Der Mann ohne Vergangenheit - Dimiter Gotscheff zieht Aki Kaurismäkis Film komödiantisch die Mundwinkel herunter
Der Leib eine Schwiele, das Leben ein Kreuz
von Anne Peter
Berlin, 17. Dezember 2010. Es ist nun einmal die Zeit der frommen Sprüche. Doch jenes "Geben ist seliger als nehmen" passt nicht nur wunderbar in die Vorweihnachtszeit, sondern markiert auch treffend die moralische Deutlichkeit, die Dimiter Gotscheff mit seiner Adaption von Aki Kaurismäkis filmischem Kleinod "Der Mann ohne Vergangenheit" von 2002 verfolgt. Bei Almut Zilcher, die die Heilsarmistin Irma spielt, reiht sich der Satz in eine Reihe ähnlich gearteter Bibel-Sprüchlein ein, die Gotscheff seiner Version hinzufügt hat und in der natürlich auch das Kamel, der Reiche und das Nadelöhr nicht fehlen dürfen. Denkbar holzhammermäßig bringt er also die mit diesen frohen Botschaften beabsichtigte Anklage der bösen Ausbeuter unters Publikumsvolk.
Bei Kaurismäki ging das alles noch weniger deutlich und eindeutig ab. Der finnische Großmeister, der u.a. mehrmals aus politischen Gründen die Teilnahme am Auslands-Oscar-Wettbewerb verweigerte, erzählt in "Der Mann ohne Vergangenheit" die wundersame Geschichte eines Metallarbeiters, der eines nachts mit dem Zug in Helsinki ankommt und dort so brutal zusammengeschlagen wird, dass er sein Gedächtnis und um ein Haar sein Leben verliert – und dadurch gleichsam ein neues Leben gewinnt. Im Hafenviertel beginnt er unter Obdachlosen und armen Containerbewohnern noch einmal von vorn, jobbt bei der Heilsarmee, möbelt deren Kapelle auf, gerät in einen skurril-traurigen Banküberfall und erfährt gen Ende, dass er eine Frau bzw. Ex-Frau hat, was das Happy End mit Irma allerdings nicht aufhalten kann.
Kuschelecken im Plastetüten-Prekariatsuniversum
In Kaurismäkis Film war die Ex-Ehefrau keine so platt blöde, Finnland-selige Spießerin, wie sie es nun bei Gotscheff ist. Dort konnte man auch noch Mitleid haben mit dem kläglich um jeden Cent feilschenden Wachmann und Vermieter Attila, während er bei dem schmierig umher scharwenzelnden Michael Schweighöfer zur holzschnittigen Karikatur verkommt. Und obwohl nahezu unterunterbrochen und ziemlich gut Musik gemacht wird, vom finnischen Tango über plingelnden Walzer bis zu Angerocktem, lässt einen die mit über zwei Stunden arg zerdehnte Veranstaltung eigenartig kalt.
Gotscheffs Leib-und-Magen-Bühnenbildnerin Katrin Brack hat wieder eines ihrer Ein-Symbol-Bühnenbilder vor leerem Rundhorizont entworfen und macht aus dem Hafenviertel ein Viel-Taschen-Reich, ein Plastetüten-Prekariatsuniversum, wo man sich zum gemütlichen Jukebox-Hören im Container schon mal zu viert in eine jener robusten Großtaschen quetscht.
Vermutlich schwebte Gotscheff ein ankläglerischer Randfiguren-Reigen vor. Man raucht viel, steht noch mehr herum, und in alkoholisiertem Zustand schwankt man dann. Wolfram Koch zieht seinem Mann ohne Namen und Vergangenheit die Mundwinkeln herab und schaut unter tiefer gelegten Augenbrauen hervor, wortkarg und in der Mimik stoisch. Gemessen an der Wärmestrahlung des Films, schaut Gotscheff insgesamt distanziert, kaum liebevoll auf diese Gestalten der Peripherie. Wie verstellt scheint die Empathie auch dadurch, dass er Kaurismäkis Hafensiedlungs-Individuen weitgehend in einem lose gruppierten Kollektiv auflöst. Und wenn Gotscheff-Stammspieler Samuel Finzi im pinken Glitzer-Pailletten-Fummel lustig mit den Clowns-Augen rollt, tuntig seine Perücken-Strähnen zurückwirft und an der von Brack mitten im Bühnenbild platzierten Straßenlaterne turnt, gibt er seine Figur weitgehend der Lächerlichkeit preis.
Ungelenke Avancen
Überhaupt schubst der Regisseur einiges unnötig grob in Richtung Komödie, was die zurückgenommene Komik von Kaurismäkis absurden Minimal-Dialogen unangenehm übertönt. Dem Vergleich zum Film kann die Inszenierung nicht entgehen – auch wenn sie sichtbar bemüht ist, diesen nicht einfach nachzustellen, sondern Verfremdungen einzubauen, Assoziationen anzulagern. Da werden etwa lange, poetische Regieanweisungen (aus dem Drehbuch?) eingestreut. Aus Kaurismäkis leise zauberhaftem Märchen macht Gotscheff eine leer dröhnende Sozialparabel, die überdeutlich herausposaunt, was im Film sehr subtil mitläuft.
Dass hier etwa eine Auferstehungsgeschichte erzählt wird, in der sowohl christliche Symbolik als auch die Heilsarmee eine gewisse Rolle spielt, unterstreichen die immer wieder zwischengeschalteten christlichen Lieder und Bibel-Verse, die gemeinsam gesungen oder von Zilcher aufgesagt werden. Die Sozialanklage wird mit Zusatztexten unterfüttert (Margit Bendokat: "Hände wie Reibeisen. Hornhaut an den Knien. Der Leib eine Schwiele"). Der Hund des geldgierigen Vermieters wird bei Andreas Döhler zur Unterwürfigkeitsfigur, die seinem Herrchen die Hand leckt und ihm die Geldscheine herbeibringt wie das weggeschleuderte Stöckchen. Und während sich Kati Outinens Film-Irma unendlich schüchtern den rührend ungelenken Avancen des namenlosen Mannes ergibt und minimalistischste Mimikveränderungen einen ganzen Herzensumschwung erahnen lassen, spielt Almut Zilcher alles Stocken und Stottern, jeden Verliebtheits-Verhaspler und Verlegenheitsblick mit dickem Ausrufezeichen.
Diesen Figuren haftet kein Zauber an, und wenn sie schweigen – was sie des Öfteren tun –, knistert kein Geheimnis, sondern wallt Langeweile durchs Parkett. So bleibt für den "Mann ohne Vergangenheit" der Griff ins DVD-Regal letztlich die bessere Alternative.
Der Mann ohne Vergangenheit
von Aki Kaurismäki
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Ellen Hofmann, Komposition und Einstudierung: Alexander Dafov / Simon Jakob Drees, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Harald Baumgartner, Margit Bendokat, Andreas Döhler, Samuel Finzi, Wolfram Koch, Michael Schweighöfer, Almut Zilcher. Musiker: Simon Jakob Drees, Tobias Morgenstern, Scott White, Xell.
www.deutschestheater.de
Alles über Dimiter Gotscheff auf nachtkritik.de im Lexikon.
Man merke Gotscheffs Inszenierung das Bewusstsein für die Fallen der Vorlage deutlich an, so Christine Wahl im Tagesspiegel (19.12.2010). "Um drohenden Sozialkitsch zu vermeiden, sind die prekären Existenzen aus der Containersiedlung niemals ausschließlich warmherzige Individuen." Zweifellos leisten Gotscheff und seine Schauspieler an diesem zweistündigen Abend viel szenische Detailarbeit, "mal lauter und mal leiser, mal kabarettistischer und mal ausdifferenzierter, mal lustiger und mal zäher". Aber über mildhumorige Unterhaltsamkeit kommt der Abend, der auch so seine Längen hat, nicht hinaus.
"Es gibt Theaterabende, die genauso sind, wie man sie sich erhofft; Theater, das nur aus Sprache, Raum, Körpern und Musik besteht, in dem die Bühne beinahe leer, der Kopf der Zuschauer aber voller Bilder ist", findet dagegen Julia Encke in der FAZ Sonntagszeitung (19.12.2010). Gotscheff-Theater sei Schauspieler-Theater ohne Technikpomp, Requisitenplunder und Staffage: "Stoßen die Figuren mit Schnaps an, heben sie ihre imaginären Gläschen. Fährt ein Unternehmer mit dem Auto davon, geht er, die Hände am unsichtbaren Lenkrad." Lächerlich wirke das Prekäre der menschlichen Existenz, von der hier erzählt wird, dabei jedoch nie. "Immer neu und anders hallt es wider im groß angelegten Echoraum. Es gibt Inszenierungen, die wie Gefängnisse sind. Bei Gotscheff erfährt man als Zuschauer die größtmögliche Freiheit."
Gotscheff habe den vielfach ausgezeichneten Kaurismäki-Film in einige poetische Theatertableaus umgeformt, so Eberhard Spreng im Deutschlandfunk Kultur vom Tage (18.12.2010). "Es fehlt nicht an netten schauspielerischen Miniaturen, auch nicht an atmosphärisch dichten Passagen, aber sie sind verstreut wie eine Nummernfolge, in der der Erzählfaden verloren geht." Gelegentlich verlassen die Figuren für Momente ihre Rolle und geben kurze philosophische Diskurse oder Bibelzitate von sich, aber auch die gehen in der losen Sammlung szenischer Momentaufnahmen verloren und verschaffen den Akteuren keine zusätzliche Tiefe. "Eine Reise nach Helsinki und zu den verschrobenen immerfort rauchenden und oft trinkenden Kaurismäki-Originalen der finnischen Hauptstadt kommt so nicht zustande."
"Finzi und Koch sind großartige Schauspieler, leider wissen sie das. Also spielen sie mit all ihren narzisstischen Möglichkeiten zwei Männer, die so unnahbar sind wie nur irgend möglich", schreibt Jürgen Otten angesichts des "Sollen wir uns schlagen?"-Dialogs in der Frankfurter Rundschau (20.12.2010). Den Männern, die diesen Dialog in Kaurismäkis Film sprechen, eigne "eine rührende, fast amateurhafte Authentizität. Diese Männer benötigen kein Bild von sich (...). Sie haben eine Distanz zu diesem Bild. Denn sie sind tatsächlich so. Und sie können auch gar nicht anders." Solche Männer gebe es in Finnland wirklich (allerdings: "nicht alle sind so"): "Jedes Wort, das sie sprechen, ist Untertreibung, Verdrängung, Sub- und Kontext. Und genau das ist es, was Kaurismäkis Filme so einzigartig hinreißend macht. Die Bilder erzählen das, was die Worte nicht sagen." Damit komme Gotscheff nicht zurecht. Er versuche "mit Macht, in die Geschichte eine zweite, theatral wie politisch wirksame Ebene einzuziehen", die dem Ganzen eine "kapitalismus- und religionskritische Moral" beimenge. "Und genau das geht kolossal schief." Das fange schon mit dem Bühnenbild an. "Was bei Kaurismäki ungemein poetisch ist, wirkt hier einfach nur bemüht." Der Abend präsentiere "eine Zirkusnummer nach der anderen. Manchmal ist es lustig, meistens albern, selten skurril."
"Rätselhaft" erscheint Matthias Heine von der Welt (20.12.2010) zunächst, was ausgerechnet Gotscheff an Kaurismäki und seinem Stoff interessiert haben könnte. Das Verbindende liege wohl darin, dass Finnland "als das osteuropäischste Land Nordeuropas" gilt. Auf der Bühne sehe man nun "schnauzbärtige Klischees, aber solche, die man lieben soll". Kaurismäki sei so etwas wie ein Anti-Brecht (bzw. Anti-Müller), "ein mild berauschendes Gegengift zu allen Zynismen. Bei ihm macht Armut nicht gemein, sondern gut." Kaurismäki glaube, anders als Brecht und Müller, "dass es innerhalb der Trostlosigkeit der Systeme noch Entscheidungsmöglichkeiten zur Güte gibt". Almut Zilcher schneide im "Direktvergleich mit Kaurismäkis ewiger Anti-Diva Kati Outinen (...) sehr, sehr ehrenhaft ab". Für Heine macht diese Aufführung "anschaulich, wie bühnenhaft Kaurismäkis Filme sind. Die Darsteller sind so virtuos wie immer bei Gotscheff, aber viel entspannter. Man sieht ihnen gern zu, es gibt was zu lachen, man lernt etwas und hinterher kann man sich mit gnadenlosen Hardcore-Brechtianern darüber streiten, ob Kaurismäki nicht die gesellschaftlichen Widersprüche verkitscht."
"Es funktioniert nicht alles, aber einiges an diesem Theaterabend", findet Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (20.12.2010) und führt als Beispiel des Funktionierens das Katrin Bracks Bühnenbild an. In solchen Plastiktaschen transportierten normalerweise Händler und Schmuggler ihre Billigwaren, "diese Taschen sind die Container der Graswurzel-Globalisierung". Ein großer Moment sei es, wenn Koch als M. in seine Tasche einzieht und vier ausgewachsene Männer zur Einweihungsparty lädt, hier zeige sich "ein klares unsentimentales, ja, sehr lustiges Theaterbild von Armut, Not und jener lebensbejahenden Bescheidenheit, von der Kaurismäkis Filme erzählen". Auch die Kapelle helfe durch den Abend. Gotscheff und seine Spieler wollten "natürlich nicht den Film kopieren, sondern eine eigene Sprache finden" und näherten sich von zwei Seiten: "mit Pathos und mit Humor". Von den Schauspielern zeigt sich Seidler ziemlich angetan, doch "was dem Abend fehlt, ist der Bezug zur Wirklichkeit. Die interessiert Gotscheff offenbar nicht." Das alles sei "reine und feine Kunst, (...) ein schöner, leicht gedehnter Abend - ein Abend von großzügiger Unbekümmertheit, die allerdings seltsam unangebracht wirkt".
Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (20.12.2010) hat Finnen gesehen, die "unter so seltsamen wie anrührenden Verrenkungen versuchen, ihre Würde zu bewahren". Gotscheff übersetze Kaurismäkis Film "in ziemlich lässiges Theater". "Statt Sozialnaturalismus" gebe es hier "freies Spiel, statt Elendsbebilderung eine melancholische Clowneske". Kochs Mann ohne Vergangenheit sei, "anders als bei Kaurismäki, kein schwerer Brüter und wortkarger Stoiker, sondern ein schmaler Mensch, der sich wach und etwas verloren durch das Leben tastet", mit dem "traurigen Charme eines einsamen Straßenhundes". Dazu sorge Finzi "für komödiantische Leichtigkeit und Spielfreude".
Gotscheff schicke seine Figuren "in eine Welt heiter-resignativer Absurdität", schreibt Simone Kaempf in der taz-Berlin (20.12.2010). Dieses "Typenarsenal" führt er in "eine Reihung skurriler Ereignisse und Stationen, wie man sie auch aus dem Film kennt". Das Bühnenbild hingegen behaupte "weniger die Fantastik des Zufalls als Prekariatselend" behauptet. In Kaurismäkis Film reichten Blicke, "um ohne Dialog alles zu sagen. Bei Gotscheff überrascht es und wirkt fast fehl am Platz. Seine Stärke liegt auch dieses Mal wieder in der Schaffung eines Mentalitätsraums: eine Zwangsgemeinschaft, aufeinander angewiesen und gleichzeitig entsolidarisiert." Am Ende sei alles "dick aufgetragen: die Musik, das sich in die Länge ziehende Happy End, das Spiel mit der Verkleidung". Am ehesten erzählten noch die Plastiktaschen von Verwandlungsfähigkeit. Sie sind Schwitzstube, Umkleidekabine, Rettungsboot - "wie sich die Natur des bunten Plastiks suggestiv verändert, das sind kleine Kunststückchen, die den Abend insgesamt aber nicht verzaubern. Dazu artet die Spiellaune immer wieder allzu nervig aus." Der Witz, der hier als "Prinzip des Widerstands gegen die Verwirrungen des Lebens" benutzt werde, "drängt sich immer mehr in den Vordergrund, raubt der Inszenierung schließlich mehr Kraft, als er Bedeutung zurückgeben kann".
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Diese (...) nichtssagenden Kritiken (...) sind mir zuwider.
Wo war die gute Frau, hat sie nichts von dem Witz gemerkt. Aber vielleicht war das alles zu nordisch Südländisch (...)
Anne Peter, (...) erklärt haben Sie nichts und das zumindest sollte eine Kritikerin können.
Am besten man liest all dieses Geschreibsel nicht mehr.
Hochachtung vor Finzi (super Frau, man die Waden, unglaublich, Koch, Bendokat, Zilcher (hat doch was von Marianne Faithful mit den blonden Haaren, wirkt nur unwahrscheinlich viel jünger, Schweighöfer und vor allem an den ewig verschmitzten Gotscheff.
Ein toller Abend!
Olaf
Ich hatte für die Premiere eine Karte, verwechselte aber die Uhrzeit und ging von einem späteren Beginn aus, so dass ich die Aufführung verpasste. Der Abend war für mich verdorben.
Ihre Kritik gestern hat den Abend jedoch rückwirkend gerettet. Im Vertrauen auf Ihren Geschmack und Ihre Kritikfähigkeit habe ich nun das Gefühl, dass mir eine langweilige Inszenierung erspart geblieben ist. Einige Kommentatoren scheinen Ihnen ja Recht zu geben.
Nun gibt es aber einen Grund, warum der Roman viel häufiger im Theater adaptiert wid als der Film. Film und Thater stehen sich viel näher als Theater und Roman, arbeiten sie doch mit einer Reihe der gleichen Ausdruckselemente: Die Verbindung als Bild und Text, Darstellung und zeitlich gebundener Erzählung, auch das Element des Schauspiels finden sich in beiden Gattungen. Schafft die Transponierung eines geschriebenen Textes auf die Bühne bereits automatisch etwas Neues, ist das bei Filmstoffen viel schwieriger zu bewerkstellen, sollen sie mehr sein als eine bloße Nachstellung der Vorlage.
Es gilt also, dem Stoff etwas Neues abzugewinnen, zusätzliche thematische Aspekte, eine andere Interpretation oder schlicht eine neue Erzählweise. Gotscheff hat das bei seinem Godard-Abend versucht, in dem er den Film als Ausgangspunkt einer collagenhaften Auseinandersetzung mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Themen und generell der Möglichkeit, Unmöglichkeit und Sinnhaftigkeit revolutionären Handels genommen hat.
Bei Kaurimäkis Stoff fiel ihm leider nur wenig ein. So kippt er die Geschichte ins Komische. Wo Kaurismäki auf die stille Ironie der nicht selten absurden menschlichen Existenz setzt findet Gotscheff brachialere Komik bis hin zu Slapstickhaften. Das funktioniert teilweise ganz gut, etwa wenn die Figuren saunieren, ihre die Saunen andeutenden Stofftaschen öffnen und erst einmal Dampfwolken über die Bühne wabern. Andere Male jedoch kollidiert der simple Slapstick ungebremst mit der stoischen Lakonik Wolfram Kochs und bringt beide zu Fall.
Ohnehin krankt der Abend an seiner Uneinheitlichkeit. Während Koch ganz nah an Markku Peltolas stoischer Lakonik bleibt, lädt Almut Zilcher ihre Irma mit einer viel zu lauten, überdeutlichen, fast agressiven Nervosität auf, die jegliche Annäherung beider Protagonisten zur bloßen Behauptung verkümmern lässt. hat Katrin Brack eine Bühne gebaut, die gewollt antinaturalistisch ist und den Containerpark mit den bereits erwähnten bunten Riesenstofftaschen ersetzt, erzählt Gotscheff die Geschichte streng chronologisch herunter. Wo die Bühne also die Emanzipation von der Filmvorlage sucht, biedert sich der Erzählstil jener wiederum an. Zudem geraten Gotscheff die Figuren, zu holzschnittartig eindimensional, was zum Slapstickhaften passt, die für Kaurismäki charakteristische Mischung aus Melancholie und leider, verschämter Hoffnung, die vor allem Koch verkörpert, über weite Strecken erstickt.
Zudem trägt Gotscheff dick auf, wo Kaurismäki nur andeutet. Immer wieder eingeschobene Bibelzitate und kirchliche Gesänge sollen wohl Irmas Rolle als Heilsarmistin betonen, vor allem aber den Aspekt einer Wiederauferstehung, der sich auch bei Kaurismäki findet. Gotscheff tut beides mit dem Holzhammer und nimmt ihm dadurch viel von seiner Wirkung.
Und so plätschert der viel zu lange Abend dahin, bietet ein paar schöne Tableaus, etwa, wenn Irma und der namenlose Protagonist nebeneinadnersitzen, zaghaft Zukunftspläne entwickelt und die anderen Figuren es ihnen nachtun, jeder für sich. Das sind jedoch nur Momente, bevor das Stück wieder auseinanderbricht und träge dahinkriecht, ohne roten Faden und ohne die Frage zu beantworten, warum diese Inszenierung überhaupt entstanden ist. Und so ist auch das Schlussbild, bei dem Irma und der sich seiner Identität wieder bewusste Protagonist nebeineinander sitzen und in die (gemeinsame?) Zukunft schauen, ein passendes Bild für den gesamten Abend. Lädt Kaurismäki dies noch auf mit Sehnsucht und Hoffnung, tut sich bei Gotscheff gar nichts. Da sitzen die beiden einfach nur nebeneinander. Sonst nichts.
http://stage-and-screen.blogspot.com/
Zudem graust's mir immer ein wenig davor, wenn mir jemand (und dann noch ein bekannter Schauspieler) suggerieren will, dass das Leben ja so schrecklich unsicher sei und ich deswegen unbedingt diese Versicherung abschließen müsste, um meinen Lifestyle zu komplettieren. Gegen unvorhergesehene Risiken des Lebens kann man sich nun aber einfach mal nicht absichern. Wie es sich ja auch im "Mann ohne Vergangenheit" zeigt. Und das muss nicht unbedingt in der Tragödie enden. Denn "wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren." (Benjamin Franklin)
Zum Schluss noch ein Lesetipp für dich, wenn du magst, in Bezug auf das Thema Kulturkapitalismus:
"Branding [...] ist simpel und kompliziert zugleich. Man markiert ein Produkt - oder gleich den ganzen Konzern - mit einem Image, Werten, Tugenden, Sehnsüchten. Etwa mit Freiheit [oder hier: Sicherheit], mit Lebenslust, mit Gesundheit, mit roher Kraft, mit Natürlichkeit, mit Abenteuergeist, was auch immer - man kann sagen, mit irgendeinem 'Anderen' des Kapitalismus, mit dem Gegenteil von berechnender Geschäftstüchtigkeit."
Gratuliere übrigens, die Firma ERGO hat deinen Bewusstseinsanteil (neben dem Marktanteil) offenbar bereits gewonnen. Du hast dich voll mit Finzis sanfter Vortragsweise identifiziert und kaufst dir diese Versicherungspolice jetzt möglicherweise allein aus diesem Grund.
Was ich damit sagen möchte: Bitte schreib doch noch ein wenig mehr zur Inszenierung - ich habe sie nämlich noch nicht gesehen. Finzis private Werbe-Maßnahmen interessieren in diesem Kontext nicht.
In Zeiten der Budgetkürzungen im Bereich Kultur, sollte man (oder auch frau) nicht auf Grund eines unbefriedigenden (auch mehrerer) Theaterabends - was ja auch zum großen Teil eine sehr persönliche Wahrnehmung ist - die Schließung eines Hauses als positiven Schritt darstellen. Bei allem gerechtfertigtem Frust - bitte nicht.
Bestehen sie auf gute Kunst und niemand wird diese wirklich verkürzen können.
den klang mit hinauf nehmen und dort weiter ertragen
auch zu-hauen kann eine kunst sein
expressive re-duktion + humor
ex-plusionen (nichtim-plusion) mit leichtigkeit
ich klaube (+ klaue) finzi jetzt nichts-meer
er ist kein mensch
er isst schauspieler
ein mensch kann auch geld-sorg-gern haben
Almut Zilcher (she is always on(in) my mind)
wünsche ich
alles Gute
für das Jahr 2O11
Manche Spiel-Passagen ziehen sich in meiner Wahrnehmung zu lang hin. Und die Schaffung theatraler surrealer Bilder - auch über die (Nach-)Erzählung der Darsteller und damit über die Imagination der Zuschauer - hinkt den filmischen Bildern leider hinterher.
Gleichwohl gibt es einige besonders gelungene Szenen, zum Beispiel:
Margit Bendokat mit der spröden Durchschlagskraft ihrer Argumente. Wie sie die trinkenden Männer zunächst skeptisch und zugleich wissend beobachtet, um sie dann mit einem kurzen und knappen "Idioten!" in die Schranken zu weisen. Lakonischer Feminismus.
Die Sauna-Szene, in welcher Wolfram Koch vergeblich nach dem Weg zum Sozialamt fragt. Niemand weiss es, niemand will es wissen. Das persönliche Glück hängt hier offenbar nicht (mehr) davon ab, eine Arbeit zu haben. Vielleicht auch ein Hinweis auf das mögliche Ende der Arbeitsgesellschaft bzw. die zu hinterfragende Definition des Menschen allein über den Arbeitsbegriff.
Samuel Finzi als stoische Bankangestellte, welche den Überfall eines bankrotten Immobilienhändlers (Harald Baumgartner) einfach geschehen lässt. So wird für die auf ihren Lohn wartenden Arbeiter alltagspraktisch Gerechtigkeit geschaffen. Ganz ohne abstrakte revolutionäre Ideologie.
Almut Zilcher als naiv gläubige Heilsarmistin Irma, welche an ihrer Vorstellung der Liebe festhält, trotz zwischenzeitlicher Rückschläge. Wie sie sich selbst in der größten Verzweiflung über das Singen eines Lovesongs zum Weitermachen zwingt, darin zeigt sich die wahre Größe. Den Schmerz zu spüren, und die Hoffnung doch nicht aufzugeben. Am Ende wird ihr Traum von der Liebe Realität. Kann die Kunst uns die Kierkegaardsche Angst nehmen und sie als "grundlos" zurückweisen?
Irgendwann ruft Margit Bendokat diesen Satz aus, nachdem sich die finnischen Männer ihrer Lieblingsbeschäftigung dem Alkoholtrinken hingegeben haben. Die Männer kommen in Aki Kaurismäkis Filmen nie besonders gut weg. Meist steuern sie stoisch schweigend aber konsequent irgendeiner unaufhaltsamen Katastrophe entgegen. Das geschieht aber nie ohne einen Anflug von Komik. Kaurismäkis Filme zeichnen sich durch eine recht undramatische Handlung mit sparsamen Dialogen aus, das dicke Ende kommt meist zum Schluss. Vom Neorealismus beeinflusst, entwickelt er seine minimalistischen Einstellungen ähnlich den Filmen von Jim Jarmusch in unspektakulären schwarz-weiß Bildern. Kaurismäki ist ein unverbesserlicher Pessimist mit einem lachenden Auge. Man nennt das wohl Melancholie, er bezeichnet sich selbst eher als manisch depressiv. Um so verwunderlicher, dass er mit dem Film „Der Mann ohne Vergangenheit“ ein Märchen vom Rande der Gesellschaft mit einem kleinen Happy End in zarten, farbigen Bildern gemalt hat.
Ein Mann wird brutal zusammengeschlagen, verliert dabei sein Gedächtnis und muss in einer Containersiedlung unter lauter verkrachten Existenzen ein neues Leben beginnen. Das gelingt ihm trotz der Knüppel, die dem Namenlosem durch die gesellschaftlichen Institutionen wie Kirche, Arbeitsamt und Bank immer wieder zwischen die Beine geworfen werden, mit Hilfe der Solidarität der anderen Containerbewohner und eigener Beharrlichkeit. Der Film ist eine Art Stationendrama, ein Glaube-Liebe-Hoffnung-Stoff auf finnisch und durchaus geeignet für die Umsetzung auf der Theaterbühne. Dimiter Gotscheff versucht sich nun nach „Die Chinesin“ von Godard, einem Vorbild Kaurismäkis, mit seiner zweiten Filmadaption in dieser Spielzeit. Das Ergebnis ist leider ernüchternd. Stephan Kimmig ist bereits mit dem Kaursismäki-Film „Wolken ziehen vorüber“ 2004 am DT mit vorwiegend stummen Bildern gescheitert. Gotscheffs Inszenierung ist da redseliger, die stummen Passagen des Films wie den Überfall auf den Protagonisten M, lässt er zu Beginn durch Samuel Finzi, in typischer Kaurismäki-Aufmachung, erzählen. Das geschieht noch einige Male an diesem Abend und wirkt wie eine Audiotranskription eines Films für Blinde. Das ist eines der Mankos dieser Inszenierung, dass die Stimmung des Films nicht auf der Bühne umsetzbar ist.
Der Minimalismus von Kaurismäki kommt noch am besten zum Ausdruck, durch das wieder sehr sparsame Bühnenbild von Katrin Brack, mit einer überdimensionalen Peitschenlaterne und mehreren großen Plastiktaschen als Containerbehausungen. Das gibt Raum für einige sehr lustige Slapsticknummern, wie die Einweihungsparty der Containertasche von M, einer Saunaszene mit rauchenden Taschen und einer Tasche als Umkleidekabine. Wolfram Koch als M gelingt noch am ehesten der lakonische Ton des Films, die Anderen, allen voran Samuel Finzi in mehreren Rollen, karikieren ihre Figuren nur in clownesken Szenenfolgen. Keiner der Protagonisten vermag ihnen wirklich Leben einzuhauchen. Unnötig wirken auch die vielen Bibelzitate, die das Geschehen nur zusätzlich grotesk aufladen. Einzig eine Szene kann überzeugen, wenn sich M und die von Almut Zilcher etwas übertrieben als spätes Mädchen gespielte Heilsarmistin Irma langsam näher kommen. Dabei fungiert der Hund Hannibal als Kuppler. Das ist der Clou der Inszenierung, den Hund des geldgeilen Vermieters Anttila (sehr laut Michael Schweighöfer) als unterwürfigen Menschen, dargestellt von Andreas Döhler, auftreten zu lassen, der später aber auf sein altes Herrchen pissen wird.
Mehr vermag Gotscheff nicht aus der Vorlage zu machen, der Abend ist mit über 2 Stunden viel zu lang und sogar streckenweise regelrecht langatmig. Wohltuend da eher noch die musikalische Begleitung mit einer Band, die finnischen Tango, Chanson und Blues mischt, getanzt darf auch mal werden, ein märchenhafter Zauber entwickelt sich aber dennoch nicht. Gotscheff verwechselt Melancholie mit Langeweile und lässt seine Protagonisten lieber bedeutungsschwanger an der Rampe stehen und ins Publikum starren. Kaurismäkis subtiler, trockener Humor geht dabei leider völlig flöten. Noch nie hat eine Inszenierung von Dimiter Gotscheff so bemüht und dennoch leer gewirkt, ein dramaturgischer Offenbarungseid.
http://blog.theater-nachtgedanken.de/
daß er einen disparaten Mix an Erzählweisen anbietet, währenddessen Kaurismäki, stringent und nicht ohne Härten in der Handlungsführung, in Farbe übrigens (was bei den Farbkontrasten der
Gegenstände: z.B. Auto, Container, Jukebox -siehe dazu die Spiegel-Würdigung des Filmes 2002 von Urs Jenny- nicht unerheblich ist), ein Märchen, richtig: erzählt.
Ja, wir sagen in unserer Sprache auch bei diesem Film, daß er ein Märchen erzählt; in seiner Eigenart als Märchen ist der Film von Kaurismäki meineserachtens gerade nicht von vornherein so angelegt, daß er irgendwie nahelegen würde, aufgrund seiner Verwandtschaft zum Theater gar noch dazu, ihn für das Theater zu adaptieren, zumal ich das Argument nicht recht verstehe, wieso ich ausgerechnet so viel Übersetzungsarbeit anstrengen muß/müßte, wenn der Film eh so nah am Theater dran ist: das erklären viele der KritikerInnen und KommentarorInnen eher nicht. Fast einhellig dagegen die Liebe zu Kaurismäki, die sowohl dem Abend anzumerken ist, darin ist er sehr sympathisch, als auch andererseits beinahe schon wieder verblüfft (obschon ich sie teile), gerade hinsichtlich eines Theaterabends. Was ich damit meine, ist, daß ein solcher Text als Stück(entwurf) von XYZ aller Vermutung nach gnadenlos durchfallen würde, noch weit, bevor sich in Theater eines solchen märchenhaften Textes annehmen könnte, Lutz Hübner sprach von den SM-Freiern im Parkett !
Wenn es heißt auf die Frage "Und Helsinki ?" und die Antwort lautet darauf "Habe hier kein Heimatgefühl" (Gotscheff läßt dann auch sagen "Fühl mich hier nicht zuhause" oder ähnlich), dann hätte eine ganz beträchtliche Anzahl von Lektoren das vermutlich schon beerdigt.
So aber leistet die Adaption immerhin, und das ist durchaus ein Verdienst ob der Gefühlsanfeindung im deutschen Theaterwesen !, daß auf einem kleinen Umweg Märchen immerhin angedeutet, verfremdet, befragt, erläutert, gelesen werden auf der Bühne vor einem Bühnenpublikum: naja, und all das geschieht dann auch: Erzählhaltungen wechseln recht wild- es wird erläutert, gelesen, verfremdet, fast schon kommentiert (indem das Märchenhafte konterkarriert wird, was mißlicherweise auf Kenntnis des Films beruht und dem Unternehmen den Eindruck des Aufgusses durchaus gibt), schwer zu sagen, ob jemand das Ganze ohne Kenntnis des Filmes überhaupt halbwegs zusammenbringt; es schien allerdings so, daß das Publikum es in "meiner" Vorstellung vermochte.
Naja, "verkrachte Existenzen" sagt Stefan: leider anhand der Vorstellung in der Tat eher ein Menschenblock, der diese recht einheitliche Wirkung gerade dort zeitigt, wo Kaurismäki wie im nebenbei tatsächlich tschechowverwandt, wie Finzi es im Tip-Interview sagte, feinzeichnet.
Der Versuch, mit dem Flaschenschlag auf den Kopf zu heilen, frei nach einem Asterix-Band, ich glaube "Kampf der Häuptlinge", im Film ist es ne lange Holzlatte, war aber so gesetzt, daß ich diesen als ein weiteres "Highlight" durchaus erwähnen möchte.
Der Abend ist dann auch keine Nummernrevue -wie man denken könnte-, im Stile der disparaten "Erzählweisen" unternimmt er immer wieder neue Anläufe, die mal mehr, mal weniger "glücken": ich blieb aber recht lange zumindestens gespannt auf den jeweils nächsten Anlauf und habe mich nicht nur gelangweilt: der Tip nennt solche Abende dann wohl auch "zwiespältig", obschon Herr Laudenbach ihm das Prädikat "sehenswert" zuerkannte. Frohes Neues, by the way ...