Ein Teil der Gans - Philipp Preuss verrät ein Boulevardstück von Martin Heckmanns
Die Außenseite der Einsicht
von Wolfgang Behrens
Berlin, 10. Oktober 2007. Schon im Frühjahr, als seine wunderbar traurige Lebenskomödie "Kommt ein Mann zur Welt" in Düsseldorf uraufgeführt wurde, munkelte man, Martin Heckmanns habe für das Deutsche Theater Berlin ein waschechtes Boulevardstück geschrieben. "Ein Boulevardstück?", ruft es einem zu, "das kann nicht sein! So wie Hans Joachim Schädlichs 'Trivialroman' natürlich kein Trivialroman ist, so wenig wird ein Sprachartist wie Heckmanns ein reines Boulevardstück schreiben."
Nun ist es raus, das Stück: "Ein Teil der Gans" heißt es, und siehe da!, es ist ein tolles Boulevardstück geworden. Eines, das seinen Witz aus den feinen Rissen bezieht, die unter der Oberfläche einer alltäglichen Kommunikation lauern; eines, das die Peinlichkeiten des Small-Talks in abgründig komische Situationen verwandelt; und eines, das gegen Ende ganz bewusst seine Gattungskonventionen sprengt.
Die Grundkonstellation Heckmanns' hat man schon hundertmal gesehen, ob bei Yasmina Reza oder in David Gieselmanns "Herr Kolpert": Ein Paar lädt ein anderes Paar zum Abendessen ein. Man kennt sich nicht gut, den aberwitzigen Missverständnissen sind Tür und Tor sperrangelweit geöffnet.
Perfektes Abschnurren mit ungemütlichem Bass
Die Anspannung der Gastgeber ist hier – durchaus komödientypisch – dadurch verschärft, dass Sie, Bettina, arbeitslos ist und sich von ihrem Gast Amin, der sich als Hotelier vorstellt, einen Job als Empfangsdame erhofft. Das Gästepaar Tara und Amin neigt nun unglücklicherweise dazu, bei oberflächlicher Freundlichkeit alles Misslingende der Zusammenkunft – vom versalzenen Essen bis zur stockenden Unterhaltung – sofort zu thematisieren. Und dann ist da noch diese fünfte Person, Max, ein "leicht dunkelhäutiger Skinhead", der eine Autopanne zu haben vorgibt und nur mal eben telefonieren möchte …
Kaum merklich mischt Heckmanns in die perfekt abschnurrende Komödienmechanik ein paar ungemütliche Töne, die fast immer mit der Verdrängung von Fremdheiten zu tun haben: mit der von andersartigen Menschen ebenso wie mit der nicht ausgelebter erotischer Fantasien. Der eigentliche Bruch der Boulevardstruktur ist jedoch dem Ende vorbehalten: Die Gäste entpuppen sich in einer ganz und gar unwahrscheinlichen Volte als unversöhnlich ihren Wohlstand, ihren "Teil der Gans" einfordernde Ausländer; der Skinhead Max erschießt sie schließlich, um seinerseits in heiner-müllernden Sätzen ("Ich bin der Fremdkörper. Die Außenseite der Einsicht.") die dringliche Frage nach dem Daseinsrecht der Ersten Welt zu stellen.
Dieses plötzliche Kippen in eine absurd brutale Konfrontation ist der theatrale Coup von Heckmanns' "Teil der Gans". Und eben dieser Coup wird in der Uraufführung am Deutschen Theater leider aufs Empfindlichste verraten. Der junge Regisseur Philipp Preuss tut so ziemlich alles, um die kunstvoll glatt polierte Außenseite der Komödie von Beginn an gewaltsam aufzubrechen – und den Witz des Stücks so zu zerstören.
Achselhöhlenkontrolle und andere Plattheiten
Schon ganz am Anfang lässt er auf den Vorhang aus rot gemaserten Papierlamellen, der die mit Tisch und Stühlen spärlich möblierte Spielfläche begrenzt (Bühne: Ramallah Aubrecht), quälende Minuten lang ein Video projizieren, das die Zubereitung der Gans zeigt; geheimnisvoll lastende Musik stimmt dazu eher auf einen Horrorfilm als auf Boulevard ein.
Preuss misstraut auch dem Situations- und Sprachwitz seiner Vorlage: Ständig speist er die munter klappernden Dialoge mit Regiegags, die in ihrer Plumpheit und ihrem mangelnden Gespür für Timing jegliche Komik platt walzen. Gesprächspausen werden bis zum Überdruss zerdehnt; versteckte Spitzen im Dialog der Damen müssen im albern choreographierten Zickengefecht ausbuchstabiert werden usw.
Die Beziehungen zwischen den Personen sind bei Preuss von vornherein von überdrehter Aggressivität gekennzeichnet; da ist keine (boulevardgemäße) Normalität, in deren Oberfläche sich Risse zeigen könnten. Das flippig-coole Gästepärchen Gabor Biedermanns und Nora von Waldstättens lässt schon mit dem ersten Auftreten jede Umgangsform außer acht, Katharina Schmalenberg setzt die Unsicherheit der Gastgeberin Bettina mit planer Hysterie in eine überkandidelte Körpersprache mit ständigem Achselhöhlenfrischetest um. Einzig Ernst Stötzners vernuschelter, total unterspannter Victor, der von seiner ungewollten Gastgeberrolle zu jeder Zeit überfordert ist, vermag die Lacher präzise zu setzen – Anleihen bei Oliver Dittrichs "Dittsche"-Comedy inklusive.
Der letztendliche Gewaltausbruch, das Wüten mit Bühnenbildzerstörung und Ohren zerfetzendem Pistolengeknall gelingt Philipp Preuss im Grunde ganz gut. Die Papierlamellen werden heruntergerissen, ein panafrikanischer Gospelchor marschiert auf, um pittoresk die Anklage des mit fremdem Leid erkauften Wohlstands der Ersten Welt zu untermauern. Wie aber hätte dieser Bruch wirken können, wenn nicht schon vorher alles auf ihn abgestellt gewesen wäre? Ja, Martin Heckmanns hat ein Boulevardstück geschrieben. Aber aufgeführt wurde es noch nicht.
Ein Teil der Gans
von Martin Heckmanns
Regie: Philipp Preuss, Bühne: Ramallah Aubrecht, Kostüme: Eva Karobath.
Mit: Katharina Schmalenberg, Nora von Waldstätten, Gabor Biedermann, Ernst Stötzner, Henning Vogt.
www.deutschestheater.de
Kritikenrundschau
"Schwer enttäuscht" war Reinhard Wengierek. In der Welt (12.10.2007) schreibt er: Die vierköpfige Tischgesellschaft von Heckmanns wisse darüber Bescheid, dass "alle fünf Sekunden ein Kind stirbt an Unterernährung", ein derart "hoch qualifizierter Wissensstand" allerdings "kann ein Theaterstück nur platt walzen". "Agitprop" und "verdammt schwaches Stück" kritisiert Herr Wengierek. Nur "geschickte Regie" hätte das Stück vielleicht vor sich selbst retten können. Aber die "fundamentale Fehlbesetzung" Philipp Preuss machte auf "Komödienstadel", auf "Klamotte", auf "Yasmina Reza": alles Rohrkrepierer. So blieb das "gut gemeinte "Stück gegen Fremdenhass" bloß "peinliches Propagandastadel".
Irene Bazinger hat im Bühnenbild – Tisch, Stühle, ein Berg Weintrauben, darin ein großes Messer – eine "fast okkulte Versuchsanordnung" entdeckt. In der FAZ (12.10.2007) kommt sie dann aber aufs Okkulte nicht zurück. Sie hat eine "amüsante Inszenierung" gesehen und findet, dass Heckmanns sich einen "gescheiten Spaß" daraus mache, "das Stück immer weiter assoziativ aufzuladen und heikle Themen anzuschneiden, ob es Flüchtlinge aus der Dritten Welt sind, westliche Ausbeutungsstrategien oder rassistische Denkmuster".
Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (12.10.2007) analysiert die untergründigen Bezüge, die Heckmanns in sein Stück eingebaut hat, und kommt zu der Erkenntnis: "Dass … erst die Dritte Welt und dann noch eine Allegorie der Gewalt Einzug halten und die Komödie platzen lassen, ist geradezu Brauch bei den jungen Gegenwartsautoren". Das Grundproblem der "linkischen Inszenierung" sei, dass sie die Regeln, die sie brechen wolle, "gar nicht erst beachtet", dass Preuss die "sauber ausgepuzzelten pointierten Dialoge" mit "fetten, unbeholfenen Regieinstrumenten zuschmiert", und dass ein "seltsam frohgesinnter Zuschauer" in der ersten Reihe die 80 Minuten durchgelacht und die Schauspieler irritiert habe.
Andreas Schäfer vergleicht im Berliner Tagesspiegel (12.10.2007) Yasmina Reza mit Heckmanns. Heckmanns möchte, wie Reza, "über das Leichte zum Fundamentalen vordringen. Bei Reza geht es um Kunst oder Wissenschaft, bei Heckmanns um die Angst vor Fremden. Wo bei Reza aber die Ebenen spielend zerfließen, arbeitet Heckmanns mit der Brechstange." Ein deutsches Paar, das als Ausländer verkleidet, ein anderes deutsches Paar der Spießigkeit überführe? Zum Wohle hungernder Afrikaner? "Da ist dem Autor der unausgegorene Stoff über den Kopf gewachsen." Der Auftritt des schwarzen Spiritual-Chores sei einfach rassistisch.
Nikolaus Merck bedauert in der Frankfurter Rundschau (12.10.2007), dass Heckmanns und Preuss in einer "letzten Spitzkehre", einer "letzten Reflexionsschleife", mit dem Auftritt der unvermittelt hereinbrechenden Gewalt in Gestalt des Räubers Max nicht den dramaturgischen Rahmen des Genre-Stückes produktiv aufsprengen, sondern schlicht das Stück "zugrunde richten".
In der Süddeutschen Zeitung (13.10.2007) macht Peter Laudenbach in Heckmanns Stück nur "routiniert vor sich hinwitzelnde Pappkameraden" aus. Beiden beteiligten Theatergenres, der Boulevardkomödie und dem "politisch korrekten Zeitstück", bekomme die "Kombination aus Entertainment und Polit-Plattitüden" schlecht. Philipp Preuss habe sich für eine "Hau-Ruck-Regie" entschieden und versuche erst gar nicht, "Subtilitäten aufkommen zu lassen". Immerhin, so bemerkt Laudenbach ironisch, gebe Ernst Stötzners "an allen großen Menschheitsfragen … prinzipiell vollkommen desinteressierter" Hausherr endlich mal eine Theaterfigur ab, "mit der man sich identifizieren kann".
In der taz Berlin (13.10.2007) kann Irene Grüter der Heckmann'schen Vorlage einiges an psychologischer Tiefe abgewinnen: "Jeder Sprechakt der Figuren wird zum Versuch, ein labiles Gleichgewicht aufrechtzuerhalten." Und: "Wer hier wen prüft und in welchem Auftrag, bleibt irritierend unklar." Während aber bei Heckmanns die "irrwitzige Wendung" des Schlusses ein Fake sei, "ein Spiel im Spiel", inszeniere Preuss "den Bruch merkwürdig agitatorisch". Der "plötzliche Umschlag von einer psychologischen in eine politische Erzählhaltung" funktioniere nicht.
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Die Sprache und die Mittel, zu denen zum Beispiel der Horror und die Verwandlung der Figuren gehören, sind eher mit dem Cartoon, dem Comic verwandt.
Dächte man beim Stück und der Inszenierung nicht an den Boulevard, sondern an die Simpsons, dann wäre man in der Lage die Klasse des Stücks und die Stärke der Inszenierung von Preuss wahrzunehmen. Leider sind die Kanäle der Wahrnehmung verstopft, was zu Fehleinschätzungen führt. Und dem absurden Urteil: Verrat am Boulevard!
Sie klingen, als seien Sie der Regisseur P.P. persönlich. "Man muss die Inszenierung nur recht verstehen, dann ist sie ganz toll."
Mich erinnert das an offenbarte Weisheiten. Typisch deutscher Kunstbetrieb. Insider-Wissen. "Die richtigen Voraussetzungen muss man schon mitbringen für so eine Kunst-Unternehmung." Hoho.
Wie stellen Sie sich zu der fast unisono mauligen Kritik? Lauter Leute, die die Voraussetzungen nicht mitbringen? Lauter Leute, die Heckmanns' und insbesondere Preuß' Kunst missverstehen. Beschleicht Sie da nicht der Verdacht, es könnte etwas bei der Produktion, beim Stück, bei der Inszenierung schief gegangen sein? Oder denken Sie, die Kritiker seien halt alle miteinander schief gewickelt, Kanäle verstopft, aber das "normale" Publikum, Horror- und Simpsons-erfahren würde es schon recht verstehen?
Mit guten Grüßen
Daniel Buteiro
Mir kommen die Kritiken zum Teil so vor, wie es weiland die strenge Kategorisierung in E- und U-Musik gab. Neue Formen wäre so unzulässig geblieben, wenn sich das nicht geändert hätte. Auch das Theater wird solche neue Wege beschreiten müssen.
Angeblich sollen auch etliche eher betagtere "klassische Boulevard-Theoretiker" am DT in Berlin dem Regisseur P.P. kurz vor der Probenaufführung einschränkende - und damit formalzerstörende- Vorgaben gemacht haben, die mehr schadeten als nutzten. Trotzdem: Sehenswert !
das Geheimnis wird immer größer. Jetzt kommen Sie und sprechen abermals von "völlig neuem Theater".
Hey, hey, hey, hey!!!
Wenn mir doch bloß einmal einer verraten tät', worin denn das völlig neue Theater besteht bei dieser Aufführung. Ich wäre froh und dankbar.
Mit guten Grüßen
Daniel Buteiro
Wir leben in einer Gesellschaft von Oberflächlichkeiten, Statusssymbolen wie Handies, Mode, Eventbesuchen, Schicki-Micki. Dieser Teil könnte noch boulevardesken Charakter haben.
In seiner Einleitung kann ich dabei Wolfgang Behrens gut zustimmen. Er hat das Stück offensichtlich gelesen.
Heckmanns' Intentionen, dem Verlauf aber eine ganz andere, alles eher als boulervardeske Prägung zu geben, sehe ich nicht zufällig, sondern als das Erwachen aus einer Traumwelt, das er durch die Endhandlungen gut zu lösen scheint.
Wie sollte somit die sicherlich gesellschaftproblematisch behaftete Textvorgabe des Autors anders gelöst werden als unkonventionell?
Problemstellungen von heute sollten nicht, und können auch nicht, mit starren Klischeevorgaben gelöst werden. Über "Boulevard" im positiven Sinne könnten über das Medium Theater sehr wohl Dinge (oft jüngeren) Menschen unter die Haut gebracht werden, an denen sie vorbeigehen, da sie keine Reizfaktoren vorfinden, die sie zu einer Auseinandersetzung animieren.
Ich finde dies einen gelungenen Versuch von Autor Heckmanns und dem Preuss, seit bald 120 Jahren eingefahrene "Boulevard"-Klischees zu knacken und neue Wege zu suchen.
Der andererorts erwähnte "Rassismus"-Vorwurf bezüglich der Schlussszenen und des Absingens von "We are the Champios" von Nichteuropäer-Darstellern ist gradezu grotesk und zeigt eben, wie borniert (entschuldigen Sie den Ausdruck) hier ein Versuch für Neues abgekanzelt wird.
Also anschauen. Trotzdem, oder gerade deshalb !
Auf der einen Seite eine Phalanx der Kritik, die mit Ausnahme der FAZ, mit Knüppeln (Rassismus, Fehlbesetzung, etc.) auf die Inszenierung eindrischt; auf der anderen Seite ein Publikum, das, als ich mir die Inszenierung angesehen habe, lacht, zuhört und am Ende, nachdem es in einem furiosen Finale beschimpft worden war, sichtlich irritiert, das Deutsche Theater verließ. So etwas hatte es nicht erwartet, genauso wenig die Kritik.
Dass diese so einhellig vernichten will, was sie nicht mag, erinnert mich an das, was der Eindringling am Ende des Abends sagt: Verstehen ist der Kolonialismus des Verstandes. Die Kritik will Preuss nicht kolonialisieren und hat zurückgeschossen. Umso deutlicher bringt sie zur Sprache, dass sie die Abweichung nicht duldet, wenn ein Regisseur noch wagt, was alle längst verdrängen wollen: das Groteske, die Übertreibung, die Überzeichnung, das Spiel mit den Formen und den Gestus, nicht nur das Sprechen, des Unvereinbaren.
Heckmanns' Stück macht genau das. Es durchläuft und verdichtet in einem Parforceritt die Wahrnehmungen des Fremden und die Reaktionen der Bekannten. In einer Gesellschaft, in der all diese Wahrnehmungen zigfach diskursiviert zirkulieren, ist die überscharfe Zurschaustellung ein legitimes, ein notwendiges Mittel, um zu zeigen, wie komisch und verquirlt unsere existenzielle Unsicherheit sich windet. Damit konfrontiert zu werden, ist in der Tat empörend.
Wenn man sich nicht an Preuss abputzen kann, tritt womöglich zutage, dass das Stück selbst nicht gerade der große Wurf ist. - Und damit wäre es dem Regisseur gelungen, sogar noch aus eher Dürftigem (wenn man so wollte) noch Sehenswertes gemacht zu haben, das unter die Haut geht. Sicherlich, wer sich bei dieser Inszenierung eine 08/15 Boulvardeske klassischen Zuschnittes erwartet hat, wird erbost-enttäuscht vondannen gegangen sein und bezeichnet das Stück als das schlechteste, was er bisher gesehen hat.
Liegt es auch nicht daran, dass sich so mancher nicht getraut, die Dinge mal aus anderen Blickwinkeln zu sehn ?
Wie gesagt- bei einer anderen Inszenierung wird man ja zumindest den Vergleich ziehen können. Fragt sich, ob diese Verdammnis des Preuss wirklich aufrecht bleiben kann und wird.
hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Philipp_Preuss
die red.