Dekameron - Gemeinsam mit dem Theater RambaZamba bauen Thomas Bo Nilsson und Julian Wolf Eicke am Berliner Ensemble eine sinnliche toskanische Erlebniswelt nach Boccaccio
Badeshorts und Buße
von Christian Rakow
Berlin, 2. Juni 2018. Für jeden Zuschauer gibt es zu Beginn eine kleine Ansteckblume von der Art, wie Bräutigame sie am Knopfloch zu tragen pflegen. Über diese Blume heißt es, wenn man in gut vier Stunden die Erlebniswelt des "Dekameron" wieder verlasse, möge man sie bitte zurückgeben. Denn sie sei "kostbar" und "von Hand gemacht".
Kostbar und liebevoll von Hand gemacht ist alles hier: diese gesamte Raumschöpfung, von ihrem kleinsten Detail bis in die größte Fassade. Das ist eigentlich immer so, wenn Thomas Bo Nilsson anrückt. Es gibt wenige Bühnenschöpfer, die einen derart sinnlich umfangen, gleich ob er mit trashigen Unterwelten aufwartet oder wie hier mit Puder, Plüsch und Porzellanimitat, mit Tiger-Skulpturen und Täubchen-Tellern in einem toskanischen Landidyll.
In der Hitze der Nacht
Seit Nilsson bei Signa ausgestiegen ist, hat er mit seinem Kompagnon Julian Wolf Eicke an der Berliner Schaubühne gearbeitet und wiederholt am Wiener Schauspielhaus. Fürs Berliner Ensemble baut er in Koproduktion mit dem integrativen Theater RambaZamba jetzt eine italienische Sommerfrische. In Anlehnung an Giovanni Boccaccios Erzählreigen "Das Dekameron".
Wobei Sommerfrische ist eigentlich irreführend. Es herrscht eine Gluthitze im komplett umgerüsteten Kleinen Haus des BE. Die Mitnahme von Wasserflaschen wird ausdrücklich empfohlen. Entkleiden darf man sich in manchen Szenen auch. Wem danach ist. Ein guter Teil der Schauspiel-Belegschaft des "Dekameron" läuft ohnehin halbnackt umher, in rosa Schlafgemächern oder auf verwinkelten Terrassen.
Boccaccios "Dekameron" hat als Klassiker der erotischen Literatur die Jahrhunderte überdauert, in eingekürzten Fassungen oder einschlägigen Filmchen. Dabei bietet das Original nicht nur Frivoles, sondern ein breites Bildnis der italienischen Frührenaissance um 1350. Die zehn jungen Frauen und Männer, die vor der Pest aus Florenz flüchten und sich in ihrem ländlichen Refugium an zehn Tagen mit jeweils zehn kürzeren und längeren Erzählungen die Zeit vertreiben, wissen viel von der Liebe zu fabulieren, aber ebenso: vom Laster der Mönche, von Lug und Trug und Tricks allerorten, vom großen Sündenregister im kleinen Alltäglichen.
Eintritt ab 18!
Nilsson und Eicke haben sich dem eigenen Bekunden nach an der finalen Erzählung von der Bäuerin Griselda orientiert, die vom Markgrafen Walter von Saluzzo verschiedenen sadistischen Prüfungen unterzogen wird, ehe dieser sie zur Frau nimmt. Und wer die Chance hat, Griselda (Ute Reintjes) an diesem Abend im BE ein wenig auszulauschen, wird Rudimente dieser Geschichte im Geschehen entdecken. Aber wie immer in solchen immersiven Welten in der Tradition von Signa verpasst man viele zentrale Informationen, lässt sich treiben, ist verloren, gerät dann wieder in ein aufploppendes Happening der unverfänglichen oder auch bizarren Sorte.
Dort im Kabuff legt gerade ein junger Kerl auf dem Sofa Buße ab; hier tanzt ein Spieler mit einer Zuschauerin eurythmisch zum Lobe der Filomena (einer der Erzählerinnen bei Boccaccio). Filomena selbst ist eine lebensgroße Puppe in schwelgerischem Spitzenkleid. Als Kammerzofen dieser im ganzen Raum verteilten Puppen schwirren Spieler von RambaZamba durchs Setting; adonishafte Diener sekundieren. Bei aller Lust an zweideutigen Anspielungen und Vorab-Warnhinweisen "Eintritt erst ab 18 Jahren!" bleibt das Dargebotene an diesem Premierennachmittag geradezu keusch, neckisch-freundschaftliche Tändelei.
Walter von Saluzzo habe das ganze Set aufgebaut, erfährt man hier und dort. Die angebeteten Puppen seien jüngst verstorbene und nunmehr plastinierte Gefährt*innen von Walter. Walter selbst streift in Person von BE-Veteran Peter Luppa durch die Gänge. Sterbenskrank. Die jungen Schauspieler geben an, sie seien als Schauspieler für diese Inszenierung im Landidyll gecastet worden.
Und spätestens das ist denn doch ein Schlenker zu viel. Der Backstage-Gag, in dem das gesamte Arrangement als Theater des Gurus Walter ausgewiesen wird, kommt der immersiven Sogerfahrung spröde in die Quere. Überhaupt sind Nilsson und Eicke an diesem Abend nicht sehr weit gekommen mit ihren inszenatorischen Ideen. Die Happenings, die ohnehin spärlich sind, zerlaufen, ohne einen kulminierenden Moment zu finden. Viel Zeit verstreicht bei zähem Warten, bis eine der Puppen mal wieder in die Seile gehängt und ordentlich drapiert ist. Und ein inhaltlicher Fokus über die zarte Lust am nekrophilen, leicht sadistischen Grusel und an der erotischen Koketterie hinaus will sich nicht auftun.
Träumerisch entrückt
Kann sein, das Ganze legt über die 21 Vorstellungstage, die hier angesetzt sind, narrativ und performativ noch zu. Viele Figuren wirken zur Premiere nicht gut ausgearbeitet. Selbstredend ist jede der vierstündigen Aufführungen in ihren Abläufen komplett verschieden.
Für den Moment aber muss man sagen: Großartig, dass das BE diese toskanische Installation möglich macht und zwei der genialsten Bühnenfinder unsere Tage wieder nach Berlin holt. Und großartig, dass RambaZamba mit der ersten Garde im Boot ist (u.a. Nele Winkler, Christian Behrend, Zora Schemm) und sich alles mit wundervoller Selbstverständlichkeit in einer träumerisch entrückten Gesamtstimmung findet. Aber der Rest ist nur artig, nicht groß, Atmosphäre ohne Ereignis. Eine blumige, "florale" Frühsommer-Caprice.
Dekameron
nach Giovanni Boccaccio
eine theatrale Installation von Thomas Bo Nilsson und Julian Wolf Eicke
In Koproduktion mit dem RambaZamba Theater und in Kooperation mit der Filmuniversität Konrad Wolf Babelsberg
Regie / Bühne / Kostüme: Thomas Bo Nilsson, Julian Wolf Eicke, Musik: Jacob Suske, Künstlerische Beratung: Clara Topic-Matutin.
Mit: Bishop, Christian Behrend, Susana AbdulMajid, Juan Corres Benito, Magdalena Bösch, Lioba Breitsprecher, Julian Wolf Eicke, Pierre Emö, Mario Gaulke, Robin Jentys, Franziska Kleinert, Jennifer Lau, Jens Lassak, Peter Luppa, Sebastian Urbanski, Lilly Menke, Pia Wurzer, Carlotta Monty Meyer, Michael Wittsack, Nele Winkler, Sebastian Rohrbach, Laurean Wagner, Marian Mutschlechner, Thomas Bo Nilsson, Rosario Noviello, Ute Reintjes, Zora Schemm, Annalena Thielemann.
Dauer: 4 Stunden, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
www.rambazamba-theater.de
"Bei aller immersiven Ungeübtheit und trotz feuchter Hitze, einer Duftmischung aus Urin, Schweiß und Billigparfüm hatte ich keine Mühe, das Theatererlebnis bei guter Laune durchzustehen", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online am 2.6.2018). Allerdings könnte das Gros der Darsteller*innen "in dem überkonstruierten oder absichtsvoll unüberblickbaren narrativen Gebilde (...) nicht in ihren Figuren reagieren, wenn man ihnen auf den Zahn fühlt, weil die Erzählung sofort in einer Sackgasse landet." Nur die Rambazambas "versuchten gar nicht erst ihre eigene Ratlosigkeit oder auch Müdigkeit irgendwie zu bemänteln, man kann sich prima mit ihnen über den getriebenen Aufwand freuen." Insgesamt sei "das Gewimmel von 28 Schauspielern und zehn Schaufensterpuppen bei dreißig Zuschauern zwar reich, aber man trifft schnell auf die immer selbe Grenze."
"Szenisch wirkt vieles (noch) recht oberflächlich und beliebigkeitsverdächtig, zumal bezogen auf die Textreferenz des Abends", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (4.6.2018). So etwas wie ein Plot erschließe sich nur, "wenn man ihn eigeninitiativ erfragt – und selbst dann lediglich in Bruchstücken. Wer nichts wissen will, erlebt einen selbstverschuldeten performativen Misserfolg. Und zwar einen durchschlagenden." Was indes "wirklich hervorragend" funktioniere, sei das Zusammenspiel mit den Akteuren des integrativen Berliner Theaters RambaZamba. "Die Darsteller selbst haben wirklich großen – und mitunter auch sehr infektiösen – Spaß an der Veranstaltung."
"Wenn man noch nie eine Produktion von Signa gesehen hat, noch nie eingetaucht ist in ihre erschreckend vereinnahmenden Unterwelten, noch nie in den Grenzbereich zwischen Rolle und Realität vorgedrungen ist, dann mag das ein sehr besonderes und sinnliches Theatererlebnis sein", sagt Barbara Behrendt im Kulturradio des rbb (4.6.2018). "Innerhalb der immersiven Kunst und der installativen theatralen Weltschöpfungen ist es jedoch eine schwächere, nicht gut durchdachte Arbeit – bisher, muss man sagen, denn in den nächsten vier Wochen kann sich womöglich noch einiges einspielen, täglich werden neue Geschichten aus dem Dekameron erzählt."
"Auf vier Stunden ist der Aufenthalt angelegt, nach drei Stunden hatte ich genug", berichtet Katrin Bettina Müller in der taz (25.6.2018). Genug: "Von Anleitungen, in der Rolle des Gärtners den Mann von Filomena zu verprügeln, von suchenden Darstellern, die 'Ist hier ein Sadist? Wir brauchen einen Sadisten!' unter die Besucher rufen, von den ständigen Ermahnungen, mich zu verbeugen, von hochtrabendem, mysteriösen Wortgeklingel."
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Die immer selben Fragen mit denen man hinter die Fassade schauen will - ich muss mir bald mal ein neues Lieblingstier überlegen, damit ich mal eine andere Geschichte erzählen kann. Die - mehr oder weniger latente - Erotik hat mich sehr an MEAT erinnert; mein Nachmittag wurde in der Darbietung auch durchaus explizit, allerdings wäre es (für mich) deutlich spannender, wenn die wollenden "Ehrengäste" mehr miteinbezogen werden könnten und nicht Schnaps kaufen geschickt würden (vgl. #3), wenn bemerkt wird, dass deren Grenzen nicht so einfach zu erreichen sind oder sie das Format schon zu gut kennen.
Diese Heterogenität der Zuschauerschaft ist gewiss schwer zu greifen und natürlich stürzt man sich dann lieber auf den älteren Herrn, der sich weigert einen anderen Mann zu umarmen - wenn man da aber nicht extrem auf der hut ist, dann werden beide Zuschauergruppen etwas verprellt. Oder soll jetzt diese Erwartung in mir gebrochen werden?
Ich hatte eine Begleitung - eine Kritik spricht diesen Aspekt an -, die noch nie in einer immersiven Performance war: Für sie war das alles sehr spannend und neu; sie beschrieb mir aber auch, das sie immer wieder daran gehindert wurde das Zimmer zu verlassen. Es sind so Kleinigkeiten wegen denen kein insgesamt rundes Bild in mir aufkommen mag.
Gleichzeitig schreibt Thomas Bo Nilson auf Facebook, dass sie eine veränderte demographische Zusammensetzung des Publikums im Vergleich zu ihren sonstigen Performances wahrnehmen und dass dadurch bestimmte Sachen anders wahrgenommen werden. Ach! Zumindest in meiner Vorstellung hatte ich das Problem ja genau andersherum wahrgenommen.
Auch wird erwähnt, dass wohl einige die Darsteller des RambaZamba nicht so ganz ernst nehmen - was mich sehr ärgert.
post scriptum: Erlaube ich mir den Spaß, "Greifswalder Straße und Dekameron" zu googeln, einfach so, noch dem "Try out" verpflichtet, erfahre ich ua. zB. von einem Lesemarathon, der zum "Decamarone" in der Greifswalder Straße 8 am 1.3.2018 statt hatte; Stimmen von Personen beispielsweise, die (zufällig) beide Abende erlebt haben, würden mich sehr interessieren.