Ich habe Bryan Adams geschreddert - In Oliver Bukowskis in Göttingen uraufgeführtem Stück feiert der Mittelstand fröhlich und wissend in sein Ende hinein
Goodbye, ihr Normopathen
von Stephanie Drees
Göttingen, 22. Februar 2013. Ein Gespenst geht um in diesem Stück. Es heißt Christopher. Christopher ist eine der Hauptfiguren, eine wahrlich stille, denn kein einziges Mal betritt er die Bühne. Es gibt ihn nicht als körperliche Erscheinung, dafür ist er in den Köpfen der Anwesenden umso präsenter. Er hat ein Schicksal erlitten, das seine Ex-Kollegen fürchten wie der Hedgefonds-Manager den Börsencrash: Aus seiner alten Firma wurde er rausgeworfen. Nun häkelt er Handytaschen oder so was Ähnliches, genau wissen es die Hinterbliebenen seiner Jobexistenz auch nicht.
Christopher ist zugleich die Personifikation des schlechten Gewissens und unsichtbare Nemesis für die Riege der "Normopathen", wie der Teenager Jannik seine Eltern und ihre Angestellten nennt. Vier finden sich an diesem Abend im Garten des Chefs (hey: "flache Hierachien!") und seiner Gattin ein. Denn obwohl nun ein Ausgestoßener, wurde auch Christopher eingeladen, um die verdeckte Hackordnung zu bestätigen. Wenn die Tür klingelt, zucken sie zusammen. Drei Männer und drei Frauen, besorgt, dass das Gespenst aus seiner Häkelhölle heraufsteigen und sie mit sich hinabziehen könnte.
Fünf Tibeter im Reihenhaus
Durch "Ich habe Bryan Adams geschreddert", das neue Stück von Oliver Bukowski, zieht sich ein schöner Running Gag. Verlässlich, schnell erledigt und erst auf den zweiten Blick mehr kluger dramaturgischer Kniff als Witz. Die Uraufführung am Göttinger Deutschen Theater läuft in vielen Spuren. Das Thema, das Setting, die Figuren: Alles wirkt, als könnte man mühelos andocken, gut vorhersehen, wohin die Reise geht in der erodierenden, alten Arbeitswelt. Die vielen kleinen Peinlichkeiten zwischen beruflichen Überlebensstrategien und Entspannen mit den Fünf Tibetern? Die Penetration der Sprache durch Management-Floskeln? Noch einmal den Mittelstand demaskieren, bevor er sich selbst zu Grabe trägt?
Wenn man es sich ernsthaft überlegt, kann das Oliver Bukowski, einer der Großen im Geschäft, nicht wirklich ernst meinen. Alles gesagt, alles diskursiv verwurstet, alles dekonstruiert. Das ist der Trick und zugleich das Großartige an diesem Abend – man kann ihn als eine auf Nummer sicher gebaute Farce über den Untergang der alten Ordnung sehen: Reihenhaus-Mittelständler feiern sich in ihr soziales Aussterben hinein. Oder auch als eine genaue, bitterböse Bestandsaufnahme voller Finten und selbstreflexiver Momente.
Dialektisches Elend
Manches spricht für das erste: das Bühnenbild mit dem zweistöckigen Reihenhaus-Betonklotz und dem grünen Kunstrasen. Die Girlande aus Sonnengesichtern, die spöttisch auf die Gastgeber in Jet-Set-Imitat-Uniformen glotzen. Das alles schreit nach den Riten und Zeichen der Vorstadthölle. Der Regisseur Michael Kessler scheut sich nie, tief in die gleiche Kerbe zu hauen. Es klirren die Cocktailgläser in dieser Mittsommernacht – dem Fest der Sommersonnenwende, ja, genau: Wende. Und bevor es für die sechs Saurier der alten Gesellschaftsordnung über die Klippe geht, reiben sie in einem letzten Kraftausbruch Körper aneinander und hotten als Revoluzzer-Darsteller zum Revoluzzer-Darsteller Bryan Adams ab – stets begleitet von den klugscheißernden Ätz-Kommentaren des achtzehnjährigen Sprösslings.
Irgendwie sind hier alle ein großer Witz – aber, das ist der Kunstgriff, auch noch mehr. In dialektischer Form hauen sie sich das Elend ihrer Existenz um die Ohren, manchmal, als einziges Manko, in thematisch schon fast schon zu beflissenen Diskurstheaterschlachten. Auch die zaudernde "Generation Y" kommt nicht ohne ihr Fett aus der Nummer raus. Doch Mutter Tanja, eine Midlife-Pappkameradin mit Bananenrolle am Hinterkopf, reißt all die Digital-Native-Weisheit ihres Sohnes mit einem Satz ein: "Ohne Blödheit kein Mut".
Was wir heute so sind
Bukowski hat schon in früheren Stücken bewiesen, dass er einen genauen Blick hat. Vor allem für das, was gesellschaftliche Umwälzungen mit Menschen anstellen können. Er nimmt seine Figuren ernst. Das Demaskieren überlässt er ihnen selbst. Sie sind das Spiegelbild des Anderen und gleichzeitig klug genug, um sich ab und an zu erkennen. Bei manchen führt das zu promillegeschwängertem Zynismus. Wie bei Simone, einer, die mal "gegen alles war, was wir heute so sind". Marie-Thérèse Fontheim gibt dieser Frau jene Doppelbödigkeit, die Bukowski hinter der Scharade versteckt hat. Zielsicher überschlägt sich ihre Stimme, mit einer tänzerischen Einsamkeit torkelt sie über die Bühne. Ein Cocktail-Orakel. Der flexible Muskelaufbau des Ehemanns sieht durch sie wie Überlebenstraining aus. Existenzialismus mit dem Fitness-Stab.
Ich habe Bryan Adams geschreddert
von Oliver Bukowski
Uraufführung
Regie: Michael Kessler, Bühne und Kostüme: Ulrich Frommhold, Dramaturgie: Lutz Kessler.
Mit: Imme Beccard, Michael Meichßner, Luan Seidel, Marie-Thérèse Fontheim, Benjamin Krüger, Marie-Kristien Heger, Andreas Daniel Müller.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.dt-goettingen.de
Die Mittelschicht navigiere "privat wie karrieretechnisch auf den Abgrund zu – und ihr dabei zuzuschauen" bereite in Oliver Bukowskis Komödie "viel Vergnügen", schreibt Bettina Fraschke in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (24.2.2014). Das Ensemble zelebriere "die messerscharf, aber etwas artifiziell formulierten Pointen" und lässe schließlich "die Abteilungsfete gartenschlauchdurchnässt zwischen abgerissenen Girlanden ausklingen".
"Der Abend entwickelt sich wie erwartet – auch der Theaterabend", schreibt Peter Krüger-Lenz im Göttinger Tageblatt (24.2.2014). "Man plänkelt ein wenig, bevor man aufeinander losgeht. Koalitionen werden gebildet, verworfen und neue eingegangen." Jeder werde gedemütigt, beinahe jeder dürfe demütigen. So sehe das eben aus in der heutigen Arbeitsgesellschaft. "Da schwingt viel Klischee mit. Und ein wenig Wahrheit." Regisseur Kessler halte seine Inszenierung in einer sauberen Balance zwischen dem zwischenmenschlichen Grauen und den komödiantischen Seiten der Partykommunikation. "Er setzt auf präzises Timing und vertraut der Vorlage." Hier komme auf die Bühne, was im Text stehe. "Arg flott und abrupt lässt er die Party aus dem Ruder laufen." Das Ensemble setze mühelos um, was gefordert sei. "Allen Akteuren gelingt es, ihren Figuren eigene Konturen zu geben."
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