Spiel uns den Song vom Stunt

30. Juni 2023. Mit "Ophelia’s Got Talent" hat Florentina Holzinger den Berlin-Hit der Saison gelandet. Ihre "Kranetude" ist ein Postskriptum, in dem die Choreographin und Performerin im Seebad Friedrichshagen nackte Frauenkörper erneut mit einer Riesenmaschine konfrontiert.

Von Esther Slevogt

"Kranetude" von und mit Florentina Holzinger © Mayra Wallraff

30. Juni 2023. Die Show ist kurz, aber sie hat es in sich. Nicht mehr als 37 Minuten brauchen Florentina Holzinger und ihr Team im Seebad Friedrichshagen, um die Spielzeit in Berlin ebenso fulminant abzuschließen wie sie sie im September letzten Jahres begonnen hatte: Mit der theatertreffengekrönten Mega-Wasser-Women-Show Ophelia's Got Talent an der Berliner Volksbühne, die untergründig auch von der Unterwerfung der Frau als Kollateralschaden des fossilen Zeitalters und seiner Mordsmaschinen handelt. In einem spektakulären Bild greifen dort am Ende an Seilen fliegende nackte Frauen einen Helikopter an.

Dirigentin der Naturgewalten

Jetzt steht wieder so eine Riesenmaschine da: ein Raupenkran der Firma Sennebogen, der schon bald sieben leblose unbekleidete Frauenkörper aus dem Wasser in schwindelnde Höhen zieht. Zuvor hatten am Ufer vier nackte Percussionistinnen Position an ihren Schlagzeugen bezogen.

In Bademänteln, die sie trugen wie die Macho-Helden der Italowestern ihre Staubmäntel, waren sie zunächst durch das am Strand lagernde Publikum auf die Instrumente zugeschritten – um die Bademäntel dann abzustreifen und ihr musikalisches Beschwörungswerk zu beginnen.

Assoziationen zur Apokalypse

Unter ihnen ist auch die Komponistin und Performerin Katharina Ernst, von der der suggestive wie soghafte Sound des Abends stammt. Sibylle Fischer dirigiert und parodiert dabei die genialischen Verrenkungen vieler Vertreter*innen ihrer Zunft. Bald dirigiert sie aber nicht nur die Percussionistinnen, sondern, wie es scheint, auch die Gewalten der Natur, steht mit wütender Mine nackt im See wie einst Moses, als er das Rote Meer teilte.

Mit wenigen, aber dafür rabiaten Mitteln produziert die Performance Bilder und Assoziationen zur apokalyptischen Krise, in die die natur- und klimazerstörende Lebensweise des Industriezeitalters geraten ist. Nackte Frauenkörper, die am Angelhaken des Kranes zum Leben erwachen und ein waghalsiges Luftballett aufführen: Zerbrechliches Leben, konfrontiert mit der martialischen Maschine. Irgendwann wird unter den sieben schwebenden Tänzerinnen ein gigantisches Blech aus dem Wasser in die Höhe gezogen, das von einer achten Tänzerin erklommen wird.

Regenmacherin, kopfüber

Übers Wasser nähern sich amazonenhaft zwei weitere Frauen. Auf von Jetski getriebenen Flyboards balancieren sie auf meterhohen (und druckstrahlerzeugten) Wassersäulen, stürzen sich kopfüber ins Wasser und tauchen wie Delphine wieder daraus auf, um sich erneut auf den Wassersäulen aufzurichten.

Mit dem Blech erzeugt die Tänzerin in den Lüften sphärische Geräusche, als wäre sie eine Regenmacherin, hängt bald mit dem Kopf nach unten, derweil über ihr das gespenstische Luftballett weitergeht, am Strand getrommelt, percussioniert und dirigiert wird und das Publikum auf den mitgebrachten Decken im Sand lagert. Eine Etüde, nicht mehr und nicht weniger. Ein toll orchestriertes Postskriptum zu "Ophelia’s Got Talent". Und Sommermusiktheater der Extraklasse.

 

Kranetude
von Florentina Holzinger
Choreografie, Konzept, Regie: Florentina Holzinger, Bühnenbild, Konzept: Nikola Knecevic, Komposition und Sounddesign: Katharina Ernst, Stefan Schneider, Drums, Percussion: Judith Schwarz, Shiau-Shiuan Hung, Stina Fors, Katharina Ernst, Dirigentin: Sibylle Fischer, Stunt und Rigging-Koordinator: Ronny Horning, Alexander Kusmak, Wassersicherheit und Stunt-Rigging: Kim Ruhnau, Flyboarding: Team fly-board.eu, Tatiana Fedorova.
Mit: Natasha Vergilio, Mina Tomic, Maartje Pasman, Xana Novais, Netti Nüganen, Sophie Duncan, Annina Machaz, Linnéa Tullius, Florentina Holzinger, Sibylle Fischer.
Premiere am 29. Juni 2023 im Rahmen des Festivals "Leisure & Pleasure" zum Ende der Intendanz Franziska Werner.
Dauer: 37 Minuten, keine Pause

www.sophiensaele.com

 

Kritikenrundschau

Wer Florentina Holzingers grandiose Show "Ophelia’s got Talent" gesehen hat, musste eigentlich davon ausgehen, dass zum Thema Wasser alles gesagt sei. Aber im Florentina-Holzinger-Universum ist noch unbearbeitetes künstlerisches Terrain übriggeblieben, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (1.7.2023). "Man kann hier tatsächlich sämtliche Sirenen, Undinen, Melusinen assoziieren, die der Kanon hervorgebracht hat und einmal mehr die Souveränität bewundern, mit der Holzinger und ihre Performerinnen sich derartige Motive aneignen und in aller Beiläufigkeit umdeuten." Das Spannungsverhältnis zum Wasser potenziere sich im Naturbad noch einmal. Holzinger wäre nicht Holzinger, wenn sie nicht noch jede Menge anderer Showelemente aufführe. "Das Wunderbare an dieser 'Kranetude' ist, dass sie auf unglaublich vielen Ebenen funktioniert. Sie ist hohe Kunst – aber ohne Kunstzwang."

Holzingers Wassernymphen schweben hier zumeist überm Wasser, nämlich aufgehängt an einer kreisrunden Bühnen-Traverse. "Was gefährlich aussieht, ist es vermutlich nicht", so Frank Schmid im rbb Kultur (30.6.2023), aber Holzinger bringe die gesamte Kunstgeschichte des Wassernymphen-Meerjungfrauen-Motivs in der Malerei oder im Ballett zu einem Schlusspunkt und weise gleichzeitig alle Erwartungen an ihre Bühnenkunst zurück.

"Kranetüde" turne "Bilder in den Himmel", die "mit Kraft, Leidenschaft und Witz eine ganze Kulturgeschichte umstülpen", urteilt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (30.6.23) . "Die Geschichte romantisch umflorter Frauenbilder nämlich, die sich aus wasserweichen, floral umrankten Hübschgesichtern speist und hier in bildstarke Stunts und wassersportige Lebenslust umgeschmiedet wird." Während die Sirenen ein "graziles Wasserblütenballett" aufführten, das "ganz konsequent in martialische Totenstarre" kippe, sprudele "das eigentlich Lebendige" von weit hinten heran: "Zwei Performerinnen schweben mit der Wasserkraft der Flyboards wie Wesen aus der Zukunft über den See", beschreibt die Kritikerin das Geschehen und konstatiert: "Mensch, Tier und Maschine könnten so freundlich miteinander. Würden sie nur!"

"Wer das Seebad Friedrichshagen an diesem Abend verlässt, hat Sand zwischen den Zehen, Pommesgeschmack im Mund – und unvergesslich schöne und verstörende Bilder im Kopf", berichtet Verena Harzer in der taz (3.7.23). Wie Florentina Holzinger hier "Mensch, Maschine, Natur" in "einem poetischen Moment der Superlative" vereine, das sei "ein Anblick zum Niederknien", findet die Kritikerin. Kaum jemand tanze momentan "so souverän auf dem schmalen Grat zwischen kurzweiligem Spektakel und überwältigendem künstlerischen Mehrwert wie die österreichische Choreografin".

Darauf, "existenziellen Ekel oder Scham hervorzurufen", verzichte Florentina Holzinger an diesem Abend, beobachtet Erik Zielke vom nd (30.6.23). "Stattdessen bleiben eindrückliche Bilder, die um ein scheinbar aus der Zeit gefallenes Pathos nicht verlegen sind", urteilt der Kritiker und schlussfolgert: "Die künstlerisch in ein Verhältnis gebrachten Phänomene menschlicher Körper, außermenschliche Natur und Maschinentechnik scheinen für die etüdenhafte Erkundung gerade recht." Auch über den reinen Schauwert hinaus habe ein solches "Happening", wie die koproduzierenden Sophiensäle die Performance labelten, also etwas zu bieten.

Kommentare  
Kranetude, Berlin: Sophiensaele
Tolle Arbeit! Ja. Beide.
Ich finde es aber wichtig zu betonen, dass diese Kranetüde NICHT der Saisonabschluss der Volksbühne ist, so klingt es hier etwas. Sondern das Ende der letzten Spielzeit der Sophiensaele unter der künstlerischen Leitung von Franziska Werner (und zwar im Rahmen eines ganzen Festivals an dem Haus, das hier auch keinerlei Erwähnung findet). Also ein deutlich kleineres Haus, das (unter dieser Leitung) Holzinger über Jahre mit aufgebaut hat, bevor sie an die Volksbühne wechselte und zum „Star“ wurde.
Hut ab für Florentina Holzinger und ihr Team, aber auch für Franziska Werner und die Sophiensaele! So viel Wertschätzung muss sein.
Kranetude, Berlin: Ab wann Star?
Liebe*r Fan, ich finde Ihre Einlassung ein bisschen schwierig und an der Grenze der Fairness, auch Florentina Holzinger gegenüber. Holzinger wurde mit der Sophiensaele-Produktion "Tanz" zum Star und eine Produktion wie "Ophelia" hätte in den Sophiensaelen technisch niemals realisiert werden können.
Kranetude, Berlin: Abschiedsgeschenk
Schönes Abschiedsgeschenk für Franziska Werner nach 12 Jahren Sophiensaele und ein unterhaltsamer Saison-Ausklang.

Florentina Holzinger durfte in einer kleinen Etude ihre Virtuosität aufblitzen lassen. Die Anreise war für die allermeisten wohl länger als die Spielzeit, dennoch lohnte sich der Sommerabend.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/06/30/kranetude-florentina-holzinger-performance-kritik/
Kranetude, Berlin: Nicht unfair
Liebe Lotta Continua,
es ist nicht unfair gegenüber Florentina Holzinger, sie hat zwei tolle Produktionen in verschiedenen Kontexten gemacht - eine groß ausgestattete mit den finanziellen Mitteln an der Volksbühne (die sie gut verwendet, die ihr zustehen) und eine kleine Etude in Zusammenarbeit mit einem freien Haus fast ohne eigenes künstlerisches Etat. Beides sind großartige Arbeiten, niemand spricht ihr das ab oder sieht darin ein Problem.
Es geht darum: Die Sophiensaele und viele andere kleine Häuser haben nicht die Mittel für Riesen-Produktionen, aber arbeiten lange mit Künstler*innen bevor die Masse sie wahrnimmt - und eben auch große Häuser sie interessant finden. Dass Künstler*innen dann irgendwann an große Häuser wechseln möchten - und durch die jahrelange Erfahrung, die sie an den an den kleinen Häusern sammeln konnten und die Untertützung die sie dort erhalten haben, unter anderem dazu befähigt worden sind - ist ja nicht schlecht oder falsch, sondern gut und richtig.
Aber dennoch haben die Weggefährt*innen/-bereiter*innen eine Erwähnung verdient. Nicht von den Künstler*innen, denn natürlich ist es vor allem ihre eigene Leistung, die Anerkennung verdient - aber durch die aufmerksame Presse schon. Gerade in einer kulturpolitisch angespannten Situation wie jetzt. In diesem Artikel wird nur die Volksbühne gennant, und diese Produktion ist nunmal nicht von der Volksbühne, sondern in Partnerschaft mit Holzingers ehemaligem Heimat-Haus in Berlin, den Sophiensaelen, realisiert worden. Und zwar zum Abschluss der künstlerischen Leiterin Franziska Werner, die Holzinger erstmals überhaupt in Berlin präsentierte. Noch lange, lange vor "Tanz". Sicher hat Holzinger auch Gründe dafür das in dieser Partnerschaft zu diesem Zeitpunkt so zu realisieren. Das spräche Ophelia oder der Volksbühne an ja gar nichts ab, wenn eine Kritikerin auch den Häusern, die unter hohem finanziellen Druck dennoch großes leisten, zumindest auch etwas Credit geben würde. Nur darum geht es.
Liebe Grüße!
Schrott-Etüde, Berlin: Krachend
Florentina Holzinger setzte ihre Etüden-Serie fort: nach dem Wasser stand bei der "Schrott-Etüde" vor dem Olympiastadion das Feuer im Mittelpunkt.

Betont langsam ist das Crescendo. Die meiste Zeit passiert erstaunlich wenig: Sibylle Fischer ist wieder als Nacktdirigentin von Katharina Ernst und Anja Müller (Drums und Percussion) mit ausladenden Bewegungen in Aktion, über den Bühnenrand flitzen nackte Tänzerinnen, die Schrottplatz-Inventar hinter sich herzerren. Eine Auto kurvt in gefährlicher Seitenlage über den Platz, an dessen Längsseite das sehr junge, überwiegend englischsprachige Publikum so dicht gedrängt steht, dass die Sicht deutlich eingeschränkt ist.

Dann kommt doch noch dieser spektakuläre Holzinger-Moment, auf den alle warteten. Ein Wrack kracht von einem Kran aus enormer Höhe mit gewaltigem Wumms zu Boden und geht in Flammen auf. Ganz in schwarz schreitet eine Armada aus Stunt-Frauen, die dem Film „Rodéo“ entsprungen scheinen, über den Platz und geht ebenfalls in Flammen auf, bevor die zahlreichen Helfer mit der Löschaktion begannen.

Ihren Fans bot Holzinger eine weitere spektakuläre Fingerübung, diesmal in Kooperation mit dem Schinkel Pavillon, einem Kunstverein in der Oberwallstraße/Berlin-Mitte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/09/01/schrott-etuede-performance-kritik/
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