Der Besuch der alten Dame - Daniela Löffner gibt Dürrenmatts tragische Komödie in Braunschweig bierernst
Der Clown ist fort
von Christian Rakow
Braunschweig, 6. Oktober 2012. Die Baubranche bringt sie alle auf Touren: Die Arme hochgekrempelt, packen ma's an, Jungs! Und Mädels! Mit Hochdruckreinigern säubern sie minutenlang den Leim von den Wänden, die eben noch durch schwarze Plastikbahnen verdunkelt waren (eine finstere Sackgasse hat Bühnenbildnerin Susanne Dieringer auf eine steil abfallende Spielfläche gebaut). Jetzt sollen die bunten Panoramalandschaftstapeten darunter wieder blühen, leuchten.
Claire Zachanassian, Friedrich Dürrenmatts "Alte Dame", hat also eine Milliarde in bar für die Bewohner ihres Heimatstädtchens Güllen ausgelobt und damit den Wachstumsmotor angeworfen. Die Bedingung, dass dafür jemand ihren verräterischen Jugendliebhaber Alfred Ill umbringen muss, lässt sich einstweilen gut verdrängen. Wen schreckt schon der Zins, wenn die Kredite rauschen. Alfred, der Bad Man, wird zur Bad Bank. Allein die Aussicht, dass man ihm alle Lasten aufladen kann, bis man ihn auf dem Friedhof abladen darf, bringt den Rubel ins Rollen.
Daniela Löffner folgt ihm darin, nimmt die Parabel in ihrer ganzen Geräumigkeit, mit abstraktem Bühnenbild und unspezifisch modernen, erdigen Arbeitertypen. Nur die Zuschreibung "tragische Komödie" lässt sie fallen. Der Stoff wird ihr praktisch erdschwer.
"Der Besuch der alten Dame" scheint mithin wie geschaffen für unsere finanzwirtschaftlich hochfahrende Epoche. Aber schon Dürrenmatt – der das Stück 1955 kurz nach dem Marshallplan schrieb – hielt es gezielt von zeitgenössischen Anspielungen frei. Und RegisseurinLeute auf dem Abstellgleis
Löffner (Jahrgang 1980) sucht wie wenige aus ihrer Regie-Generation in ihren Arbeiten das Extrem, die menschlichen Abgründe, das nervenwunde Spiel. An diesem Abend in Braunschweig aber bleibt diese Suche irgendwie auf halbem Wege stecken. Die industrielle Reservearmee hat sie in Güllen versammelt; Leute auf dem Abstellgleis – bis ihnen die Subventionen ein wenig die Glieder lockern.
Sandra Fehmer ist als Claire alles andere als eine herrische Spielleiterin, trotz resolutem Äußeren, mit Lederblouson und Pantherhalsband auf den Schultern. Zum Auftakt gießt sie sich einen Eimer Wasser über den Kopf, vielleicht um zu übertünchen, dass ihre Figur hernach beständig nah am Wasser gebaut ist. Löffner hat Claires sentimentalen Hang jedenfalls bis zum Anschlag ausgekostet.
Ungeheuer ist viel
Entsprechend weich fällt das soziale Experiment aus. Die Güllener driften brav ins Baumeisteridyll, legen das besagte Wandpanorama mit Schlossgartenansicht frei, und ächten ohne große Häme das schwarze Schaf in ihrer Mitte: Alfred Ill. In seltenen Momenten blitzt eine eigene Tönung auf: bei Benjamin Morik als Bürgermeister oder Raphael Traub als Lehrer etwa, wenn sie ihren seifigen Humanismus mit unruhigen Blicken durchstoßen. Männer wie Wiesel, Raubtiere auf Wadenhöhe. Da hätte durchaus was gelegen.
Und Alfred Ill, der seine Jugendfreundin einst verriet, als sie schwanger wurde? Tobias Beyer führt ihn duldsam in den kollektiven Würgegriff, gleich einem Mann, der mit dem letzten Heller einen Lottoschein ausfüllt. So bleiben die eindringlichen Parts denjenigen vorbehalten, die reine Unheils-Symbole sein dürfen: Sven Hönig und Andreas Bißmeier als sinistere Diener Claires, und Jannek Petri als streunender Panther und später als Künder unbequemer Lehren: "Ungeheuer ist viel / doch nichts ungeheurer als die Armut".
Bringt ihn zurück!
Der Abend erinnert in seiner Ambition an den kantigen Vorstadthöllenrealismus eines Tennessee Williams. Nur dass sich Dürrenmatts Text an einem solchen Unterfangen mitunter bitter rächt. Ein gerauntes "So eine Kleinstadt kann erdrückend sein" erntet dann doch manch unerwünschten Lacher. Und spätestens wenn Ill und Claire zum letzten Tête-à-Tête in einen Aluminium-Sarg steigen, kippt das freigiebige Pathos in die unfreiwillige Komik.
Wieso sieht man eigentlich so oft nur das eine oder andere: nur Bierzeltklamotte oder Bierernst? Wo ist die tragische Komödie hin? Wo der Gang über Graustufen? Voll unerfüllter Weisheit singt (und krächzt) Sven Hönig zur Pause einen Song von Neal Morse: "The clown left town long ago / Maybe he'll come back and give us a show / And we all need some light now." Der Clown ist fort, er hat uns viel gegeben. Bringt ihn zurück, damit wir froher leben!
Der Besuch der alten Dame
von Friedrich Dürrenmatt
Regie: Daniela Löffner, Bühne: Susanne Dieringer, Kostüme: Sabine Thoss, Dramaturgie: Christine Besier, Theaterpädagogik: Angelika Andrzejewski.
Mit: Sandra Fehmer, Jannek Petri, Andreas Bißmeier, Sven Hönig, Tobias Beyer, Martina Struppek, Benjamin Morik, Raphael Traub, Mattias Schamberger, Rika Weniger, Klaus Lembke.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-braunschweig.de
Mehr zum Dürrenmatt-Klassiker? Marc von Henning inszenierte ihn 2012 in Schwerin, Grazyna Kania 2011 in Rudolstadt, Wojtek Klemm ebenfalls 2011 in Luzern, Armin Petras 2009 in Dresden, Frank Abt auch 2009 am Münchner Volkstheater. Und Rimini Protokoll erinnerten sich 2007 in Zürich an die Uraufführung daselbst 1956.
Für "neue Sichtweisen" auf Dürrenmatts Klassiker brauche es "innovative Frische und Experimentierlust", schreibt Harald Hilpert in der Braunschweiger Zeitung (8.10.2012). "Das war in der Braunschweiger Inszenierung unübersehbar." Löffners Werk "versprüht und verspritzt wieder einmal viel Farbe", aber es gebe auch "Szenen voll vertrauter Zweisamkeit", wie "in einer Seifenoper". "Sarkastische Überspitzungen werden in vielen Situationen ausgiebig und zuweilen gar zu langatmig zelebriert." Sandra Fehmer spiele in der Titelrolle eine "Glücksgöttin mit Charisma", mische allerdings "zu früh eine überzogene Tragik in ihre Inszenierung". In den Auftritten ihrer Diener und des fauchenden Panthers stecke "allzuviel surreale Spielerei". "Überzeugend" seien hingegen die Kleinbürger gezeichnet, allen voran Raphael Traub als Lehrer und Tobias Beyer als Ill.
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