Playing on Nerves. A Punk Dream - HAU Berlin
Knallhart
4. Juni 2023. Nicoleta Esinencu und ihr Theaterkollektiv teatru-spălătorie zeigen im HAU mit dem zweiten Teil ihrer "Sinfonie des Fortschritts", was ernstgemeinter antikapitalistischer Punk bedeutet. Ein Abend, der nervt, weil er nerven muss.
Von Iven Yorick Fenker
4. Juni 2023. Es ist laut, schon im Foyer. Durch den Jugendstilbau des HAU 1 dringt ein dröhnender Bass, eine Stakkato-Frequenz, Noise, der auf die Nerven geht. Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan und Kira Semionov sind schon auf der Bühne. Sie tragen Lederstiefel, wahrscheinlich mit Stahlkappeneinsatz. Sie sorgen jedenfalls für einen festen Stand – und feste Standpunkte.
Hosen aus robustem Stoff, neonorangene Westen, grelle Arbeits(schutz)kleidung signalsieren: Achtung! Auf ihren Körpern kleben medizinische Messgeräte, sie sind verkabelt, elektrische Impulse stimulieren die Muskeln, reizen die Nerven, die Kontraktionen werden aufgenommen, verstärkt, sie verdichten sich zu dem sich ständig neu aufbauenden Sound, der das Theater einnimmt und das Eintrudeln der Zuschauer:innen stört.
Mit Triggerwarnungen für Westler
Die Vorstellung hat längst begonnen oder: Sie spielen schon, für sich, nicht für das Publikum, jedenfalls nicht für alle. Es wird eine Triggerwarnung projiziert: "Dieser Abend könnte für westliche Menschen langweilig sein." Langweilig wird es nicht. Der Warnung folgt eine Ansage: "You are not welcome", trotzdem: Das ist keine Ausladung, aber die Verhältnisse sind geklärt.
In Stromschnellen, in kurzen Kapiteln – Übertitelung und Übersetzung des Moldawischen werden projiziert – erzählen die Spieler:innen aus (nicht von) der Sowjetunion: vom Wechsel aus dem Kommunismus in den Kapitalismus, vom Übergang in den Untergang eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems in den Ausverkauf, die Leere nach dem Zusammenbruch, die erst langsam von der sogenannten freien Marktwirtschaft eingenommen wird.
Nicoleta Esinencu und ihr Theaterkollektiv teatru-spălătorie aus Moldau spielen hier den zweiten Teil ihrer Trilogie der "Sinfonie des Fortschritts". Der zweite Satz also, nachdem im Januar letzten Jahres der erste zu hören war, ebenfalls im HAU, das den Abend zusammen mit dem FFT Düsseldorf und HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste Dresden produziert hat.
Laut, so unendlich laut
Die drei Performer:innen spielen auf elektronischen Instrumenten. Impulsives Schlagzeugschlagen und Tasturanschläge hallen durch den Raum, ein überbordender Loop, drei Mikrophone – "aus UdSSR Produktion", wie sie betonen und versichern: "Gut für antikapitalistische Propaganda." Die Industrieventilatoren über ihnen kommen aus einer ehemalig sowjetischen Hühnermasthalle. Und so weiter.
Die Produktionsmittel werden offengelegt. Die Absichten sind klar und absichtlich laut, so unheimlich laut. Und es wird noch lauter, die Härchen im Innenohr sind aufgestellt. Dieser Druck sorgt für Stress. Entspannt zurücklehnen ist nicht. Immer wieder bauen sich nervenaufreibende Soundwellen auf, die im Publikum branden, die mitreißen und fortziehen, vor und zurück, durch die Jahre und Systeme.
Der Bass siegt
Hier wird aber kein Konzert gegeben, auch wenn mit und auf den Nerven gespielt wird. Das hier ist wie der Titel sagt: "A Punk Dream". Für das Publikum wird es unbequem. Das sagt sich so leicht. Die Widersprüche sind natürlich offensichtlich: Punk in diesem schönen Jugendstiltheater, Kritik als Konsumgut, Konfrontation als Genuss... Das alles wird hier im wahrsten Sinne des Wortes einfach überspielt, weniger konsumierbar gemacht, einfach weil es wirklich unangenehm ist zuzuhören. Die Widersprüche gehen unter, der Bass ist lauter.
Es ist beeindruckend wie konsequent diese inszenatorische Setzung aufgeht und es wirkt. Die Frontalbeschallung leuchtet ein, während der Strobo zuckt. Die Texte, die mehr geshoutet, als vorgetragen werden, sind aus Interviews und Erfahrungsberichten entstanden. Sie versammeln osteuropäische Stimmen. Semionov, Talmazan und Zavadovsky erzählen von Ausbeutung in Westeuropa, von Arbeitsmigration ins Lohngefälle. Und diese sind eindringlich, nah an der Gegenwart.
Hier wird nicht für das Publikum gespielt. Hier wird aus einer souveränen Position und Perspektive heraus erzählt. Und dann ist der Abend vorbei, und es ist einfach, das was es ist: Realität. Knallhart. Am Ende wird sich auch nicht verbeugt.
Playing on Nerves. A Punk Dream
von Nicoleta Esinencu, teatru-spălătorie
Team: Nicoleta Esinencu , Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan, Kira Semionov, Nora Dorogan, Ciprian Marinescu, Performance: Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan, Kira Semionov, Technische Umsetzung: Neonil Roșca, Technik: Sergiu Iachimov, Künstlerische Beratung: Aenne Quiñones (HAU), Produktionsleitung: Jana Penz (HAU), Technische Leitung: Annette Becker (HAU), Sound: Janis Klinkhammer, Licht: Lea Schneidermann (HAU), Übersetzung moldawisches Rumänisch ins Deutsche: Ciprian Marinescu, Frank Weigand, Übersetzung moldawisches Rumänisch ins Englische: Artiom Zavadovsky.
Premiere am 3. Juni 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.hebbel-am-ufer.de
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