Herz der Finsternis - Das Berliner Theater der Migranten begibt sich auf eine Flussfahrt
Beeilt euch!
von Dirk Pilz
Berlin, 24. Juli 2015. Die Reise beginnt in einer Fabrikhalle, dort, wo einst eine Mauer die Grenze zwischen den Systemen markierte. Hier Kreuzberg, da Alt-Treptow. Club-Zone heute, es herrscht das strikte Gebot der guten Laune. Gedrängel, viel Geschrei. Vom Freischwimmer, eines der beliebten Vergnügungs-Lokale, scheppert Billigtechno herüber, auf dem Badeschiff, gleich dahinter in der Spree gelegen, quieken sie. Im angrenzenden Parkgebüsch huschen Dealer umher.
In der schick heruntergekommenen Fabrikhalle werden wir Theaterbesuchswilligen durch einen Bürokratieparcours geschickt. "Nehmen Sie Drogen?"– "Essen Sie gern Kartoffeln?" – "Wie viel Geld haben Sie im Kopf?" Die Fragesteller sitzen, wir stehen. Sie sind schwarz, wir sind (fast alle) weiß.
Kommen Sie bitte!
So beginnt das Spiel. Es rechnet darauf, dass ich genau diese Differenzen setze. Unterschiede der Hautfarbe, der Herkunft. Soll dieses Unterschiedmachen damit kritisiert werden? Oder wird es fortgeschrieben? Es spielt hier das "Theater der Migranten", eine freie Berliner Bühne unter der Leitung von Olek Witt, der in den Programmzettel seine Überzeugung drucken ließ, dass "Theaterkunst heute eine der letzten Bastionen der Solidarität im Meer des gierigen Global-Kapitalismus" sei. Braucht diese Theaterkunst die Festlegung ihrer Darsteller auf Herkunft und Hautfarbe?
Sie stellen sich auf und rufen im Chor: "Wo kommen Sie her?" Gemeinsam wird aus derber Plastikfolie ein Faltboot gebaut. An der Wand hängt die Anleitung.
Geschlossen geht es danach aus der Fabrikhalle, durch die biertrinkenden Spaßsucher hindurch in einen kleinen Park, das Boot immer dabei. Die Dealer hüpfen verschreckt ins Gebüsch. Unsere Reiseleiterin hält einen Schirm in die Luft: "Kommen Sie bitte!". Sie steht auf dem Weg und rezitiert ein paar Sätze aus Joseph Conrads Herz der Finsternis, 1899 erschienen, berühmt, viel vom Gegenwartstheater aufgegriffen. Ein Buch über eine Fluss-Reise in die "Geheimnisse der Wildnis", die "schwarze Inszenierung" einer "Zuversicht", die auf Kolonialismus, Ausbeutung, Gier beruht. Über eine "innere Wahrheit" jenseits der "reinen Ereignisse der Oberfläche", über den "Reiz des Grauens".
Wir gehen weiter, am Flutgraben entlang zur Wagenburg an der Lohmühlenstraße, sitzen kurz in einer Plastikdachhütte, sehen einen kommen, der uns auffordert, Worte nachzusprechen, die nicht zu verstehen sind.
Immer geradeaus!
Es ist dunkel inzwischen, manche haben Taschenlampen dabei. Wir kreuzen den Görlitzer Park, die Menschen packen ihre Grillsachen zusammen, winken den Theaterwanderern zu, trinken Rotwein, wundern sich, was da von "überwältigender Wirklichkeit" geredet wird, warum eine Gruppe in schwarz-blauen Trainingsanzügen Spalier steht, damit eine andere Gruppe an ihnen vorbeilaufe. "Die Stille dieses Lebens hatte mit Frieden nicht das Geringste zu tun", sagt unsere Reiseleiterin. "Kommen Sie, immer geradeaus."
Am Landwehrkanal liegt ein schöner Holzkahn. Die Bar verkauft Bier, für die Gebrechlichen stehen ein paar Stühle bereit. Langsam tuckern wir den Kanal hinunter, die Darsteller singen "Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus". An den Ufern wird viel gelacht, auf dem Boot hören wir die Geschichte einer Flucht, erzählt von einem der Darsteller.
Er floh vor dem Krieg aus Timbuktu. Im LKW durch die Wüste, drei Tage, ohne Essen. Er schafft es nach Algerien, findet keinen sicheren Schlafplatz, beschafft sich Geld für die Weiterreise nach Libyen, zu Fuß in der Hitze, haust mit 80 anderen in einem Raum, wird von Rebellen bedroht, geschlagen, gedemütigt. Mit vorgehaltener Waffe muss er tanzen. In Tripolis gelangt er auf ein Boot. Kaum Platz, um zu sitzen. Sie fahren los, schnell ist das Benzin alle. Sie treiben auf dem Meer, werden von einem deutschen Schiff aufgegriffen, nach Sizilien gebracht. Jetzt wartet er in Berlin auf sein Asylverfahren.
Diese seine Geschichte öffentlich zu erzählen, bei diesem Theater mitzumachen: das ist am "Rande der Illegalität", sagt der Programmzettel. Wir haben Bier und hören zu. Was tun? Was sagen? Das Schiff rutscht friedlich durch die Nacht. An den Ufern tauchen verschiedentlich die Darsteller auf, sie halten Schilder in die Finsternis, verstohlen von Taschenlampen beleuchtet: "Die Gefahr liegt in Europa." – "Beeilt euch." – "Seht ihr überhaupt was?"
Die weiße Revolution ist vorbei!
Wir sehen jetzt Filmausschnitte aus einem Interview mit dem Söldner Siegfried Müller, genannt Kongo-Müller, der sich fürs Kriegführen im Kongo Mitte der 60er Jahre bezahlen ließ. "Wir haben im Kongo für die Idee des Westens gekämpft".
Die Filmbilder huschen über Brückenwände und Buschwerk, bald legt das Schiff an. Wir stehen auf einer Industriebrache, stolpern über Gleise. Man weiß auch als Berliner nicht, wo man ist. Hunde bellen, flackerndes Fackellicht. In einer Unterführung spielt einer Klavier, aus dem Dunkeln ruft wer "Die weiße Revolution ist vorbei". Es geht eine Böschung hinauf, in ein Treppenhaus. Es liegen Menschen auf der Erde. Unten Schwarze, Weiße steigen darüber: Das ist, was wir sehen, erleben sollen. Die Finsternis ist europäisch, das Herz des Grauens schlägt hier. So ist es. Ist es so?
Danach dann noch: das Paradies. Wir werden mit feinen Schnittchen bedient. Aus einer Ecke kommt lässige Live-Musik, über einem kleinen Teich dreht sich die Diskokugel, einer tanzt, auf dem Kopf eine gelbe Stiermaske. Das Paradies als Farce.
Weit nach Mitternacht spuckt das Theater seine Besucher ins Neuköllner Ödland aus. Alles eilt davon. Schnell nach Haus, schnell weg. Wo war ich, was soll das? Die Conrad'sche Geschichte wurde hier umgedreht: Die weiße Revolution ist zu Ende, es kommt – die schwarze? Will die Theaterkunst auf diese Weise den Flüchtenden eine Stimme geben? Will sie Solidarität demonstrieren? Sollen wir, die Geld- und Heimathabenden, am eigenen Leib erfahren, was Angst, Flucht, Not bedeutet? Wir hörten davon, erfuhren es aber nicht.
Alles bleibt im Modus einer Bühnenbootunterhaltung. Nichts wird dringlich, nichts verdichtet sich. Alles Oberfläche. Als ob die Migranten nichts sein dürften als Selbstdarsteller ihres Leids. Als ob sie vom Theater an ihre Herkunft und Hautfarbe gekettet würden.
Herz der Finsternis.
Eine nächtliche Expedition auf Berliner Gewässern mit dem Theater der Migranten
Konzept und Regie: Olek Witt, Co-Regie: Richard Djif, Bühne und Kostüme: Hendrik Scheel.
Mit: Martin Moukodi, Oumar Aghali, Seyni Maiga, Abidal Bance, Ismael Ouedraogo, Richard Djif, Harber Sacko, Peguy Takou Ndie, Soni Taskiner, Tiemoko Sangare, Mohammed Darbouka, Parwez Akburi, Sam Shahmansoori, Hossein Hosseini, Amir Naderi, Genifer M. Habbasch, Ursula Wolschendorf und Jutta Armgard
Dauer: 3 Stunden, ohne Pause
www.heimathafen-neukoelln.de
"Eine Fahrt voller Fragwürdigkeiten", schreibt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (25.7.2015). Es beginne schon bei der Annahme, "man könne sich per Erlebnis-Performance in die Situation von Menschen einfühlen, die vor Krieg, Verfolgung oder Armut geflohen sind". Auch die Komparsenrolle der Geflüchteten, die am Ufer als "knurrende, schwarz maskierte Horde über ein Gleisbett schleichen", hinterläßt beim Kritiker ein ungutes Gefühl. Darüber hinaus beiben die Passagen aus 'Herz der Finsternis', die von der Schauspielerin Genifer M. Habbasch ziemlich pathosselig vorgetragen werden", aus Wildermanns Sicht seltsam anbindungslos.
"Gut, wir haben verstanden, dass uns der Abend zwei gegenläufige Haltungen verdeutlichen will," so Hartmut Krug in der Sendung "Kultur heute" beim Deutschlandfunk (25.7.2015). Conrads Text zeige, wie die Weißen das schwarze Afrika angstbesetzt mythisieren und dämonisieren, "während der Schwarze aus Timbuktu seinen Hoffnungsblick auf den Westen richtet". Aber was soll der Zuschauer, nun ja, lernen, empfinden oder nachempfinden?", fragt sich der Kritiker. "Für die vielen, auch politischen Fragen, die eine mittlerweile exzessive Beschäftigung der Theater in Deutschland aufwirft, liefert dieser Abend nichts."
Von einer "erlebnispädagogischen Irrfahrt" schreibt Mareike Nieberding auf Spiegel Online (27.7.2015). Die Flüchtlinge sprächen in der Performance nur wenige Sätze Deutsch. "Antwortet der Zuschauer auf ihre Fragen nicht mit Ja oder Nein, können sie nicht reagieren. Nur lachen. Ein hilfloses Lachen, in dem das ganze Unheil dieser Inszenierung steckt. Weil es die Geflüchteten zu Statisten ihrer eigenen Flucht degradiert. Weil es den Zuschauer, den Weißen, wieder zum Mächtigeren macht, von dessen Gutdünken ihr Leben und in diesem Fall ihre Performance abhängt."
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