La Cousine Bette - Frank Castorf zelebriert mit Honoré de Balzacs Gesellschaftsroman an der Berliner Volksbühne das schubsende Theater
Raserei im Asia Quick
von André Mumot
Berlin, 19. Dezember 2013. "Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät?", singt das Ensemble am Schluss. Und, ja: Es ist wirklich schon so spät. Schon nach Mitternacht. Aber aufhören wollen sie nicht, ganz gleich, wie erschöpft wir alle sind, lieber noch was singen und Faxen machen. Also baut sich Alexander Scheer als greiser Opa Hoppenstedt im Nachthemd vor dem Publikum auf und spielt zusammen mit Marc Hosemann noch ein bisschen Waldorf und Statler. "Wie hat dir die Vorstellung gefallen?" – "Nicht so gut. Ich habe sie aber auch unter ungünstigen Umständen gesehen – bei offenem Vorhang."
Aus reichem Füllhorn geschüttet
Und dann kann man einfach gar nicht anders und lacht noch mal und klatscht noch ein Weilchen und ächzt und reckt sich, denn man hat gut fünf Stunden auf dem Zuschauerbuckel, die man vielleicht erst so richtig verstehen kann, wenn man sich das kindliche, vielleicht auch abgefeimt ironische Nicht-Aufhörenwollen von Alexander Scheer vor Augen hält. Da hat also Frank Castorf wieder einmal in unerschöpflicher Endlosigkeit sein Romanverwurstungsfüllhorn auf der Volksbühne leergeschüttet. Weil's so schön ist, wenn es einfach immer weitergeht – mit noch einer Idee und noch einer und noch einer.
Nachdem sich Pollesch vor Kurzem bereits am selben Ort vom Glanz und Elend der Kurtisanen hat inspirieren lassen, stürzt sich Castorf nun auf Balzacs "La Cousine Bette", einen der vielleicht grandiosesten, garstigsten und gewiss auch theatralischsten Romane des 19. Jahrhunderts – eine erbitterte Erzählung voller knallender Türen und großer Aussprachen, in der es um die hemmungslose Kommerzialisierung des Geschlechtsverkehrs geht und um die finanziellen Abhängigkeitsstrukturen in bürgerlichen Familien. Insofern ist es mehr als schlüssig, dass Bert Neumann hier einen dunklen, anonymen Puff vor den Glitzervorhang der bereits erwähnten Pollesch-Inszenierung gebaut hat, inklusive roter Laterne und dem Schriftzug "Asia Quick".
Es ist ein typisches drehbares Castorf-Haus voller Treppen und Vorplätze und Zimmern, in denen die Darsteller vor den Live-Kameras und unter den Mikrofongalgen Zeter und Mordio schreien, was für uns nach draußen projiziert wird. Hoch her geht es vor allem im herrschaftlichen Salon, in dem die (doch sehr deutsche) Familie des Barons Hulot zusammenkommt, damit man sich gemeinsam das Leben schwer machen kann. Vor der Pause, also in den ersten knappen drei Stunden, entwickelt Castorf dies als überaus süffige Sittenkomödie voll hämisch ausgespielter Kabinettstückchen.
Von der Wollust beherrscht
Alexander Scheer gibt, schwitzend, blutend, grinsend, kopulierend und klamaukend den von seiner Wollust beherrschten Familienvater als prolligen Pornoschnauzbartträger im Pyjama. Dieser peitscht sich schon mal selbst mit der Blumendeko aus, weil ihm seine Geliebte den Laufpass gegeben hat, während Tochter Lilith Stangeberg und Ehefrau Kathrin Angerer, die Meisterinnen des distinguierten Nölens, völlig unbeeindruckt bleiben und engelsgleiche Vergebung artikulieren. Vor allem die Angerer hat jede Menge hinreißend komische Momente, insbesondere wenn sie mit ihrem stets blasierten, leicht fassungslosen Säuseln die Annäherungsversuche des neureichen Parfümhändlers Crevel abwehrt. Marc Hosemann tritt ihr dabei nicht nur mit umgeschnalltem Bauch, sondern auch mit rheinischem Millowitsch-Dialekt zu nahe.
Doch da ist noch so viel mehr, was aus dem Füllhorn rauscht: Die bösartige Kokotte Valérie (Claire Sermonne) zum Beispiel, eine der so erotikkompetenten Furien des Monsieur Hulot. Und jene Cousine Bette natürlich, die ewig Erniedrigte, die Rache übt an der eigenen Familie und die die Wermutstropfen in die Komödie kippt. Die Französin Jeanne Balibar formt dabei aus grotesken Grimassen und starkem Akzent immer bösartigere Hasstiraden, steigert sich in wildes Leid und verfällt dann und wann komplett ins Französische.
So wie auch Noa Niv die jüdische Opernsängerin und Prostituierte Josepha immer wieder Hebräisch sprechen lässt. In diesen kulturellen Konfrontationen liegt wohl Castorfs Hauptinteresse: Schließlich werden demonstrativ die antisemitischen Äußerungen einiger Figuren wiederholt, was das vom Trieb und vom Geld gesteuerte Treiben der Pariser Großbürger anno 1841 zum Vorboten der faschistischen und rassistischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts macht.
Eine große Freude und kaum auszuhalten
So ist dann auch der ganze zweite Teil der Aufführung dem vollständigen Verfall gewidmet, einer exzessiv anarchischen, weil ganz mit sich selbst beschäftigten Raserei in unzusammenhängenden Einzelszenen. Dabei schlägt dann auch die große Stunde von Bernhard Schütz, der an diesem Abend mit fabelhafter Gefährlichkeit auftrumpft, während er den Judenhass von Louis Ferdinand Céline (den Castorf jüngst in München inszenierte) ausspeit, schwitzende männliche Vergewaltigungslust signalisiert, seine Kollegen anrempelt und sich nonchalant für ein "schubsendes Theater" ausspricht.
Man könnte jetzt noch vieles aufzählen, zum Beispiel, dass am Ende der von reichlich Menschen- und Zivilisationshass angetriebenen Show alle Beteiligten von der Syphilis aufgezehrt sind und wie lustige Zombies aussehen. Oder dass im oberflächlich kabarettistischen Rumgealbere auch der Berliner Flughafen vorkommt und das Black-Facing und Lampedusa. Doch vielleicht müsste man jetzt auch endlich mal sagen, wie's gewesen ist – so insgesamt.
Man kann's aber nur im Castorf'schen Füllhorn-Sinne tun, alles andere wäre ja Quatsch. Also. Sehr komisch und sehr clever ist es gewesen, und entsetzlich albern und furchtbar blödsinnig, meistens jedoch ein schauspielerisches Fest. Langweilig war's immer mal wieder und fast durchgehend faszinierend, dreist und hermetisch, selbstgefällig und klischeehaft, eine große Freude und kaum auszuhalten. Und dann doch gar nicht so schlimm.
"Was machen wir denn jetzt hier auf dem Dachboden der Weltliteratur?", fragt Bernhard Schütz ziemlich am Anfang. Die Antwort ist, fünf Stunden später, sehr klar: Einfach alles, was uns einfällt. Zum Beispiel nicht aufhören. Alexander Scheer jedenfalls tanzt immer noch im Nachthemd, obwohl längst Schluss ist, und singt: "Wir sagen Dankeschön und Auf Wiedersehen, schau'n Sie mal wieder rein, denn etwas Schau muss sein."
La Cousine Bette
nach Honoré de Balzac
Regie: Frank Castorf, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Tabea Braun, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Jeanne Balibar, Alexander Scheer, Kathrin Angerer, Marc Hosemann, Claire Sermonne, Bernhard Schütz, Lilith Stangenberg, Maximilian Brauer, Noa Niv.
Dauer: 5 Stunden, eine Pause
www.volksbühne-berlin.de
Eberhard Spreng schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (20.12.2013): Castorf habe einen "gewaltigen, pornografischen, deutsch-französischen Zeitenwende-Untergangsklamauk veranstaltet", einen "anarchischen Reigen mit präzis sich steigerndem Verrücktheitsquotienten". Er halte "das sportlich Improvisierte mit dem präzis Geplanten und Geprobten in einer aufregenden Balance". Jedes Bild auf den Video-Leinwänden, "jeder Schnitt, jedes Gegenlicht, jeder Ausschnitt und der Rhythmus des Ganzen sehe verdammt gebaut aus und überhaupt nicht zufällig". Castorf wolle den "latenten Antisemitismus" der bigotten Heuchler und eine "präfaschistische Mentalität" offen legen. Das geschehe allerdings "eher kurzschlussartig, zu groß ist sein Spaß an den grellen Zerfallsbildern".
"Weil Frank Castorf an diesem Abend mal wieder die ganz große Besetzung auffährt – begnadete Volksbühnen-Veteranen von Kathrin Angerer bis Bernhard Schütz agieren neben würdigen Nachkommen à la Lilith Stangenberg oder Marc Hosemann – ist diese Parodie auf mehr oder weniger triebkanalisierte Vergnügungsversuche über weite Strecken wirklich ziemlich lustig, wenn auch selbstredend nicht eindeutig zielführend", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (21.12.2013). In der zweiten Hälfte zerfalle "wie die Hulot’sche Familie (…) auch das restliche Bühnengeschehen in mal mehr, mal weniger nachvollziehbare Einzelkapriolen". Während einem das im Parkett eine gewaltige Kondition und geradezu übermenschliche Ausgeschlafenheit abverlange, scheine das Ensemble einen Riesenspaß zu haben. Und: "Schnöde Handlungsökonomie und unmittelbare Decodierbarkeit waren Castorfs Ding schließlich noch nie."
"Treffer!" freut sich Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (21.12.2013). "Mit Honoré de Balzac könnte Frank Castorf nach Fjodor Dostojewski einen zweiten großen Romancier-Bruder im Geist gefunden und für den Rest seiner Amtszeit an der Volksbühne ausgesorgt haben." "La Cousine Bette" sei all das: "Ein fulminanter Abend, Quell der hundsmiserabelsten Freude, der zartesten Abscheu, der hellsten Verwirrung, der trübsten Erkenntnisse, ja, auch der unerträglichen dramaturgischen und politischen Unzulässigkeit."
"Die Balzac-Soap als grob wirkende, aber könnerisch feinziselierte Langzeit-Klamotte, als endlos ins Groteske und Aberwitzige getriebene, höchstens streckenweise wirklich kapierbare Freak-Show", hat Reinhard Wengierek für die Welt (21.12.2013) gesehen und holt noch weiter aus: "Eigentlich ist alles eine um sich selbst kreiselnde, von pässlichem Soundtrack umspülte Séance über die vergebliche Jagd nach Glückseligkeit." Castorfs Fazit falle, trotz aller Komik, tieferns aus: "Der Trieb höret nimmer auf, der ewig getriebene, chaotische Mensch wird nie weise. Und selbstreflektiv übers Künstlertum: Immer nur schöne Konzepte, doch das Schaffen entscheidet."
Frank Castorf hat Grand-Guignol-Clowns, grandios verzickte Stummfilm-Vamps und schmatzende Biedermeier-Karikaturen wie aus einer Offenbach-Operette aus Balzacs Figuren gemacht, freut sich Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (21.12.2013). Und wie Balzac maßlos in seiner manischen Romanproduktion und den Grellheiten der Kolportage sei, so kenne natürlich auch Castorf weder Maß noch Ziel – noch Erzählökonomie. "Dafür aber die Lust, sich erzählend von Exzess zu Exzess treiben zu lassen." "Es soll immer weitergehen!" singen die Zombies am Ende. Das sei durchaus wörtlich zu verstehen. "Vor Kurzem hat Castorf signalisiert, dass er nach mehr als zwanzig Jahren Volksbühnen-Intendanz nichts dagegen hätte, seinen Vertrag über das Jahr 2016 hinaus zu verlängern", schreibt Lauterbach: "Es soll immer weitergehen. Wäre doch schön."
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Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/12/20/wer-rast-der-rostet-nicht/
Wenn man es mal nüchtern betrachtet, was heute stattfindet:
- Unterirdische Dramaturgie, Szenen, bei denen nach 20 Sekunden klar ist worauf sie hinauslaufen werden elend lang totgespielt mit mediokrem Slapstick
- Völlige unpolitische Weltlosigkeit, irgendwelche Stoffe (an deren Bearbeitung man kein tieferes Interesse erkennen kann außer ironische Blödelei) die total austauschbar und völlig hermetisch im Theater für Fans aufbereitet werden
- selbstzufriedenes Pseudo-Schauspiel dass sich in seiner Eitelkeit gefällt und denkt, das "reicht schon", das bisschen Rumgezeter
- Video, Video, Video, wozu? Wenn ihn das Kammerspiel interessiert dann soll man das doch im 3. Stock vor 30 Leuten machen
- Letztendlich ein erschreckendes Frauenbild, das (gerade bei so einem Stück?) sich immer darauf beschränkt, dass hübsche, schlanke Weibchen in Stöckelschuhen und Unterwäsche herumseufzen. Ja, klar, alles Ironie, aber das gilt bei Blackfacing schließlich auch nicht. Die Frau sitzt bei Castorf in Reizwäsche herum und lässt mit sich machen. Wieso stört das bitteschön bei ihm anscheinend keinen mehr, wieso wir das nichtmal erwähnt? Hallo? Wie hat er es geschafft alle so einzugarnen, dass niemand mehr die ganz einfachen, grundsätzlichen Sachen ausspricht?
Trotzdem frage ich mich, was Kunst bzw. Theater kann und soll. Soll es alles gesellschaftlich Problematische vorher in vorauseilendem Gehorsam zensieren? Oder soll es den denkenden Zuschauer dies tun lassen. Also, jetzt natürlich nicht zensieren, sondern drüber nachdenken. Im Film ist es doch genauso: Wenn z.B. die Coen-Brüder nicht zeigen würden, wie einem erfolglosen, unbekannten Musiker immer wieder in die Fresse geschlagen wird, weil er nicht die Fresse halten kann, gerade auch in Bezug auf die Kulturindustrie bzw. die totale Kommerzialisierung im Kulturkapitalismus, dann würde auch niemand drüber nachdenken, was das eigentlich soll. Ja, was soll das bedeuten...? Korruption im Familienbetrieb, wo die guten Rollen lieber der Ehefrau zugeschachert werden, anstatt einem unbekannten Musiker? Ach, darum geht's. Und darum, dass Musikerinnen/Schauspielerinnen vielleicht auch deswegen eher Erfolg haben könnten, weil sie sich vom Betrieb ficken lassen. Ist klar.
Ob Schaupielerinnen in Reizwäsche bei Castorf demzufolge auch eine Kritik am stereotypen Rollenbild des Weiblichen sein könnten, das bezweifle ich allerdings.
grossartige schauspieler/innen ,aber mehr auch nicht.
schwammige dramaturgie, ohne richtung,kino a la castorf/neumann.
da ist lesen ist besser.
schade.
ein genialer abend!!danke an den suuuuper tollen frank Castorf!!!!ist und bleibt das beste Theater ever!
Natürlich stehen diese Stereotype schon bei Balzac – aber auch sonst ist Castorf ja nicht um ‚Werktreue‘ bemüht – da wäre also doch die viel interessantere Frage gewesen, wie man die jüdische Figur der Josepha, sofern man denn ihrem Jüdischsein eine Bedeutung für die Erzählung zuschreibt, anders als Jüdin kennzeichnet denn durch das ‚ironische‘ Spiel mit antisemitischen Stereotypen. Doch fügt die Inszenierung hingegen den Stereotypen, die in Balzacs Roman geäußert werden, aus freier Entscheidung noch eine antijüdische Tirade Célines hinzu, ein Auftritt, der in der Rezension als „mit fabelhafter Gefährlichkeit“ gewürdigt wird und dessen einzige Aufgabe darin zu bestehen scheint, heftig – und natürlich ganz ‚ironisch‘ – Célines Judenhass zum Besten zu geben. In dieser Szene geht es wohl nicht darum, darüber aufzuklären, dass es solche „Vorboten …“ historisch gab – denn wer wüsste das nicht –, sondern vielmehr um einen Lustgewinn, den Äußerung, Anhören und Belachen antisemitischer Stereotype manchen (immer noch) zu bescheren scheinen.
Ein anderer Umgang mit der Figur der Josepha würde natürlich ein kritische Auseinandersetzung mit ressentiment- und klischeegeleiteter Wahrnehmung und Darstellung erfordern, etwas, das Castorf auch beim Umgang mit Frauenfiguren seit langem fehlt, wie glücksbärchi oben schon ansprach. Das Fehlen dieses kritischen Nachdenkens darüber, was man eigentlich zur Darstellung bringt, das Beharren in und die Lust an solchen Klischees und Ressentiments, macht Castorfs Theater für mich zunehmend uninteressant.