Glückloses Wünschen

von Dirk Pilz

Berlin, 15. März 2008. Vertrottelung. Das ist es wahrscheinlich. Denn so wie sie in ihrem gewollt damenhaften, giftgrünen Kostüm auf dem Stuhl hockt, die Lehne zwischen die Beine geklemmt, die Arme vornüber schaukelnd, und wie sie dann mit den Händen in die Luft fingert oder sie ihr Bein hinaufwandern lässt, sich das Blondhaar hinters Ohr stopft und ins Leere lacht, in ihre Stimme dabei kleine Kratzer und großer Dehner einbaut, wie sie auf ihrem Stuhl kniet, wenn sie ins Ferne ruft und flüstert, wenn sie in sich hinab wimmert – bei alledem hat man es mit verschiedenen Ausdrucksweisen einer höheren Art von Seelenvertrottelung zu tun. Und mit einer Seele, die vor elaborierter Erledigtheit und feingliedriger Sehnsucht zu duften scheint, die dauernd mit sich selbst halbgare Treppen-Übereinkünfte trifft, um ihr Fädelchen Glück zu finden. Eine von Liebesbedürftigkeit umkoste Seele, die immer über den Geiergruben des Wahnsinns baumelt.

Das ist die Lotte-Seele. Und das ist die Lotte, jene arbeitslose Mittdreißigerin, wie sie von Nina Hoss in der ersten Szene des zweistündigen Abends aufgeführt wird. Eine abgründig unergründbare Frau, die in ihrem Marokko-Urlaub draußen zwei Männer sprechen hört und sich drinnen in die Gesellschaft dieser fremden Herren wünscht. Der Wunsch bleibt unerfüllt, das Fremde unerreicht.

Zeitlos konkret

Als Botho Strauß’ zehnteiliges Stationendrama "Groß und klein" 1978 von Peter Stein in der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer uraufgeführt wurde, mit Edith Clever als Dialekt sprechende Lotte, raunte es in den Feuilletons vor Begeisterung. Strauß!, Lotte! – das Psychogramm einer gegenwartsgeschädigten Stellvertreterfigur in einer Milieustudie bundesdeutscher Befindlichkeit.

Dreißig Jahre später hat das Stück an psychogrammatischer Qualität gewonnen und an gegenwartsanalytischer Kraft verloren. Es wirkt als zeitgeistkritisches Drama ein bisschen bemüht, fast herbeigeholt, auch wenn die den Artgenossen skeptisch beäugenden, Strauß’schen Pointen nach wie vor bestens funktionieren.

Womöglich deshalb hat sich Barbara Frey entschieden, ihre die Vorlage vorsichtig eingekürzte Inszenierung am Deutschen Theater gleichzeitig aufs Zeitlose und ins Konkrete schielen zu lassen. Wenn in Szene sechs die "Familie im Garten" sitzt, nimmt sie auf Billigplastikstühlen Platz, die deutlich ans untere Ende der Gesellschaftsmitte verweisen. Die dicke, morphiumsüchtige Frau: bei Margit Bendokat eine Vorzeige-Hartz IV-Empfängerin im blauen Schmuddelkleid. Der Türke aus Szene vier: bei Frank Seppeler der Nachbar mit Migrationshintergrund. Das Wissenschaftspärchen in der langen, zentralen Szene drei: bei Matthias Bundschuh und Meike Droste ein halb erdichtetes, halb erzwungenes Beziehungskonstrukt.

Ein Museum der Gangarten

Alle Figuren des Abends sind zugleich Zitate der Heutigkeit und Verweise auf das Mangelwesen Mensch überhaupt. Auf der leeren, schwarzen Bühne von Bettina Meyer, die sich mal zum schmalen Schacht verdichtet, mal ins Tiefe weitet, sind's zudem lauter Verlorene. Und Lotte ist in diesem Ensemble die Verlorenheitsritterin. Ihre vertrottelte Seele und ihr beschädigtes Wünschen macht sie zur Projektionsfigur. Alle leiden, niemand leidet wie sie. Lotte, die von ihrem Paul nicht loskommt, seit er nicht mehr ihr Paul ist. Sie schleppt ihre Sehnsucht nach Nähe von Szene zu Szene, findet aber allerorten Abweisung und kommt deshalb von ihrem Schmerzpunkt nicht los. Lotte leidet an Begegnungslosigkeit. Man sieht es an ihrem Gang.

Überhaupt die Gänge. Im letzten Abschnitt, wenn Lotte in einem Wartezimmer strandet und eine nach dem anderen aufgerufen wird, errichtet Frey ein Gangarten-Museum. Jeder Figur verordnet sie eine zarte Eigenheit: Friederike Wagner stöckelt, Meike Droste hopst, Christian Grashof marschiert, Matthias Bundschuh wandelt. Und Nina Hoss räkelt sich unglücksverloren auf ihrem Stuhl, rappelt sich hoch und geht dann nach hinten. Ein Gehen zwischen Schlendern und Wanken, das alle Gangarten vereint. Das ist Lotte. Bei Nina Hoss ein ganzes Bündel an Strauß-Figuren, das alle Auseinandergelegenheiten dieser Figuren in einem kleinen Hopser zu vereinen versteht.

Ein Dessert ohne Hauptspeise

Es sind Lottes wie Hoss' beste Momente, wenn alle ihre Seelenfalten in eine abgründige Furche zusammenzustürzen scheinen. Wie in der ersten Szene, dem stärksten, nachhaltigsten Moment des Abends. Was danach folgt, ist wohlgestaltetes Auseinanderfalten, ein Entblättern und Ausformulieren.

Und dennoch, ist das alles nicht auch ein bisschen belanglos? Krankt die Inszenierung, mit der sich Barbara Frey einmal mehr als Kalligraphin unter den RegisseurInnen beweist, krankt sie nicht an Gedankenglätte? Sie wirkt mitunter wie ein Dessert, dem die Hauptspeise fehlt, wie ein Danach, dem es am Davor mangelt. Das zeitlos Konkrete (oder konkret Zeitlose?) dieses Abends gebiert eine Schwerelosigkeit mit Schlagseite ins Unverbindliche.

In seinem Zeitgenossenbetrachtungsbuch "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" hat Botho Strauß vor vier Jahren übrigens beschrieben, was es bedeutet, Befindlichkeiten zu sondieren: Es gleiche dem Versuch, Badeschaum an die Wand zu nageln. Diese Inszenierung hilft einem zu verstehen, was damit gemeint ist.

Groß und klein
Von Botho Strauß
Regie: Barbara Frey, Bühne: Bettina Meyer, Kostüme: Gesine Völlm/Wiebke Waskulat, Dramaturgie: Bettina Schültke, Licht: Claus Grasmeder. Mit: Nina Hoss, Frank Seppeler, Friederike Wagner, Margit Bendokat, Christian Grashof, Matthias Bundschuh, Meike Droste.

www.deutschestheater.de

 

Mehr von Barbara Frey: Triumph der Liebe von Marivaux am Deutschen Theater Berlin, Quartett von Heiner Müller bei den letztjährigen Salzburger Festspielen und Shakespeares Sturm am Akademietheater Wien.

 

Kritikenrundschau

Carl Hegemann, einst Dramaturg an der Berliner Volksbühne, stellt in seiner Besprechung für Die Zeit (19.3.2008) zunächst fest, dass Strauß ein Stück "über völlig unpolitische Menschen in völlig unpolitischen Zusammenhängen" geschrieben habe. Es entpuppe sich schnell als "Klassiker" und Freys Inszenierung treffe immer noch den "Nerv des Publikums": "Es lacht an den richtigen Stellen." Dennoch wirke alles wie "Kunstkino aus den siebziger Jahren". Das "alte ästhetische Prinzip von Peter Stein: 'Wir stellen eine kaputte Welt dar, aber die Art und Weise wie wir das machen, ist alles andere als kaputt', erlebt eine glanzvolle Auferstehung." Die Inszenierung zeige also, dass "heute alles genauso ist wie vor dreißig Jahren". Hegemann fragt daher, was es heute an "Groß und klein" zu entdecken gäbe. Er erinnert an jene Inszenierung an der Volksbühne vor vier Jahren (Hegemann war damals der zuständige Dramaturg, Frank Castorf der Regisseur), die versucht habe, sich "in die Innenperspektive der Hauptfigur" zu versetzen. Lottes Problem sei nämlich weder ein psychisches noch ein gesellschaftliches. "Vielmehr hat sie Gott zu einer Heiligen berufen, zu einer der 36 Gerechten". Und Hegemann erinnert an seinen eigenen Aufsatz, in dem er nachzuweisen versucht habe, dass Strauß selbst einer dieser 36 Gerechten ist. Mit dieser "gewagten Lesart", die sich damals nicht habe umsetzen lassen, könne das Stück seine "Klassikerqualitäten" "voll entfalten".

Für Gerhard Stadelmaier (FAZ, 17.3.2008) schaut die Angelegenheit anders aus. Die erste Hälfte der Rezension handelt von den Vorgänger-Inszenierungen und davon, wie Botho Strauß' "Groß und klein" so oft als "Stück über Verhältnisse" missverstanden wurde, obwohl es doch eigentlich um Strauß' "Ein-und-alles-Thema", die "Paarbildung", geht. In der Inszenierung von Barbara Frey, am "Ost-Berliner Deutschen Theater, wo man mit den Verhältnissen der alten Bundesrepublik von vornherein nichts am Hut" habe, seien ebendiese Verhältnisse vollkommen gestrichen. Man verstehe das Stück hier als "wundersame Groteske einer Alleine-Frau", in der nichts "auf irgendeine Realität" deute. Bei fehlendem Überbau und ebenso fehlender Basis, bleibe Nina Hoss als Lotte "mit zart geblecktem Raubtierfraugebiss" "praktisch, blond und sehr gut". Ihr fehle "zum Glück wie zum Unglück wirklich nichts", denn sie habe "das Beste in unveräußerlichem Besitz: sich selbst". So sei "in einem kurzen, lustigen szenischen Prozess das Plädoyer einer großen Solistin" zu sehen. "Wahrscheinlich ist das die bestmögliche Lotte unserer Tage."

Bei der "Neubesichtigung des vermeintlichen Klassikers" durch Frey, die "sich große Mühe gegeben" habe, "nichts falsch zu machen", wird für Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (17.3.2008) der "immer etwas zu erlesene Botho-Strauß-Sound" "trocken gelegt und geerdet". Frey zelebriere mit dem "zügig und geradlinig durcherzählten Abend", der auf "aufdringliches oder ironisches Zeitkolorit" verzichte, "nicht verrätseltes Literaturtheater", sondern suche "den realistischen Kern", der allerdings "schwach und nicht sehr stabil" sei. Und so offenbare die Inszenierung "ungewollt die begrenzte theatralische Haltbarkeit dieses (...) Zeitstückes". Wie Nina Hoss die Lotte spielt, sei "wunderbar" und "in jedem Augenblick perfekt. Nur berührend ist es nicht." Man sehe "einer unglaublich guten Schauspielerin bei der Arbeit zu" und bewundere sie "für ihre große Kunst". Die Figur aber wirke "dabei immer wie ein literarisches Zitat, das etwas zu deutlich vorführt, wie lieblos das Land ist, in das es Lotte verschlagen hat", was "durch den hohen Knallchargen-Faktor ihrer Umgebung" "unangenehm verstärkt" werde.

Freys "Stilprinzip einer ausgeprägten theatralischen Zurückhaltung, das schon länger die Gefahr blutleerer Beliebigkeit nur schlecht verbarg", zeige sich hier "in voller Unpracht: Keine Spannung, keine Phantasie und eine triste Einfalt", findet Irene Bazinger in der Welt (17.3.2008). Die Inszenierung von "Strauß' wohl gelungenstem Drama" kratze "höchstens an der Oberfläche der hier verhandelten Konstellationen und Konflikte", auch wenn Margit Bendokat oder Christian Grashof "schön mitklingen lassen, wie vielschichtig und abgründig ihre Figuren sein könnten". "Sehenswert" mache den Abend "einzig und allein die souveräne, gescheite und wundervolle Nina Hoss", der "von der sichtlich überforderten Regisseurin erneut die Aufgabe zuteil" werde, "eine schrecklich uninspirierte Veranstaltung zu retten". Hoss, "gleichermaßen begnadete Komödiantin und überragende Tragödin", könne das, "und wie!" So sei "Groß und klein" "dank Nina Hoss sogar in dieser Schmalspur-Inszenierung ein starkes Stück".

Esther Slevogt fragt in der taz (17.3.2008), ob sich die Bedingungen der Strauß'schen Figuren inzwischen verändert hätten. Frey sei "scheinbar der Meinung, dass sie noch die Gleichen sind", da "die metaphysischen Mangelerscheinungen" "längst nicht verschwunden" seien. Allerdings ließen sie sich jetzt "gesellschaftlich leichter verorten": Frey und ihre Kostümbildnerinnen hätten sie "aus dem Katalog der Gegenwart ausgeschnitten". Es herrsche ein "undefinierter Realismus, der alle Figuren seltsam substanzlos und den Abend insgesamt zunehmend lähmend werden lässt". Konsequenzen habe dies besonders für die Lotte-Figur, "die im Verlauf verstärkt wie eine verhuschte Neurotikerin wirkt. Die Verhältnisse, an denen sie leiden mag, hin und her". Auch wenn Nina Hoss deren "Leiden am Durchschnittlichen, am Glanzlosen des Lebens mit großer Intensität" zelebriere, kranke der Abend an der Verschiedenartigkeit der Schauspielstile – jeder in diesem "vorzüglichen Ensemble" spiele "für sich allein".

Auch Barbara Villiger Heilig von der Neuen Zürcher Zeitung (17.3.2008) erscheinen Freys Figuren "wie ausgeschnitten aus Farbfotos, die das wirkliche Leben dokumentieren". Niemals mache die Regisseurin aus ihnen "Objekte des Spotts", sondern halte "fein die Balance – was 'normal' ist, was 'krank', was menschlich und was unmenschlich, entscheidet nicht sie". In Nina Hoss freilich habe sie "ein Wesen gefunden, das über Allzumenschliches hinausragt und die Kleinheit das Alltags blosslegt dank schauspielerischer Grösse". Deren "poetischer Elan" erscheint Villiger Heilig "unerschöpflich". Hoss gebe "dem emotionalen Hochseilakt ihrer Heldin schwindelerregende Körperlichkeit" und entlasse ihre Lotte "nicht einfach in die Psychose", sondern treibe sie "ins gefährliche Abenteuer einer wachsenden Vereinsamung".

"Ist dieses schlaksige Mädchen, das noch nichts von seinem Körper weiß, tatsächlich Nina Hoss?", fragt sich Andreas Schäfer im Tagesspiegel (17.3.2008). Statt "Gorgonen- oder Kassandra- oder Medea-Blicke durch Bühnen- oder Filmwelten" zu schießen, muss sie hier "in einem scheußlich altbackenen Kostüm der ewigen Jungfer" auf einem Stuhl herumturnen. Frey habe "die Ausnahmeschauspielerin Nina Hoss zum 0815-Bühnengirlie geschrumpft". Sie konzentriere sich "ganz aufs Nesteln, Fummeln, Verrenken" und spiele die Lotte "durchgehend mit Ausrufezeichen, als Zappelphilipp, hinter dem wahnhaften Eifer immer geschützt, und also (...) unberührbar". Nur "manchmal, wenn sie schreit" werde "für Sekunden die Kraft der Tragödin spürbar", doch dann grinse sie "die Abgründe zwischen sich und den anderen" stets "mit tapferem Ist-was?-Lächeln weg". Warum Frey, die Lottes Stationen "mit beamtenhafter Ungerührtheit" abhake, nach diesem Stück gegriffen habe, bleibt für Schäfer ein Rätsel.

Wer Lottes Passionsgeschichte aller Überbauten entkleide und derart verweltliche, müsse "höllisch aufpassen, dass er sie dabei nicht gleich heillos verflacht", warnt Christine Wahl auf Spiegel online (16.3.2008). Für sie hat Freys Inszenierung mit den dabei drohenden "stereotypen Niederungen" "leider gewaltig zu kämpfen". Wo die Regisseurin "offenbar Strauß'schen Humor hervorkehren wollte", lande sie "allzu oft in der platten Karikatur". "Wenn man von der Schauspielerin Margit Bendokat absieht" (über die Wahl in Theater heute jüngst auch ein Portrait schrieb), sei "Eindimensionalität gar kein Ausdruck für diese Bühnen-Paare und -Passanten". Im Gegensatz zu den anderen Rezensenten findet Wahl auch an Nina Hoss wenig Gefallen, die "diese vereinsamte Unglückliche" "ziemlich laut" spiele und "hier überraschend stark zu äußerlichen Illustrationsmitteln" greife.

Ulrich Seidler macht in der Berliner Zeitung (17.3.2008) das "Groß und klein" des Stücktitels zur Zentralmetapher seiner Rezension. "In der Leere der aufgerissenen, schwarzen Bühne, herausgeleuchtet von einem weißlichtigen Verfolger-Spot" werde Nina Hoss "zur Zwergin", was "rein größenordnungstechnisch schon einmal das Kindchenschema" betone und den Zuschauer "in Mitleid und Fürsorge" tunke. Die Regisseurin leiste "dienliche Sehhilfe" dabei, "die Welt mit den Augen von Botho Strauß zu betrachten", das heißt "Trost im Pessimismus zu suchen". Dabei erlaube sich die "in gewohnter Weise wohlkalkulierte und besonnene Inszenierung" "komische Klischees", die die Schauspieler "in handwerklicher Souveränität" ausformulierten. "Das über die angezogene sozial-ökonomische Härte unserer Gegenwart erhabene Geschehen" kann Seidler "als kurzweiligen Bilderbogen"  durchaus "genießen".

Kommentare  
Groß und klein: laut aufgelacht
"Die Geiergruben des Wahnsinns"?! Ooh- eine prächtige Formulierung! Habe vor Freude darüber laut aufgelacht!
Groß und klein: nicht "prächtig" – anspruchsvoll!
Nein, nicht "eine prächtige Formulierung", es müsste heißen: "Eine anspruchsvolle Aussage, Egbert..." :-)
Groß & Klein: berauschender Bundschuh, fantastische Hoss
Es gibt in Deutschland keine bessere Schauspielerin als die fantastische Nina Hoss. Ihre Lotte ist nachvollziehbar und glaubwürdig. Und auch Matthias Bundschuh ist berauschend gut. Das DT ist ein Traumtheater, aber das wissen die Berliner ja schon länger. Schaut euch nur Goschs "Wanja" an. Barbara Freys Theater ist immer wieder grosses Theater, die Regisseurin ist so gut und berührend, dass man mal die Fragen stellen muss: Warum darf ein Castorf eigentlich noch immer ein Theater leiten? Traurig sowas.
Groß & Klein: Beeindruckender Abend
Barbara Frey gelingt ein ganz beeindruckender Abend, der mit genauer Kenntnis heutige Befindlichkeiten zitiert und trotzdem Bothos Sprachwelten ausdeutet. Die Darstellerinnen Nina Hoss spielt zwar Lotte wie ein aufgedrehtes Huhn, das allerdings gekonnt.
Meike Droste hopst auf beeindruckende Weise und offenbart die beklemmende Last des politischen Kalküls der 70er Jahre. Die beste Berliner Arbeit in dieser Woche.
Deutsches Theater: Man wird so schön in Ruhe gelassen
Ich finde auch das deutsche Theater das schönste - man wird so schön in Ruhe gelassen und all die schönen Sprecher auf der Bühne dort und die hübschen Kostüme - also, ich bin ganz hin und weg, das ist fast so schön wie die Edith Clever damals an der Schaubühne und in diese Zeit wünschen wir uns alle zurück, da war die Welt noch in Ordnung, und das DT gibt uns diese schöne Westberliner Zeit zurück. Danke.
Deutsches Theater: kein Versuchskaninchen-Theater
@ Ziff 5: Ja, endlich spricht es jemand aus. In der Tat werde ich im DT dankenswerter Weise von dem Versuchskaninchen-Theater etwaiger anderer Häuser in Ruhe gelassen. Dieses verkrampfte Grenzüberschreitungsgebaren: "Wir müssen mit jeder Neuproduktion verstören, Yeah, und damit es ein paar Jünger gibt, die uns hinterherlaufen, nennen wir uns intellektuell und machen glaubhaft, dass es so etwas noch nie gab, cool, wer es nicht versteht, ist nicht klug genug, Baby". Diese aufgezwungenen Interpretationsansätze ermüden. Am DT wird in der Tat - wie O. Risse korrekt ausdrückt - die Sprache (vgl. nur die Bendokat in den Persern) und Darstellung in den Vordergrund gestellt und die Textgrundlage dabei nicht völlig außer Acht gelassen. Das schließt leider nicht aus, dass auch - mit Verlaub - etwas vernachlässigungswertere Produktionen wie "Groß & Klein" erscheinen. Aber auch hier: die Darsteller Hoss, Droste, Bundschuh waren toll oder von mir aus auch "schön". Und wenn es mir zu schön wird, gehe ich halt in ein anderes Haus. Hauptsache keine Moralapostel, die mir vorschreiben, welchen Theatergeschmack ich zu pflegen habe. Danke.
Deutsches Theater, ein Theater für FDP-Wähler
Margit Bendokat in die Perser ist einfach nur langweilig - unerträglich ödes DDR Aufsagetheater - das DT ist Theater für FDP Wähler.
Groß und klein: Bendokat präzise und konzentriert
Bester Risse, wie bringen Sie ein vermeintliches "DDR-Aufsagtheater" mit den ästhetischen Vorlieben der FDP-Wählerschaft zusammen? Es wäre aber schön, wenn Sie sich in Ihrem löblichen Assoziationsstrudel nicht an einer Schauspielerin wie Margit Bendokat vergreifen würden, deren Kunst - im Übrigen ohne hübsche Kostüme (insbesondere in den "Persern") - durchweg präzise, eigen und konzentriert ist und um Längen über all dem Schauspielhandwerk steht, das auf deutschen Bühnen so gern an die Rampe geworfen wird. Ansonsten gebe ich Ulf Steinebrunner recht. Das DT bevorzugt in den Arbeiten von Gotscheff ein vergleichsweise nüchternes, fast schon asketisch bilderarmes Sprechtheater. Das ist ihr aktuelles Alleinstellungsmerkmal. Muss man nicht mögen, aber es definiert den Rahmen für eine sinnvolle Diskussion. Und die Frage lautet dann angemessener Weise: Machen sie DAS gut, dieses Sprechtheater? Mit Schauspielern wie Margit Bendokat ganz sicher.
Deutsches Theater: Niveauferne Thesen
Wenn mit einem - und sei es vorhersehbar - die Pferde durchgehen, kommen doch immer noch die unverblümtesten Thesen auf den Tisch. Heisst die Aussage "DT ist Theater für FDP-Wähler", dass ich keine Legitimation hatte, ins DT zu gehen (dann muss ich wohl schon wieder eine Selbstanzeige formulieren), oder bedeutet es, dass die Theatervielfalt einzuschränken sei, abhängig von der Parteipräferenz? Auffallend: der Olli Risse geht ja ins DT in dem Wissen um die FDP-Klientel? Wählt er sie etwa selbst und seine Kommentare sind ein riesengroßer Komplott? Was für einen Theater-Geschmack haben FDP-Wähler eigentlich, ich kenne keinen FDP-Wähler. Offenbar weiß Herr Risse zu berichten, dass die FDP "DDR-Aufsagetheater" mag, d.h. die Einheit ist bei ihr mittlerweile angekommen? Wenn ich dafür weiterhin ins DT gehen darf, werde ich nächstes mal vielleicht ebenfalls die Freiheitlichen wählen, quasi als Passierschein. Meine These: Jedem sein Theater! Auch der FDP! Auch den niveaufernen Kommentar-Schichten mit Bluthochdruck! Allen! Aber Respekt gegenüber den Ausführenden sollte die Basis jeglicher Meinung stets bleiben. Amen.
Groß und Klein: unkonkret, unpräzise, undifferenziert
Ja, gut. Wollen wir jetzt mal wieder auf Groß&Klein zurückkommen? Hat jemand Ingo Berks Inszenierung in der sogenannten Provinz in Bonn gesehen (Premiere einen Monat vor Frey)? Über den Vergleich würde ich gern mal diskutieren, die Bonner Inszenierung ist nämlich um Klassen besser, Regie und Schauspieler wissen, was sie tun, jeder Satz und jede Haltung ist klar, die Konflikte werden herausgearbeitet, es wird was erzählt. Am DT habe ich am Donnerstag fast nur Unkonkretes gesehen, Konflikte (zumal abseits von Lotte) waren kaum erkennbar, da Frey offenbar keinen Zugriff gefunden hat und eben die meiste Zeit nicht wusste, was sie erzählen wollte, und schon gar keine übergreifende Idee für den ganzen Abend hatte. Schauspieler kommen mit sowas ja unterschiedlich gut zurecht, aber hier waren die meisten immer wieder sehr am Schwimmen, wodurch vieles absolut unpräzise und undifferenziert war und oft hektischer Aktionismus herrschte (trauriger Höhepunkt: Diavortrag in Teil III), oder es kam stellenweise völlig gedankenleeres Textabsondern dabei heraus, besonders z.B. bei Herrn Grashof. Klar haben einzelne Schauspieler immer mal wieder für sich selbst was gefunden, aber das führt ja ohne Gesamt-Regie zum zusammenhanglosen Nebeneinanderherspielen. Und ja, Nina Hoss ist natürlich eine tolle Schauspielerin, und auch die anderen eigentlich, wir sind ja am DT, aber - das kann man hier gerade zu lehrbuchhaft verfolgen -, ohne gute Regie kommt man damit nicht weit. Was ich von Hoss gesehen hab, war, dass sie von Anfang an ziemlich viel mit den Händen rumgezappelt hat, was schön war, aber dann den ganzen Abend so blieb. Eine Entwicklung konnte ich auch nicht wirklich erkennen bei Lotte, und vieles bei ihr und auch bei den anderen Figuren war einfach nicht stimmig. Oder ein Schauspieler wie Matthias Bundschuh, der für diesen Abend seltsamerweise so viel gelobt worden ist: Den hab ich ja noch nie soooo blass gesehen. Man vergleiche bitte mal sowohl den Bernd (VI. Familie im Garten) als auch den Alf (VIII. Alf) von Hendrik Richter in Bonn...
Dann die absurden Striche, nach denen man sich teilweise gefragt hat, warum die Szene/Situation überhaupt noch gespielt wird (z.B. II. Nachtwache und Ende IV (Türke+Frau))
usw. usf.
Groß und Klein: Ich liebe diese Inszenierung!
Das DT käme einem Traumtheater nahe ohne musicalartige Thalheimer-Inszenierungen (-u.a.).
Es lebe die Subjektivität.
Die Kritiken zu "Groß und Klein" sind für mich nicht nachvollziehbar. Irene Bazinger outet sich als große große Neiderin. Ich jedenfalls liebe diese Inszenierung und besah sie mir gestern ein drittes Mal. Für mich die "Space Odyssey" der Barbara Frey! Wunderbar! Ich spare für Reisen nach Zürich.
Kommentar schreiben