Versuch über die Müdigkeit

von Eva Biringer

Berlin, 13. März 2013. Für gewöhnlich wirbt nachtkritik.de mit dem Slogan: "Sie schlafen. Wir schreiben." Heute ist es anders: Sie schlafen, ich schlafe. Oder: Sie schlafen, ich versuche es. Oder: Wir hier schlafen, Sie lesen. Das 2004 in Hildesheim gegründete Kollektiv Turbo Pascal installiert in den Sophiensaelen ein sogenanntes Schlaflabor. Bei "8 Stunden (Mindestens)" sollen etwa achtzig Zuschauer von 21 Uhr abends bis zum nächsten Morgen performativ die Müdigkeitsgesellschaft erfahren.

Protokoll einer beinahe schlaflosen Nacht.

21.18 Uhr: Einlass. Vorerst nehmen die Zuschauer auf den Rängen Platz. In der Mitte des Raums sitzt ein junger Mann und spielt ein orgelähnliches Instrument. Sehr sakral, sehr tragend. Die sechs Performer, unsere Schlafguides heute Nacht, rezitieren Forschungsergebnisse rund ums Schlafen wie "Tatsache ist, dass Schlafentzug seit 2002 als Foltermethode legal ist", skurrile Erkenntnisse, die sich prima für den nächsten Party-Smalltalk eignen. Wie viele der Besucher haben wohl wie aufgefordert ihre Zahnbürste mitgebracht?

21.39 Uhr: Einer der Performer zeigt, wie man die Feldbetten aufbaut, die sich in einer Ecke des Raums stapeln. Bereits jetzt zeichnet sich die Tendenz dieser Theaternacht ab. Mit dem Schlafen verhält es sich wie mit dem Essen: Je mehr man davon spricht, desto hungriger wird man. Ich spüre erste Anzeichen eines regelrechten Schlafneids all jenen gegenüber, die jetzt in ihrem Bett liegen.

21.50 Uhr: Ich genehmige mir einen ersten Bissen vom Betthupferl, das bis zum Frühstück am nächsten Morgen (im Eintrittspreis inbegriffen!) reichen soll. Einschlafrituale werden vorgeführt: Zwei Seiten fürs gute Gewissen im Tausend-Seiten-Wälzer lesen, Mails und Facebook checken, ein Youporn-Video oder eine Folge der Lieblingsserie schauen, Anti-Faltencreme auftragen, Bauchnabelflusen entfernen. Auch die anderen Performer bauen ihre Betten auf.

21.55 Uhr: Mithilfe einer Videokamera und einer von Hand erschaffenen Papierlandschaft entsteht auf einer großen Leinwand ein Alptraum mit kettenschwingendem Rowdiepersonal: "Alles, was Qual erleiden kann, wird brutal vernichtet." In welchen Situationen genießen die Performer ihre Müdigkeit besonders? Was hindert sie daran, mehr zu schlafen? Einer bekennt: "Ich schaffs nicht vor 12 ins Bett, die Stadt ist so geil!"

22.15 Uhr: Jeder Zuschauer richtet sich seine spartanische Schlafstätte ein, was besser klappt als erwartet. Schon jetzt kehren auffällig viele Zuschauer aus dem Foyer mit Bier oder Rotwein zurück. Wollen sie sich in den Schlaf trinken?

8Stunden2 560 GernotWoeltjen xNeidisch?  © Gernot Woeltjen

22.45 Uhr: Speeddating! Innerhalb von zwei Minuten sollen nebeneinanderliegende Schläfer sinnstiftende Fragen diskutieren: Kann Schlafen Widerstand sein? Ferner werden anhand der Schlafposition Persönlichkeitsprofile erstellt. Merke: Der Fallschirmspringer lässt auf einen geselligen, aber dünnhäutigen Menschen schließen. Nach so viel Tiefenpsychologie haben sich die Teilnehmer ein Powernapping verdient.

23.40 Uhr: Polizeimeldungen über Füchse mit fehlenden Vorderpfoten und "Meistern des Mittagsschlafs" verklingen im Raum. Erste Komplizenschaften entstehen über den Bettrand hinweg. Kartenspiel.

0.07 Uhr: Auf der Damentoilette putzt sich eine Zuschauerin die Zähne.

0.30 Uhr: Spätestens jetzt heißt es: Erkenne Dich selbst! Lerche oder Eule? Für später kündigt sich der Pizzalieferservice an. Wo sind die Vegetarier? Bis zwei Uhr ist die Bar geöffnet. Wer mag, kann seine Träume in ein Traumtagebuch schreiben. Eine Stimmung wie auf Klassenfahrt in der Mittelstufe: Hier die Verwegenen, die schon die kommenden Stunden planen, da die braven Musterschüler, die es kaum erwarten können, ihr Bett zu beziehen. Ohrstöpsel und Zahnbürsten machen die Runde. Alles wuselt. Hält man durch? Spätestens jetzt gilt es auch, sich zum Aufbruch zu entscheiden. Schließlich fahren auch in der Supermetropole Berlin die U-Bahnen nicht die ganze Nacht.

0.40 Uhr: Die Aussicht auf lediglich zwei Stunden Schlaf trübt die Laune. Thematisch orientieren sich die Wiegenlieder, die einer der Performer an der Akustikgitarre performt, am Beipackzettel eines Schlafpräparats. Es gibt nicht genug Schlafmasken für alle. Um mich herum rumpelt es, Flaschen fallen um, ein Kommen und Gehen wie zur Rush Hour an der Friedrichsstraße. An Schlaf ist nicht zu denken. Rotwein. Kartenspiel.

1 Uhr irgendwas: Dumpfe Wortfetzen dringen bis hinter die Ohropax (wenigstens davon habe ich ein Paar abbekommen). Denkst Du noch oder träumst Du schon?

3.25 Uhr: Musik! Krawall! Schräger Gesang, "Du hast die falschen Träume!" Performer und einige Zuschauer wuseln in Decken gewickelt durch den Raum, was furchtbar unangenehm ist und anstrengend; zweimal trifft einen die Decke im Gesicht. Lauwarme Pizza. Wir sollen jetzt Thesen zur Müdigkeitsgesellschaft erörtern. Nur eine dringt wirklich in mein, nun ja, müdes Hirn: Der müde Mensch hört auf zu wollen und spielt nur noch. Homo ludens! Da, wo wir spielen, sind wir ganz bei uns! Im Schlaf! Darüber sollte man morgen noch mal nachdenken.

4.00 Uhr: Mit der Aussicht auf ein "theatrales Bonmot" werden wir nach draußen gescheucht. Auf dem Weg lernen wir, dass der Schlaf bis vor 150 Jahren in einen ersten und zweiten Teil gegliedert sein soll. Ob die Leute jede Nacht spazieren gingen?

4.15 Uhr: Präludium in der Sophienkirche. Friedrich Greiling an der historischen Orgel. Erstaunte, für den Moment muntere Gesichter. Rückkehr.

4.45 Uhr: Zwei Teilnehmer streiten. Ich lege mich wieder hin.

6.58 Uhr: Sie schlafen, ich frühstücke. Eine Nacht lang haben Turbo Pascal die Utopie einer ineffizienten Gesellschaft geübt. In erster Linie entsteht dadurch die Illusion einer temporär eingeschworenen Gemeinschaft, nicht nur aufgrund der physischen Nähe im Schlafsaal, sondern auch durch das initiierte Speeddating-Kennenlernen, wo so intime Fragen wie "Wovon träumst Du?" gestellt werden. Theaterereignisse dieser Kategorie haben es schon durch ihre bloße Überlänge auf die Überwältigung der Zuschauer abgesehen; es schreit geradezu "Kollektiv!" Von einer solchen temporären Sinnstiftung auf ein politisches Moment zu schließen, ist bei "8 Stunden (Mindestens)" einen Schritt zu weit gedacht. Schlafen als subversive Strategie gegen das Verwertungsdiktat? Wenn es denn so einfach wäre. Wie auch Zweifel an Turbo Pascals Behauptung bleiben, die Stunden in den Sophiensaelen seien "die  ineffizientesten unseres Lebens." Entspannt Euch! Dieses Schlaflabor braucht den engagierten Impetus nicht. Gute Nacht.

 

8 Stunden (Mindestens). Ein Schlaflabor für die Müdigkeitsgesellschaft
von Turbo Pascal
Ausstattung: Janina Janke, Musik: Friedrich Greiling, Video: Gernot Wöltjen, Produktion/ Dramaturgie: Margret Schütz, Assistenz: Julia Bach, Charlotte Elsa Grief.
Mit: Golschan Ahmad Haschemi, Thorsten Bihegue, Verena Lobert, Veit Merkle, Frank Oberhäußer.
Dauer: 10 Stunden

www.sophiensaele.com

 

Mehr zur Müdigkeitsgesellschaft: In Karlsruhe ließ Stefan Otteni die Zuschauer auf Matratzen über Müdigkeitsgesellschaft / Versuch über die Müdigkeit nachdenken.

 

Kritikenrundschau

"Nebel statt Nachtsichtigkeit," bringt in der Berliner Zeitung (15.3.2013) Doris Meierhenrich ihren Eindruck auf den Punkt. Aus ihrer Sicht nämlich bleibt es in der Performance meist beim "Umhergeistern der leeren Worte". Dabei findet sie die Ausgangsfragen des Abends durchaus bedenkenswert. Positiv zumindest wird von der Kritikerin vermerkt, dass sich die fünf Performer nicht in dem Paradox verfangen, "schlaflos über Schlaf zu sinnieren". Denn: "es so wurde nicht viel geredet in dieser Nacht, sondern aktivistisch geschlafen."

Kommentare  
8 Stunden, Berlin: geträumt
Die rbb-Inforadio-Frühkritikerin hat auch kein Auge zugemacht, und ihr fällt es ebenfalls
merklich schwer, der Performance etwas abzugewinnen, allerdings weniger, wie es im Karlsruhe-Müdigkeitsthread heißt, weil es da keine Texte gäbe von Han bis bzw. und
Handke, sondern der Zeitpunkt gen 3:30 Uhr ganz offenbar in den meisten Fällen
dafür sorgt, daß der philosophische -scheinbar mehr Parcours als Diskurs- Teil der
Sache eher eine natürliche Abschottungsreaktion provoziert, die auf die Thesen Hans zu reduzieren wohl ebenso anmaßend wäre, wie einer müden Person ihre Müdigkeit vorzuhalten (Handke schreibt das sehr klar zu Beginn seines Essays, daß ihm diese, die Müdigkeit, nie zum Vorwurf von der Familie her gereichte).
Die vorgebliche "Schlaf-Laborsituation" erscheint den bisherigen Kritiken zufolge auch eher als aufgepfropft (es gibt dazu in einem Vorbericht vom rbb durchaus
auch Bildmaterial), wenn sich etwa einige Performer vor einen Schlafenden stellen und über dessen vermeintliche Träume orakeln (da orakel ich lieber selber, siehe Schlußsatz).
Wer nach längerer Reise nach Berlin kommt, könnte möglicherweise drüber hinwegschlafen und für 18 Euro eine Übernachtung mit Frühstück für sich verbuchen mit einem kleinen Seitenblick darauf, was "kulturell" so in Berlin los ist.
Ich hoffe sehr, daß es noch irgendjemanden gibt, der dieser Sache mehr abgewinnen konnte/kann als es bislang erscheint (ich spielte heute morgen ja schon mit dem Gedanken, nach Berlin zu fahren, war aber, Ironie des Schicksals, dafür viel zu müde, vor allem weil die benachbarte Einzelhandelsfestung um 2 Uhr Alarm über den gesamten Stadtteil erschallen ließ, jede Viertelstunde bis etwa 4 Uhr (immerhin kann ich die obige "Folterinstrumentsthese" bejahen) ; auch so ein Signum der Zeit,
derlei Privatunternehmen, die sich allerlei Beschallungen qua selbstzugesprochener
allgemein-öffentlicher Wichtigkeit herausnehmen (anderenorts diskutiert man Glockengeläut und Muezzingesang zu weit erträglicheren Zeiten !), und um eine "Arbeits/Konsum"-Welt, die keine gemeinsamen Müdigkeiten, erhabene, rechtschaffene mehr kennt, dreht sich ja der Han-Handke-Komplex). Vielleicht Han oder Handke mit als Bettlektüre da hineinbringen; das wäre statt des Kartenspiels möglicherweise noch eine Option. Überhaupt, wie Frau Meierhenrich das beschreibt, klingt das auch für meine (der Sache zugewandten) Ohren gruselig: fast alle ZuschauerInnen in Montur und Ausrüstung nahezu reif für das erste Basislager am Nangaparbat, ich ahne schon wieder die "aggressive Betulichkeit", die ich so liebe, die Vierzehntagesbuddhisten, sehe wieder die "Wolfskins", "Wellensteins", "Northfaces", und alles ist gar ganz nett - da kommt ne ganze Vorurteilslawine bei mir in Gang,
gebe ich zu, muß dann unwillkürlich wieder an den Film "Go for Gold" denken
(auch Gold hat am nächsten Morgen alles wieder vergessen, aber aus anderen Gründen) und den Selbsterfahrungstrip auf der Müllhalde. Dennoch, mein Anreiseweg wäre schon gut für eine schöne Müdigkeit an so einem Abend: ein Reiz bleibt da schon. Möglicherweise hätte man den SIGNA-Abend und diesen kurzschließen sollen: wäre schon spannend zu sehen, ob diejenigen, welche 6 Stunden Wedding hinter sich haben, in den Sophiensälen angekommen, wie eine Müdigkeitsinfusion der "wahren" Wir-Müdigkeit erscheinen würden ! Sollte ich es morgen nicht zu dem Abend schaffen: das jedenfalls hätte ich geträumt !.
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