Im Jenseits der Vernunft

von Anne Peter

Berlin, 10. November 2007. Man könnte meinen, es seien Adam und Eva, die da aus dem Dunkel auf den Laufsteg ans Licht treten. Doch diese Wesen haben ihre Lust schon entdeckt: Medea und Jason, splitternackte, leuchtende Körper, ihre Schritte im Hochzeitsmarsch. Sie strahlt, zieht ihn sanft, aber bestimmt an seinem Geschlecht nach vorn, während er ihr zärtlich ins Ohr flüstert. Was die Figuren dieser Inszenierung antreibt, ist also gleich mit dem ersten Bild des archaischen Familienalbums klargestellt, das Antonio Latella aufblättert.

Bildertheater choreographiert

Der 1967 geborene italienische Regisseur ist einer der bekanntesten Theatermacher des Landes. Seine Produktionen gehen auf internationale Tourneen, während Latella selbst mittlerweile in Berlin wohnt. Mit seiner "Studio su Medea", die dort jetzt im Rahmen des Italienischen Theaterherbstes und des Festivals medeamorphosen im Radialsystem zu sehen ist, hat er eine Art Triptychon aus bewegten Tableaus geschaffen, das den Mythos um die liebende und verstoßene Barbarin, die die neue Braut ihres Griechen-Gatten vergiftet, die gemeinsamen Kinder ermordet und schließlich im Drachenwagen des Helios gen Himmel entschwindet, fast nur mit den Schauspielerkörpern erzählt. Diese werden in choreographierten Bewegungen zwischen Schauspiel und Tanz auf die Suche nach dem Ausdruck des Archetypischen geschickt.

Mit Logik kommt man diesem Abend, der mit über dreieinhalb Stunden um einiges zu lang gerät, nicht unbedingt bei. Die drei Teile sind Studien über verschiedene Seinsaspekte der Medea: Frau – Mutter – Göttin. Latella setzt nur wenige Sprechpassagen, dafür fließen Bilder über Bilder ineinander. Und (manchmal): was für welche! Dazu Musik, sphärische Klänge, altes Saitenspiel, Technobeats.

Vor dem mythischen Unheil: Glückliche Tage

Im ersten Teil entwirft Latella die Vorgeschichte zum Drama des Euripides, schenkt dem Paar glückliche Tage, lässt sie das Gerüst eines Bettes aufbauen, in, um und auf dem ihre Körper sich in stets kindlich wirkendem Spiel umzücken und bebalzen.

Irgendwann jedoch wirft sie vergebens die Arme um ihn, springt ihn an, taucht unter seinen Beinen hindurch. Jason steht schlaff ohne Erwiderung da, beim Onanieren ruft er jetzt den Namen "Creusa". Medea heult, der ganze Körper ist Herzweh. Während ihr die Knie einsinken, spielt sie auf dem Akkordeon einen verzerrten Hochzeitsmarsch. Es ist nicht mehr der ihre. Sie wird griechisch sprechen und sich mit einem Mantel ihre tragische Rolle der Rächerin anziehen.

Nicole Kehrberger wuchtet die Medea hinreißend mit Haut und Haar auf die Bühne, gibt kurz auch der Creusa Gestalt und wirbelt im roten Giftkleid einen Totentanz hin. Michele Andreis Jason hingegen ist eher von untersetzt triebhafter Einfalt, die jedoch durchaus martialisch auftrumpfen kann.

Einübung des Logos misslingt 

Es ist, als seien Latellas fast durchweg nackte "Medea"-Menschen noch ganz Körper, ganz Trieb. Medea – eine Instinktgeschichte? Geschmeidig tappt Medea auf allen Vieren über den Boden, im Mund, im Maul einen Kinderschuh. Später beschnüffelt sie ihre Söhne, deren Köpfe in Gummikindermasken stecken, bevor diese sich blind an die Brust des Muttertiers hängen wie Wolfskinder. Dieser zweite Teil nimmt Bezug auf die homoerotisch gefärbte "Medea"-Version Hans Henny Jahnns und stellt das Heranwachsen der Jungen in den Mittelpunkt.

Während die Mutter sie tänzerisch Verführung lehrt, drillt der Vater zum schneidigen Marsch und lässt sie wie Hunde aus einem Soldatenhelm fressen. Gegenseitig errichtet man sich mit den metallenen Bettgestellen immer wieder Gefängnisse. Medea wird beschimpft und bedrängt, in Angst formt ihre Stimme die zehn Gebote zur verschiedensprachigen Beschwörungsformel aus, die das männliche Vieh allmählich beruhigt. Immer wieder versuchen sich die Figuren im Laufe des Abends am Aufsagen des Alphabets, aber die Einübung des Logos will einfach nicht gelingen.  

Kindermord als Akt der Zärtlichkeit

Der Kindermord erscheint bei Latella weniger als Skandalon denn als ein Akt mütterlicher Zärtlichkeit. Als nähme sie sie zurück aus ihrem missratenen Dasein in ihren Leib, gibt Medea den Söhnen noch einmal Milch zu trinken, von Mund zu Mund. Dann setzt sie den beiden viel zu schnell gewachsenen Jungen wieder die Kindermasken auf, unter der diese friedlich an ihre Brust gelehnt die letzten Atemzüge tun. 

Im dritten Teil wird dann das Irdische abgestreift. Medea schlüpft ins himmlische Brautkleid und windet sich am Ende – Kehrberger ist auch ausgebildete Luftartistin – an einem von der Decke hängenden weißen Tuch in die Höhe. Die Söhne, nun hölzerne Marionettenkörper, zieht sie mit der herabhängenden Brautschleppe hinan, während Jason, ganz Argonaut, in Kapitänsuniform und mit Clownsmaske auf dem Boden zurückbleibt.

 

Studio su Medea
nach Euripides und Hans Henny Jahnn
Regie: Antonio Latella, Kostüme: Rosa Futuro, Tobias Marx, Licht: Giorgio Cervesi Ripa, Musik: Franco Visioli. Mit: Nicole Kehrberger, Michele Andrei, Giuseppe Lanino, Emilio Vacca.

Italienischer Theaterherbst

 

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