Amphitryon - Staatstheater Nürnberg
Das "Ach" der Spielerfrau
27. März 2022. Die Geschichte des betrogenen Amphitryon ist auch eine Hymne an das menschliche Gefühl, um das uns sogar die Götter beneiden. Die Regisseurin Anne Lenk ist mit Heinrich von Kleists Lustspiel jetzt in die Welt der Fußballgötter gedribbelt.
Von Wolfgang Reitzammer
27. März 2022. Ach, Alkmene, was hast du dir nur dabei gedacht, als du – unwissend und hinterlistig getäuscht – mit dem Präsidenten des thebanischen Fußballverbands ins Bett gestiegen bist, während dein Mann, der berühmte Mittelstürmer Amphitryon, beim alles entscheidenden Endspiel der Weltmeisterschaft in Pharissa weilte, wo er mit drei Toren zum glänzenden Sieg beitrug? Hast du oberflächliche Spielerfrau nicht bemerkt, dass dir mit dem wertvollen Siegerpokal (im Original war es mal ein goldenes Diadem) ein X für ein U – oder besser: ein A für ein J – vorgemacht wurde?
Für die "Amphitryon"-Inszenierung im Nürnberger Staatstheater hat sich Anne Lenk, die 2020 und 2021 mit zwei Produktionen des Deutschen Theaters Berlin zum Berliner Theatertreffen geladen war, die Welt des Profi-Fußballs als (gewagte) Metapher einfallen lassen. Nun gut, auch da gibt es Fußball-Götter, die Dialektik von Schein und Sein spielt eine wesentliche Rolle und protziges Macho-Gehabe gehört zum Rollenmuster. Und wie sagte schon der legendäre schottische Fußballspieler Bill Shankly: "Einige Leute halten Fußball für eine Sache von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!"
Zwei Herren mit Rückennummer 10
Wenn es jedoch um die tragischen Aspekte dieses Lustspiels von Heinrich von Kleist geht, dann entspricht die Fallhöhe der weiblichen Hauptperson gerade mal den zehn Zentimetern ihrer goldenen Plateauschuhe. Denn diese Alkmene (Anna Klimovitskaya) erscheint im Dallas-Look der 1980er Jahre mit Blondie-Perücke, erst im altrosafarbenen Chiffon-Mini, dann im langen Kleid mit Push-Up-BH (Kostüme: Sibylle Wallum). Sie vermittelt etwas Objekthaftes und ist den Übergriffen des Jupiters schutzlos ausgeliefert. Erst als sie ahnt, dass mit ihr ein perfides Doppelspiel getrieben wird, als die Ungewissheiten der Wahrnehmung und auch bezüglich der eigenen Identität einsetzen, gewinnt sie an Profil und an weiblichem Me-Too-Selbstbewusstsein.
Ihr gegenüber stehen zwei Männer – ebenfalls mit blonder Perücke: der Ehemann Amphitryon (Sascha Tuxhorn) und der Göttervater Jupiter (Tjark Bernau), der auch als entrückter Olympier geliebt werden und als aus den Sternen herniedersteigender Liebhaber seine Lust-Befriedigung haben will.
Zwei Herren mit Rückennumer 10
Es macht ihm offensichtlich eine teuflische Freude, die Irdischen in völlige Verzweiflung über sich selbst und über ihre Beziehungen untereinander zu versetzen. Beiden Herren mangelt es ziemlich an Attraktivität in ihren graukarierten Sporthemden mit der Rückennummer 10, den kurzen Feinripp-Unterhosen und den weißen Sportsocken. Aber wer mit Bällen spielen kann, hat bei Frauen offensichtlich die besten Chancen.
Für den echten Amphitryon entwickelt sich schnell eine bei Fußballern eher selten anzutreffende Identitätskrise, frei nach dem Buchtitel von Richard David Precht "Wer bin ich und wenn ja, wie viele?" Ähnliches gilt für den Öffentlichkeits-Referenten Sosias (Janning Kahnert), der aber in utilitaristischer Diener-Mentalität gerne seinen Namen an den Gott Merkur (Yascha Finn Nolting) abgibt. Das kann auch die Beziehung zur handfesten Charis (Lea Sophie Salfeld) nicht dauerhaft beschädigen.
Blankvers und Doppelpass
Die Produktion war in Nürnberg schon seit zwei Jahren in Arbeit, nun hat man mit großen Pandemie-Pausen den Weg zur Premiere gefunden. Die Bühne von Judith Oswald mit vielfältig beweglichen Kassettenwänden, die sich auch trefflich als Video-Projektionsflächen eignen, erzeugt manchmal unruhigen Drehschwindel, wohl passend zu der Fake-Strategie der Götter.
Das Dramaturgie-Konzept, an dem neben der Regisseurin auch Gastdramaturgin Andrea Vilter mitgestrickt hat, macht teilweise Spaß, doch es knirscht auch ein bisschen, wenn sich Blankverse mit Doppelpass und Viererkette vermischen sollen. Rhetorik-Professor Walter Jens, der für sich zu Lebzeiten die Gleichzeitigkeit von Hochkultur und Fußball-Leidenschaft eingeräumt hat, hätte an dem verwirrenden Treiben womöglich seine Freude gehabt. Freundlicher Beifall des Publikums auf den Sitzplatz-Rängen.
Für Alkmene, der am Ende – ganz streng in Schwarz gekleidet – das berühmte Schlusswort ("Ach!") übrigbleibt, ist die Rolle als Leihmutter ein fragwürdiger Trost. Immerhin darf sich die thebanische Nationalmannschaft in circa 18 Jahren auf einen neuen Superstar namens Herkules freuen.
Amphitryon
Lustspiel von Heinrich von Kleist
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Sibylle Wallum, Dramaturgie: Andrea Vilter, Musik: Camill Jammal, Licht-Design: Tobias Krauß.
Mit: Sascha Tuxhorn, Tjark Bernau, Anna Klimovitskaya, Janning Kahnert, Yascha Finn Nol-ting, Lea Sophie Salfeld, Annette Büschelberger, Süheyla Ünlü, Justin Mühlenhardt, Aleksey Deliov.
Premiere: 26. März 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
Kritikenrundschau
"Das Kunststück Anne Lenks, bei allem stupendem Handwerk in der Schauspielführung, ist letztlich, wie federleicht und doch prägnant sie das Fluidum von Machtmissbrauch in ihre Inszenierung einwebt", zeigt sich Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (28.3.2022) beeindruckt. Die Pandemie-verschobene Inszenierung sei "so frisch und munter, als hätte sie sich eben erst daran gemacht", was auch am stark aufspielenden, "jeden Besuch dieser gescheiten Aufführung notwendig" machenden Ensemble liege.
"Anne Lenk schafft dabei eine quirlige Verwechslungskomödie, die nach einer nicht näher datierten Fußballweltmeisterschaft spielt. Was zunächst absurd klingt, entpuppt sich als ein schlauer Schachzug", so Kevin Haschke in der FAZ (29.3.2022). Jupiter verführe die irdische Alkmene in Gestalt ihres Gatten Amphitryon, dem Fußballspieler und Mannschaftskapitän mit der Trikotnummer 10. Der Betrogene versucht vergeblich, seine wahre Identität zu beweisen. Fazit: "Man merkt dem Ensemble seine Lust am Spiel mit den Falltüren an. (...) Dazu kommt eine von der Regie leichthändig geforderte Konzentration auf den Text. Insgesamt entsteht so eine rasante Inszenierung ohne Effekthascherei."
Die "gewisse frivole Energie" dieser Inszenierung könne man "schätzen oder nicht", schreibt Wolf Ebersberger in den Nürnberger Nachrichten (28.3.2022). Und auch wenn das "manchmal auch nur Klimbin" sei, zeige sie doch "wie geschickt die Regisseurin klassische Texte immer wieder in die Gegenwart" hole und "mit vielen kleinen Details" belebe. Dennoch: Lenk gebe "der Verwechslungskomödie keinen wirklich neuen Dreh", bleibe "oft nur albern".
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Neben dieser Alkmene und dieser Charis möchte man jedenfalls die junge Verona Feldbusch als moderne Feministin bezeichnen. Das kann in der aktuellen Zeit kein Versehen sein, wenn man sich entscheidet, Frauen so zu zeichnen. Oder es möchte eine Kritik an eben diesem Frauenbild sein und speist sich aus einer Verachtung den Frauen gegenüber, die sich entscheiden das Klischee der Fußballergattin zu leben?
Das wäre allerdings etwas billig und gemein solchen Frauen gegenüber. Schade. Eher ein verstörender Abend - meiner Meinung nach.