Der Kirschgarten - Thorsten Lensing und Jan Hein geben in den Berliner Sophiensaelen mit einem Starensemble Tschechow melancholiefrei
Ich bin eine Episodenfigur
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 9. Dezember 2011. "Ich liebe ihn, ich liebe ihn", sagt die Gutsbesitzerin Ranjewskaja. Die Liebe zu ihm sei wie ein Mühlstein, den sie um den Hals trage und der sie irgendwann in den Abgrund reißen werde. Hat die sich selbst und allen anderen ständig kokett ausweichende Hauptfigur von Anton Tschechows "Der Kirschgarten" da etwa einen lichten Moment?
Bei Ursina Lardi, die in der Inszenierung von Thorsten Lensing und Jan Hein (Theater T 1) die Ranjewskaja spielt: ganz entschieden nicht. Denn in dieser Inszenierung geht es um das Gegenteil vom Zu-sich-Kommen, um alles, was jenseits der lichten Momente stattfindet. Also spricht die Ranjewskaja über ihre Liebe zu dem Mann, vor dem sie die Flucht auf ihr heimatliches Gut angetreten hat, in einem Ton, der knapp daneben liegt, der diesen lichten Moment als einen gespielten lichten Moment entdeckt.
Laut, brutal, cholerisch
Vielleicht hofft sie, durchs Verzweiflung-Spielen die echte Verzweiflung in sich zu evozieren, die ja immer noch besser ist als die Langeweile. Laut, brutal und cholerisch bewegen sich alle "Kirschgarten"-Figuren bei Lensing/Hein über die Bühne, um ja keine solche aufkommen zu lassen. Das war auch schon in ihrem Onkel Wanja 2008 so, wo es allerdings mit dem Sich-in-einen-lichten-Moment-Hineinspielen dann doch noch ab und zu etwas wurde.
"Ich bin eine Episodenfigur", diagnostizierte die von Onkel Wanja geliebte Jelena da einmal. Das scheinen Lensing/Hein und ihr starfunkelndes Ensemble sich für ihre Exkursion in den "Kirschgarten" zu Herzen genommen zu haben. Was sie mit diesem Stück präsentieren, ist eine Ansammlung von Figurenepisoden, in der es von Episodenfiguren nur so wimmelt.
Diese Figuren bauen ganz zu Anfang schnell noch eine Ziegelmauer auf. Vor dieser Mauer wird der erste Akt gespielt; dann wird sie umgerissen. Während des zweiten Akts, der in der freien Natur spielt, bilden die Mauersteine ein gebirgiges Draußen. In der Pause, vor dem dritten und vierten Akt, die wieder im Gutshaus stattfinden, wird die Mauer erneut aufgebaut.
Stark figurenzeichnend wirken die farbenfrohen Kostüme: Ranjewskajas Tochter Anja (Aenne Schwarz) trägt einen tief ausgeschnittenen Cardigan verkehrt herum, entblößt also große Teile ihres entzückenden Rückens. Der vielgelobte Pariser Chic ihrer toughen Mutter, die ihre schönen Beine in einem äußerst kurzen roten Kleid gewagt in Szene setzt, ist ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen. In puncto Sexiness steht auch die oft als graue Maus angelegte Warja (Anna Grisebach) den anderen nicht nach: In schwarzen Pumps, das Schlüsselbund wie ein Accessoire an den losen Hüftgürtel geschnallt, stöckelt sie durchs Gut – kein Wunder, dass es da ab und zu mit Lopachin (Devid Striesow) durchgeht. Auf dessen Trieb-Attacken reagiert Warja stets mit einer Aggression, die ihren eigenen Trieb verrät.
Gruppenszenen im Zerfallen
Währenddessen bietet sich das Dienstmädchen Dunjascha (Maria Hofstätter) dem zugereisten Diener Jascha (Philipp Richardt) an und pudert sich dann Tränen ins Gesicht, nachdem sie von ihm fallen gelassen worden ist. Und der unfähige Gutsverwalter Jepichodow (Joachim Król), der sich ständig zwischen verzweifelter Liebe zu Dunjascha und Selbstmord entscheiden muss, verkündet irgendwann: "Ich kenne meine Fortune."
Ihre Fortune scheinen sie alle von Anfang an allzu gut zu kennen. Dementsprechend unterkühlt wirken die Gruppenszenen. Wie auf einem Bandfoto lungern sie da in der Gegend herum und scheinen sagen zu wollen: Wir stehen jetzt hier nur zufällig zusammen. Die Disparität seiner Figuren, die Tschechow besonders in diesen Gruppenszenen ausleuchtet, wird von Lensing/Hein nochmals unter die Lupe genommen.
Was dabei herauskommt, ist ein garantiert melancholiefreier Theaterabend. Eine Komödie, so bezeichnete Tschechow den "Kirschgarten", wird's allerdings deshalb nicht. Dazu tritt die Handlung des Stücks zu sehr in den Hintergrund, und die Figuren sind zu eingesperrt in ihrer Überspanntheits-Dimension. In einer Aneinanderreihung scheinexplosiver Momente hat der einzelne scheinexplosive Moment es schwer.
Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Deutsche Übersetzung von Thorsten Lensing und Jan Hein
Regie: Thorsten Lensing, Jan Hein, Kostüme: Anette Guther, Christel Rehm, Musik: Willi Kellers.
Mit: Ursina Lardi, Aenne Schwarz, Anna Grisebach, Peter Kurth, Devid Striesow, Lars Rudolph, Rik van Uffelen, Horst Mendroch, Joachim Król, Maria Hofstätter, Valentin Jeker, Philipp Richardt, Willi Kellers, Benjamin Eggers.
www.sophiensaele.de
Auf welchen Bühnen waren einige der hier Versammelten letzthin zu sehen? Devid Striesow in Dantons Tod bei Laurent Chétouane, Ursina Lardi im Kronauer-Solo Die Kleider der Frauen von Lensing/Hein, Peter Kurth in Die Wohlgesinnten von Armin Petras nach Jonathan Littell, Joachim Król – auf keiner Bühne, dafür neuerdings im "Tatort" als Ermittler Frank Steier.
Dem Musiktheaterkritiker des Tagesspiegels Frederik Hanssen (11.12.2011) war es vor allem einmal: zu laut. "Sobald es um Gefühle geht, wird bei Thorsten Lensing geschrien, und zwar von allen Beteiligten" (weshalb der Text die schöne Überschrift "Brüller, zur Sonne, zur Freiheit!" kriegt). Ansonsten mute alles – entgegen dem Credo des Regieteams – äußerlich sehr stadttheaterhaft an und inhaltlich völlig entleert: "Hier gibt es kein gesellschaftliches Oben und Unten, keine Reibung zwischen Dienern und Herren, Finanzstarken und Antriebsschwachen. Lautstärke ersetzt innere Kraft, Handgreiflichkeiten die Haltung zur Figur. Ausgestülpte Worte ohne Zwischentöne – was nützt es da, den Originaltext ungekürzt zu spielen?" Das alles sei ein "halb verdauter Hauptstadt-Stilmix: Emotionsfreie Postdramatik, wohlfeiles Performancetheater, das für den Schlüpfer-Gag, jeden Ekel-Effekt sofort den Inhalt verrät (…)."
Matthias Heine haut in der Welt (12.12.2011) in dieselbe Kerbe namens Brülltheater: Wenn Lensing/Hein "schon jeden Darsteller der Welt haben können, dann wäre es doch viel logischer gewesen, Aal-Jürgen vom Hamburger Fischmarkt, einen Einpeitscher aus der Hertha-Ostkurve, Claudia Roth von den Grünen, einen Karnevalssänger sowie andere Schreihälse, Permanenthysteriker und Volldampf-Betriebsnudeln zu verpflichten. Die würden den künstlerischen Ansprüchen der Inszenierung viel eher genügen können." Oder anders gesagt: "Denn selten ist außerhalb des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes einem Publikum dermaßen hartnäckig etwas vorgeschrien worden wie hier." Zu welchem Zwecke der Krakeel? "Vielleicht wollen Lensing und Hein gerade das prollig Gewalttätige in Tschechows sonst oft so melancholisch gezeichneten Figuren herausstreichen. Eventuell möchten sie sogar das nach dem Ende des Sozialismus so vernachlässigte Arbeiter-und-Bauern-Theater wiederbeleben."
Behutsam und historisierend wie bei der Sanierung der Sohiensaele gehe es auf der Bühne nicht zu, so Volker Corsten in der FAZ Sonntagszeitung (11.12.2011). Lensing und Hein "zeigen in ihrer eigenen, derben Übersetzung eine Welt der Gierigen und Nervösen, der Zocker, die viel zu viel, wenn auch nicht alles, gesetzt haben" und nun auf ihr Urteil warten würden, auch wenn nicht klar sein, was es überhaupt zu gewinnen gebe. Fazit: "Sie alle steigen vom ersten Ton an hoch ein. Zu hoch. Sie können den Einsatz nicht halten. Was aber nicht heißt, dass damit gleich alles verloren ist."
Eine funktionierende "Teamarbeit" erlebt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (12.12.2011) und für die Frankfurter Rundschau (12.12.2011) lediglich beim anfänglichen Aufbau der Ziegelmauer. Anschließend sehe das Stück so aus, "als hätten Lensing und Hein ihren Teil der Arbeit zu früh als abgeschlossen betrachtet und zu früh aus der Verantwortung gegeben − in die Hände der Schauspieler". Vereinzelte großartige Momente entdeckt der Rezensent im Spiel von Ursina Lardi, Devid Striesow, Peter Kurth, Lars Rudolph, aber Joachim Król mit seinen "gut gebauten Slapstick-Nummern", jedoch: "Es gibt − anders als bei 'Onkel Wanja', der sich organisch ins Orgiastische aufschaukelte − keine Entwicklung. Von Beginn an gehen im 'Kirschgarten' Emotionstölpel aufeinander los, mit Tritten, Schlägen, Tassen, Möbeln ohne einander zu erreichen." So komme es, "dass man Schauspieler statt Figuren sieht und Kostüme statt Konflikte".
Andrea Gerk ist in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (9.12.2011, hier im Podcast) fasziniert von diesem Schauspiel: "Es lebt total von diesen eigenwilligen, facettenreichen Hochkarätern"; diese Schauspieler, die man sonst in Film- und Fernsehrollen eher leise Töne anschlagen höre, drückten hier "ganz schön auf die Tube", so als wären sie froh, sich einmal richtig "austoben" zu können. Die Inszenierung sei "auf eine brutale Arte leer und rau", die Figuren würden "bei der geringsten Kleinigkeit aus der Haut fahren". In dieser Weise böte die Inszenierung die Lesart an, dass in diesem "Kirschgarten", die "Zerstörung schon stattgefunden hat, eigentlich von Anfang an." Der Kirschgarten trete als realer Ort in den Hintergrund und werde zum Raum unterschiedlicher Wunschprojektionen, "ein allgemeines Bild von Zerstörung, Verzweiflung und Verrutschtheit."
Die "denkbar bunt und plakativ zusammengewürfelte Besetzung" hinterlasse in der Aufführung "einen entsprechend disparaten Eindruck", befindet Peter Hans Göpfert im rbb Kulturradio (10.12.2011). "Verschiedene darstellerische Stile geraten da durcheinander. Jeder spielt seinen eigenen Stiefel." Von einer Regie sei nichts zu merken. "Die Aufführung kokettiert dreieinhalb Stunden mit ihrem scheinbaren Charakter einer Probe und Improvisation und einer zeitgeistig vergröbernden eigenen Übersetzung." Dabei gibt für den Kritiker immerhin Devid Striesow seiner Rolle als Lopachin "eine interessante und konzentrierte Pointe".
Einen "Abend mit hoher emotionaler Dichte" hat hingegen Dirk Pilz von der Neuen Zürcher Zeitung (13.12.2011) gesehen, eine "Studie zur Ergründung von Gefühlszuständen", bei der alles aus der jeweiligen Spielsituation heraus entwickelt werde. "Kaum ein Gang, eine Geste, ein Ton scheint festgelegt zu sein, immer agieren die Darsteller in grosser schauspielerischer Freiheit, allein ihren Figuren und deren Zuständen verpflichtet. Entsprechend unberechenbar, sprunghaft sind sie." Dadurch werde "Der Kirschgarten" zur "Komödie der Unmittelbarkeit". Dass das viele Rennen, Schreien und Schwitzen "nicht zu blindem Aktionismus" führe, sei dem "edlen Ensemble" zu verdanken. Es spiele "Menschen, die in Gefühlszuständen feststecken". Lardi zum Beispiel, die ihre Ranjewskaja zwischen größtmöglichen Widersprüchen aufspanne, sie jedoch nie "ins Sentimentale abdriften" lasse. Ein "beissend nüchterner Abend". Lensing/Hein erlaubten ihren Schauspielern "alles, nur keine verschwiemelte Gefühligkeit".
"Bloß nicht als elegische Birkenhain-Pastorale, sondern roh und rüde" wollen Lensing/Hein ihren Tschechow Christopher Schmidt zufolge gespielt wissen, dessen Kritik die Süddeutsche Zeitung am 15.12.2011 nachreicht. "Tschechow unplugged" also, nur leider wirbele diese "Kirschgarten"-Inszenierung nicht annähernd so viel Staub auf wie die Steine, die die Schauspieler am Anfang zu einer Mauer schichten. Fahrig und betont aufgekratzt fange alles an, laut und ungebärdig, "aber auch wenn das Tempo später rausgenommen wird, bleibt der Spielfluss stockend, wirkt die Aufführung unorganisch und ungefüge." Es herrsche das pure Verkehrschaos. Trotzdem gelängen den Star-Schauspielern "selbstverwaltet einige feine Figurenprofile".
"Lensing und Hein versetzen die Geschichte in eine totale Postmoderne", befindet Andrea Heinz in der Zeit (15.12.2011). "Sie tun das nicht etwa mittels alberner Modernisierung (auch wenn Devid Striesow einmal ein affiges Glitzerhemd trägt), sie drehen einfach nur an der Gemütsverfassung ihrer Figuren herum." Heraus komme eine völlig hysterische Inszenierung, "in der man fast meint, die blank liegenden Nervenfasern der Darsteller sehen zu können". Es gehe hier "um die Verfasstheit des Menschen, dessen Gott tot ist. Diese Menschen suchen etwas, sie nennen es Geld oder Liebe, Paris oder Kirschgarten. Am Ende aber suchen sie nach etwas, das sie vollständig macht, und sie zerbrechen, weil sie einfach nicht wissen, was das sein könnte."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
- 04. Oktober 2024 Deutscher Filmregisseur in russischer Haft
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
neueste kommentare >
-
Neumarkt Zürich Klage Unpassend
-
Kultursender 3sat bedroht Augen öffnend
-
Kultursender 3sat bedroht Link zu Stellungnahme
-
Kultursender 3sat bedroht Beste Informationen
-
Neumarkt Zürich Klage Kommunikation von Besetzung
-
Onkel Werner, Magdeburg Mein Eindruck
-
Glaube, Geld, Krieg..., Berlin Großer Bogen, aber banal
-
Penthesilea, Berlin Mythos im Nebel
-
Neumark Zürich Klage Take it or leave it
-
Neumark Zürich Klage Schutz?
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Krol: Schwach tragisch und kaum komisch, Lardi: wieso guckt die immer Richtung Rang? Striesow: Eigentlich O.K, aber: Stress mit den Händen? Kurth: Leider verschenkt und der guckt immer Höhe Reihe II! Rudolph: Gelegentlich komisch tragisch! Der Rest: prall(t)en aufeinander .... aber wozu? Regie: Wollen wir sie reinlasse ? Nee, draussen bleiben...
Sophiensaele: Unbedeutene Eröffnung (...) Öffnet die Häuser für Qualität!!
Und das fand ich ebenso komisch wie traurig, absolut menschlich und dadurch berührend.
Da sind wir ja mal einer Meinung. Endlich ein Kritiker der sich nicht nur vorrangig über die Lautstärke auslässt, sondern auch versucht das Konzept von Lensing/Hein wenigstens halbwegs zu verstehen. Es wird immer Leute geben, denen es im Theater zu laut oder zu leise ist, aber die haben glaube ich ein ganz anderes Problem. Wenn Heine beim Verfassen solcher Kritiken schon einen „Inneren Reichsparteitag“ vollzieht, sollte er demnächst vielleicht von der Fußballeuropameisterschaft berichten, aber ohne Ohrstöpsel bitte. Ich fand keine Minute langweilig oder überdreht. Es war so ziemlich der aufregendste Theaterabend der bisherigen Spielzeit. Dass man sich darüber auch aufregen kann, verstehe ich ganz gut, dass dann aber an der Lautstärke festzumachen, ist einfach nur ärgerlich. Hier mangelt es offensichtlich grundsätzlich an der Einstellung zu so einem etwas außergewöhnlichen Versuch und dem nötigen Vorstellungsvermögen. Die dargestellten Gefühlszustände in ihrer ganzen Radikalität sind unglaublich heutig. Figuren, denen es aus den unterschiedlichsten Gründen zum aus der Haut fahren ist, tun das eben hier mal ausgiebig. Tschechow wird dabei in keiner Weise beschädigt. Im Gegenteil, das weinerliche und lethargische Einerlei bisheriger Figurenzeichnungen, die sich nur noch durch den Einsatz von etwas mehr oder weniger Ironie oder melancholischem Clownsgehabe unterschieden, wurden endlich durch echte Menschen aus Fleisch und Blut ersetzt. Raus mit der Wut und weg mit der falschen Melancholie. So kommen die Charakterschwächen und auch -stärken der Tschechow-Figuren mal ganz ungefiltert zum Vorschein. Wer es betulicher mag, kann ja ins BE gehen, das falsche Foto zum NZZ-Artikel ist aber schon wieder verschwunden, wie ich gesehen habe. Jürgen Holtz hätte tatsächlich auch in die sophiensaele gepasst. Stimme und Ausstrahlung hat er zumindest noch, auch wenn es zum Steinestapeln vielleicht nicht mehr reicht.
Wir haben ja Gott sei Dank noch Presse- und Meinungsfreiheit in diesem Land und es ist tatsächlich erlaubt, Schauspieler zu kritisieren (man glaubt es kaum). Herrn Hanssens Äußerung ist nicht mehr und nicht weniger als das, eine persönliche Beleidigung (die zu beanstanden wäre), kann ich beim besten Willen nicht erkennen. Er beschreibt den Klang von Rudolphs Stimme und um erhrlich zu sein, so weit weg von der Wahrheit ist er dabei wirklich nicht. Ob der Tagesspiegel nun unbedingt seinen Musikkritiker zum Kirschgarten schicken musste, lasse ich mal dahingestellt.
Eine komplette Kritik gibt's heute abend unter http://stagescreen.wordpress.com/
(Lieber Prospero, Kritik an Schauspielern ist weder verboten noch ausdrücklich unerwünscht. Aber bitte in angemessenem Ton und vor allem ohne Unterstellungen - ich denke, Sie wissen, was ich damit meine. Viele Grüße aus der Redaktion, Sophie Diesselhorst)
(Tut mir leid, lieber Prospero, in der ersten Version liest sich das immernoch ganz deutlich wie eine Unterstellung für mich, habe gerade nochmal geguckt. Jetzt haben Sie's uns ja hiermit nochmal anders formuliert untergejubelt - so formuliert, dass ich das bedenkenlos veröffentliche. Viele Grüße, Sophie Diesselhorst)
Da müssen wir wohl bis heute Abend warten, um ihre Begründung der "Brüllkulisse" zu lesen. Wenn Sie dann aber in die gleiche Tröte blasen wie die anderen Kritiker, kann ich mir das Lesen wohl ersparen. Wollte einen Link zu meiner Sicht der Dinge setzten, habe aber gerade eine technisches Problem. Also dann bis heute Abend, ich hoffe Sie haben dann ernstzunehmende Fakten und keine Unterstellungen zu bieten. Was Lars Rudolph betrifft, ist seine Stimme nun mal sein Markenzeichen, er hat keine andere. Ihm das als Makel zu attestieren, zeugt schon von Ignoranz oder Unkenntnis. Das kann man schon als Beleidigung auffassen. Ein anderer Kritiker der Welt, hatte ebenfalls körperliche Merkmale eines Hamlet-Darstellers in Hamburg bemängelt, von jodelnden Muezzinen mal abgesehen. Das scheint so Usus zu sein in Springers Weltpresse. Herr Heine hat sich da nicht zum ersten Mal hervorgetan. Frederik Hanssen ist mir bisher nicht bekannt gewesen, er sollte weiter in die Oper gehen und die Theaterkritik seiner kompetenteren Kollegin beim Tagesspiegel überlassen. Man kann sicher einiges gegen die Inszenierung von Lensing/Hein vorbringen, mich hat davon aber noch nichts wirklich überzeugt. Was Krol betrifft, hat er wie alle Schauspieler in dieser Produktion tapfer gekämpft, denn Kampf ist das wohl, aber besonders hervorgestochen hat er nicht gerade. Sie haben ja auch Langhoffs "Kirschgarten" gesehen und nicht gerade gut darüber geschrieben. Hier haben Sie nun einen diskussionswürdigen Gegenentwurf, den manche Kritiker zu schnell abgeurteilt haben. Einen mehrfachen Lopachin haben Sie bemerkt, schreiben Sie da. Nun, das liegt wohl daran, dass Striesow das Tschechow`sche Maskenspiel fast perfekt beherrscht, aber auch bei Ursina Lardi ist das stellenweise sehr auffällig. Also ich lasse mich lieber alle zwei bis drei Jahre mal anbrüllen, als gänzlich wegzusacken, in der üblichen Berliner Beliebigkeit.
Also Schreitherapie ist Ihr großes Fazit, echt billig lieber Prospero. Und hoffen Sie nicht all zu sehr auf Kimmig am DT, Sie könnten wieder enttäuscht werden. Nehmen Sie sich aber auf jeden Fall eine Kanne starken Kaffee mit. Bis nächstes Jahr dann.
Ich wollte ursprünglich keinen Bezug auf Ihre Kommentare nehmen - ich tue es nun doch: Ihre Überheblichkeit schmerzt. Ihre Vermutungen, nicht weit von Unterstellungen entfernt, sind mir nur schwer erklärlich. Ich weigere mich Ihnen niedere Beweggründe zu unterstellen. Nur, woher kommt diese Häme? Und wann, an diesem Abend, haben Sie sich entschieden, nicht mehr hinsehen zu wollen?
Im Übrigen wurde ich während der Vorstellung, was mir kaum möglich schien, immer wacher. Am Ende hellwach, elektrisiert. Die Verzweiflung sich aus ihrer Lethargie nicht mehr befreien zu können, die Erschütterung über die Erkenntnis den Moment für eine Umkehr ins Leben verpaßt zu haben, übertrug sich, dank phantastischer Schauspieler, auf mich. Zu erfahren, zu begreifen, warum Lopachin als ambivalenter, aber äußerst sympathischer Tatmensch sich den scheinbaren Makel seiner Herkunft aus dem eigenen Gedächtnis (und dem der anderen) zu wischen sucht, gelang gerade nur durch Devid Striesows meisterhaftes, beispielloses, selbstbewußtes Spiel. Auch Ursina Lardi vergisst nicht eine Sekunde lang, daß sie eine Rolle spielt - dadurch gelingt ihr m.E. erst diese zugleich hellsichtige und wahnsinnige Ranjewskaja. (Immer wieder bin ich überrascht – obwohl ich es inzwischen sollte -, wie Ursina Lardi es schafft ihren von Beginn an verurteilten Figuren – ob vor Jahren schon ihre Salome in Düsseldorf, oder ihrem Gretchen in Frankfurt - eine schier übermenschliche Kraft, eine Selbstgewissheit zu verleihen. Ich behaupte, Ursina Lardi ist die unsentimentalste und damit interessanteste Tragödienspielerin unserer Zeit.) Ebenso haben die Figuren der hinreißenden Anna Griesebach und des wunderbaren Peter Kurth diese leuchtenden Momente, in denen es aufblitzt, das Wissen, verloren gegangen zu sein. Fast alle spielen dagegen an, ihre Figuren in diesem „limbus“ zurück zu lassen. Und nur dadurch ist m.E. die Bestürzung über die Waghalsigkeit und Sinnlosigkeit dieses Unterfangens am Ende dieses Abends möglich. Valentin Jeker, Horst Mendroch und Joachim Krol bilden mit ihrer Zartheit, ihrer Komik und ihrem Fatalismus in dieser beeindruckenden Komposition quasi den Kontrapunkt.
Ich gestehe Ihnen und allen anderen gern zu, eine vollkommen gegensätzliche Meinung zu diesem Abend zu haben. Dass so mancher Befürworter dieser Inszenierung damit Probleme zu haben scheint, dies mir und anderen die einen ähnlich schwachen Abend gesehen zu haben, ebenso zuzugestehen, ist mir nicht erklärlich und spricht nicht gerade für Sie. Und übrigens, ich habe gut drei Stunden lang hingesehen. Leider.
In Ihrem Blog, den nachtkritik.de Sie hier selbstlos verlinken läßt, fühlen Sie sich aber berechtigt, aus einer, wie soll ich es ausdrücken? - allgemeingültigen Position, also für viele, zu sprechen. Und was ist das anderes als Überheblichkeit? Bein Ihnen werden Menschen (auch hier im thread) zu Dingen, sie diskreditieren Schauspieler (die in Ihrer Sichtweise nur in der Lage sind, pathologische, schnoddrige, pöbelhafte, unsympathische, grobschlächtige, vollständig entleerte Figuren zu kreieren) Ach, herrje, es ist mühselig aus ihren Kommentaren und Texten zu zitieren.
Sie behaupten, sie hätten drei Stunden lang zu gesehen. An anderer Stelle heißt bei Ihnen aber, daß das was Sie sehen "mußten", irgendwann nicht weiter interessieren würde, sich überdies nicht erschließen würde etc. Nirgends ein Wort davon, daß es IHNEN so geht. Und wie ich zuvor bemerkte, ist das schwer zu ertragen.
Ich denke, ein Abend wie dieser, mit Schauspielern wie diesen, hat mehr verdient, als abgekanzelt zu werden, nur weil ein sehr spezieller Zugriff gewählt wurde, weil es laut und aggressiv war. Ich habe sogar den Eindruck, daß die unverklärte, unerbittliche Perspektive auf Tchechows Tableau auch ein Anspielen gegen die quasi kanonisierte Interpretations- und Inszenierungsvorgabe und die damit verbundenen Erwartungen, die offensichtlich der Aufführungsgeschichte dieses Stückes geschuldet sind, ist.
Achja, nicht selten berufen sich auf die Meinungsfreiheit vor allem jene Menschen, die en passant gern ein wenig beleidigen.