, das sich in Naffi Janhas neugieriger, für alles offener Darstellung des "Mädchens" offenbart. Janhas unaufgeregtes, ganz natürliches, von einer fast schon herzzerreißenden Sympathie für die Leiden Minettis getragenes Spiel setzt einen wunderbaren Kontrapunkt zu Melzls Aufgeregtheit, in der sich eine Angst vor dem Verschwinden manifestiert. Janhas Mädchen kennt diese Ängste (noch) nicht. Sie ist einfach da.
Als, wie es bei Bernhard heißt "junge Maskierte" durch die Halle ziehen, kokettieren Peymann und Freyer gezielt mit den Zeichen unserer Zeit. Die Gruppe ist ganz in Weiß gekleidet und trägt Schilder, die auf aktuelle Protestbewegungen anspielen. In ihren Treiben manifestiert sich eine Hoffnung und auch eine Unschuld, für die die Inszenierung eindeutig große Sympathien hat. Vielleicht gibt es doch noch einen Ausweg aus der Hölle, scheint dieser eine Moment zu sagen. Doch nur wenig später kehren diese Jungen desillusioniert und blutig zurück. Auch sie sind Eingeschlossene und gehen schließlich in der Masse der Feiernden auf, in der es für Minetti keinen Platz gibt.
Mit Theaterzauber
Etwas Zauberisches hat sich Claus Peymann auf jeden Fall bewahrt. Für das Nachspiel wird der Blick auf die Lobby von einem schwarzen Vorhang verdeckt, dessen obere Hälfte leicht durchsichtig ist. Die Maskierten, die hinter Minetti das neue Jahr feiern, werden zu einem grotesken Schattenspiel. Konfettikanonen simulieren ein Feuerwerk, das hier eindeutig höllische Züge trägt, während Manfred Zapatka einsam vor dem Vorhang auf Minettis Koffer sitzt und sich seine Maske aufsetzt. Eine Maske, die auf Lear und Ensor ebenso wie auf Edvard Munchs Gemälde "Der Schrei" verweist.
Schnee aus kleinen Stücken zerrissener Plastikfolie rieselt auf ihn herunter, und dann geht das Licht aus. Ein poetisches, zutiefst anrührendes Bild für den einsamen Tod eines alten Mannes, und doch noch vielmehr. In diesem Augenblick ist Zapatka nicht mehr nur Minetti, er wird zur Verkörperung des Todes selbst. Das Treiben hinter ihm mag weitergehen. Aber am Ende werden alle zu ihm kommen.
Minetti. Ein Porträt des Künstlers als alter Mann
von Thomas Bernhard
Regie: Claus Peymann, Bühnenbild, Lichtkonzept und Kostüme: Achim Freyer, Dramaturgie: Jutta Ferber, Mitarbeit Bühne: Moritz Nitsche, Mitarbeit Kostüme: Räy Lee, Licht: Gerrit Jurda, Musik und Sounddesign: Sebastian Sommer, Produktionsleitung: Miriam Lüttgemann.
Mit: Manfred Zapatka, Barbara Melzl, Naffie Janha, Mauro Nieswandt, Pujan Sadri, Hans Rittinger, Heinz Brenner, Susanne Popp, Nazzareno Putzolu, Oleg Tynkov, Petra Bösch-Brieden, Jannis Dege, Elias Emmert, Anna Funk, Peter Gratz, Marie Höhne, Sophia Jenny, Pascale Lacoste, Mauro Nieswandt, Nghia Nguyen, Hoang Phetnoi, Mica Socher.
Premiere am 28. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
"Eine Totenbeschwörung" hat Michael Skasa erlebt, wie er in der Zeit (2.11.2023) schreibt, "eine Revitalisierung der Stuttgarter Vorstellung von einst". Leicht belustigt berichtet er vom skurrilen "Seniorentreffen im Münchner Marstall", von dem er sich selbst nicht ausschließt: "auch der Autor dieses Textes, 81, applaudiert, wenngleich skeptisch, den kräftezehrenden Tiraden". Warum skeptisch? "Weil mit der Bewunderung doch auch die Frage hochsteigt, ob hier nicht Uropas Theater exhumiert wird."
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nachtkritikvorschau
Zapatka trägt mit seiner sprachlichen Kraft die schier endlosen Wiederholungen der Dinkelsbühl-Verachtung, in die sich Bernhards Figur wieder einmal hineinsteigert. Dass Claus Peymann, die selbsternannte Witwe von Thomas Bernhard, Regie führt, ist ein Garant dafür, dass der Abend den boshaft-schneidenden Ton des österreichischen Autors sehr genau trifft. Wie fremd dieser Ton manchen aus den jüngeren Generationen geworden ist, zeigte die irritierende Weinerlichkeit von Rosa Lembecks „Auslöschung“-Monolog am Ende des langen „Extinction“-Abends von Julien Gosselin an der Berliner Volksbühne.
Die Marstall-Inszenierung ist eine Einladung zur Reise in die Theatergeschichte: eine sehr vertraute Ästhetik, eine Langsamkeit, die streckenweise aus der Zeit gefallen wirkt. Museal wirkt der Abend dennoch nicht, dafür sorgt schon die ungeheure Vitalität von Zapatka in der Titelrolle. Dieser „Minetti“ hat fast fünf Jahrzehnte nach der Uraufführung, die Peymann in Stuttgart inszenierte, eine altmeisterliche Gegenwärtigkeit: Ein Ausflug in den Marstall fühlt sich an wie in eine „eigentümliche Zeitblase“, wie Egbert Tholl in der SZ treffend formulierte. Eine Zeitblase, in der prägende Theater-Handschriften ungeachtet aller Stilrichtungen und Moden unbeirrt überdauert haben.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/01/02/minetti-marstall-muenchen-theater-kritik/