Ich bin ich

10. März 2024. Wie sprechen wir über Behinderungen, wenn uns die Worte dafür fehlen? Choreograf Alessandro Schiattarella und sein Ensemble entwickeln, angelehnt an die Nussknacker-Erzählungen von E.T.A. Hoffmann, entlang dieser Frage einen Theaterabend, der nach (Ant)worten sucht.

Von Jens Fischer

"Breaking Point" von Alessandro Schiattarella am Schauspiel Hannover © Kerstin Schomburg

10. März 2024. Das ist ja schon mal entspannend. Nicht kurz vor Vorstellungsbeginn öffnen sich die Tore dem hineindrängelnden Publikum, sondern bereits eine halbe Stunde vorher, so dass jede/r sich erstmal zwanglos umschauen und eingewöhnen kann. Das Ensemble begrüßt alle Hineinschlendernden persönlich und erklärt die Aufführungssituation: Bühnen- und Zuschauerraum sind eins.

Unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten

Auf flauschig-weich schalldämpfendem Teppichbelag sind Kissensäcke und -oasen drapiert, bereit zum wohligen Hineinfläzen, Lockern der Rückenmuskulatur, Ausstrecken arthritischer oder gelähmter Beine. Aber auch Gestühl steht bereit fürs karge Stillsitzen, und einige Tribünenplätze sind freigegeben für gern distanziert den Überblick behalten wollende Besucher.

Als "relaxed performance" ist die Uraufführung von "Breaking Point" im Ballhof des Schauspiels Hannover ausgewiesen. Das soll eine Willkommensatmosphäre herstellen, um beispielsweise "Autist:innen, Menschen mit Tourette, mit Lernschwierigkeiten oder chronischen Schmerzen" einen angenehmen Aufenthalt, also einen barrierearmen Zugang zu ermöglichen.

 Schwebender Nebel, changierendes Licht

"Geräusche und Bewegungen im Zuschauer:inneraum sind erwünscht", teilt das Theater ausdrücklich mit. Das nehmen ausschließlich einige in Klassenstärke eingebuchte Jungjugendliche an. Nicken weich gebettet ein, räkeln sich herum, reden miteinander, rufen mal was rein, hantieren mit dem Handy und verlassen für Interaktionen mit dem mobilen Endgerät auch mal den Saal, was sie, aber nicht unbedingt alle Mitbesucher gleichermaßen, relaxed.

Weiter heißt es in Ratgebern, "relaxed performances" sollten reizarm sein, Ruhe-Rückzugsorte anbieten und Türen geöffnet lassen, um niemanden zu verschrecken. Dem folgt dieser, von dem auf Inklusion spezialisierten Tänzer und Choreografen Alessandro Schiattarella und dem Ensemble entwickelte Abend allerdings nicht. Die Türen werden geschlossen, und das Lichtdesign changiert zwischen richtig dunkel, angenehm gedimmt und grellhellen Effekten, dafür werden Schutzkappen ausgegeben.

breakingpoint Kerstinschomburg"Dont't blame the rats!" Die Bühne von Margarete Albinger mit Akteur*innen © Kerstin Schomburg

Ungeschützt kommen gleichzeitig Live-Video, Schauspiel, Musik und Bewegungskunst zum Einsatz, Nebel schwebt herab, auch auf Interaktion mit dem Publikum wird nicht verzichtet. Aber all diese sensorischen, sozialen wie auch inszenatorischen Reize sind online kommuniziert, die Zuschauer also bestens informiert, worauf sie sich einlassen. Im Gegensatz zu dieser Besucherfreundlichkeit beschäftigt sich die Produktion mit Ableismus, der Behindertenfeindlichkeit.

Mit Häßlichkeitsgift infiziert

Im Prolog stellen sich die Opernsängerin Carmen Fuggiss, die Schauspielerinnen Alrun Hofert und Helene Krüger, Tanzperformerin Victoria Antonova und Akrobatin Gina Laskowski vor. Auch als Hilfe für Sehbehinderte beschreiben sie ihre Körper, die Frisur, das Overall-Kostüm und was sie später so tragen werden. Fuggiss gibt die Triggerwarnungen nochmal zum Besten und greift mit einem Lied über den Nussknackerkönig etwas vor. Krüger fragt ins Publikum: "Was knackt ein Nussknacker?"

Ein Junge meldet sich und antwortet richtig. Schon redet das Frauenquintett durcheinander auf unterschiedliche Publikumssegmente ein, warum das Thema des Abends anhand von E. T. A. Hoffmanns Märchen "Nußknacker und Mausekönig" beispielhaft aufzudröseln sei. In der dargebotenen Nacherzählung steht Pirlipat im Zentrum, von Beruf Prinzessin, also "engelgleich" ihr Aussehen. Die rachsüchtige Frau Mauserink infiziert sie mit Hässlichkeitsgift. Nun muss als Gegenmittel eine harte, nämlich goldene Nuss von einem Jüngling in seiner vollreifen Unschuld geknackt werden.

Lebensbejahende Normverweigerung

Gegen die Rückkehr zum Superschön-Klischee regt sich Widerstand auf der Bühne, ebenso gegen die Degradierung der Mäuse zu Bösewichtern (beim Autor war damit der noch mächtige Adel gemeint), in Hannover vielfach als Ratten bezeichnet. Biologisch korrekt werden sie als höchst saubere, intelligente und soziale Wesen beschrieben, sie seien es eben nicht, erklärt Alrun Hofert, "die diese Idee von einem idealen Körper in die Welt setzen und dafür sorgen, dass die Welt um diesen idealen Körper herum gebaut wird. Wir sind es!" Deswegen singen alle "Don’t blame the rats", formieren sich zu einer Rattenskulptur, aus der sich Gina Laskowski aufs Trapez schwingt und zu waghalsigen Verdrehungen und kraftvolle Kopfüber-Haltungen von ihrem Kampf mit den Eltern berichtet.

Der erste Schritt zur lebensbejahenden Normverweigerung ist getan: sich selbst anzunehmen. Ebenso beeindruckend gibt Hofert eine Episode ihrer Kindheit preis: Sie wollte auf die Ballettschule, die Mutter verhinderte das, wohl um sie zu schützen vor möglichem Mobbing aufgrund ihres nicht Ballerina-perfekten Körpers. Die Schauspielerin tanzt bei ihrem Monolog mit dem Schatten einer vollkommenen Gestalt – und zertritt diese. "Ich steige aus dieser Geschichte aus. Ich will nicht so sein. Ich bin ich."

breakingpoint1 kerstinschomburgDas Massband der Norm auf dem Prüfstand © Kerstin Schomburg

Diese beiden Szenen sind die Höhepunkte des Abends, weil sich authentische Aussagen und künstlerisches Spiel, Empathie und Ästhetik gegenseitig bereichern und so den Folgen wie auch Möglichkeiten, idealisierten Körperbildern nicht zu entsprechen, besonderen Nachdruck verleihen. Grundsätzlich funkelt die Frage: Was ist eigentlich Schönheit?

Schon werden Ventilatoren auf- und angestellt, um das ikonische Video aus dem Film "American Beauty" zu zitieren, in dem eine Plastiktüte ständig neu zerknittert oder gebläht durch die Luft flattert und zu hören ist: "Es gibt manchmal so viel Schönheit auf der Welt, dass ich sie kaum aushalten kann." Eine relaxed performance in Vollendung. Was zu sein "Breaking Point" nicht ganz gelingt. Alessandro Schiattarella prunkt mit zu vielen Theatermitteln. Aber ein prima Anreger, sich damit mal tiefergehend auseinanderzusetzen, ist die Produktion für Menschen ab 12 Jahren allemal.

 

Breaking Point
von Alessandro Schiattarella und dem Ensemble
Regie: Alessandro Schiattarella, Bühne: Margarete Albinger, Kostüme: Sigi Colpe, Komposition: Eugenio Fabiani, Musikalische Leitung: Maxim Böckelmann, Video: Rosa Sanzone, Dramaturgie: Barbara Kantel
Mit: Victoria Antonova, Carmen Fuggiss, Alrun Hofert, Helene Krüger und Gina Laskowski
Premiere am 9. März 2024
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

theaterformen.de
www.schauspiel-hannover.de

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