Die Verlobung in Santo Domingo - In Hannover holt Kornél Mundruczó Kleists Novelle filmreif ins Haiti von Heute
Zombies im Dschungel
von Alexander Kohlmann
Hannover, 16. September 2011. Grillen zirpen, exotische Tiere schreien, ein feucht-schwüler Luftzug umstreicht die Haut, wir schauen auf die verfallene Terrasse einer hölzernen Kolonialvilla. Eine perfekt gebaute Illusion (Bühne und Kostüm: Márton Ágh), wie sie Tennessee Williams nicht realistischer hätte beschreiben können, empfängt den Zuschauer auf der Cumberlandschen Bühne. In diesem dichten tropischen Dschungel sind auch auch die Schminkplätze des Ensembles aufgebaut. Und wenn sich nicht vorne links Aljoscha Stadelmann mit viel Schminke in einen bedrohlichen Nachfahren der schwarzen Sklaven verwandeln würde, könnte man glatt vergessen, dass man sich in einem deutschen Theater befindet.
Man merkt, dass der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó vom Kino her denkt und sich auch der Kleist-Novelle "Die Verlobung von Santo Domingo" mit einer an ein Filmset erinnernden Versuchsanordnung nähert.
Unentspannte Weiße, rappende Schwarze
Doch verortet ist sie nicht im Santo Domingo zur Zeit des Haitianischen Befreiungskriegs, sondern im Haiti der Gegenwart. Der weiße Haitianer Strömli (Mathias Max Herrmann), ein etwas unentspannter Mann im weißen Dschungelhemd, verkauft hier Saatgut an die einheimischen Bauern-Karikaturen Pam und Sam (Oscar Olivo und Martin Vischer), deren naive Lebenseinstellung ihn immer wieder überrascht.
"Für Tanzen, Singen, Essen ist immer Energie da, Arbeiten Fehlanzeige", resümiert der Weiße, wenn die schwarzen Nachkommen der von den früheren Kolonialheeren hierher verschleppten Sklaven voller Energie rappen und tanzen. Ein Buch hat sich Strömli gekauft: "Die Verlobung in Santo Domingo" erzähle genau die Geschichte seiner Familie. Vorlesen will er sie dem blinden Schwarzen Lanwe (Janko Kahle) allerdings nicht. Da hilft kein Bitten. Die Vergangenheit dieses blutgetränkten Ortes soll Vergangenheit bleiben, obwohl sie doch allgegenwärtig ist.
Mais-Vergiftung auf Haiti
Es gibt ein Mädchen hier, Marie, eine schwarze Prostituierte mit Träumen. Strömli verliebt sich in die schlanke Frau mit den wild abstehenden Haaren. Videobilder übertragen ihr Beisammensein hinter den Fenstern der Villa. Und als Strömli mitten auf der Terrasse für sie die Popcornmaschine anwirft, kann das Publikum das Kino nicht nur sehen, sondern auch riechen. Erst der große Schwarze Amaral zerstört die Zweisamkeit. Aggressiv und bedrohlich fordert er zurück, was ihm gehört. Zu lange schon ist Marie bei ihrem Freier. Doch nicht deshalb fangen plötzlich alle an zu würgen. Der Mais war vergiftet, und die "My Sweet Haiti"-Geschichte, die Mundruczó zusammen mit Viktória Petrányi um den Kleist-Stoff gestrickt hat, versinkt in Chaos und Kotze.
Jetzt ist der Zeitpunkt für den Kleist gekommen. Als Strömli zu deklamieren beginnt, erwachen die Geister der Vergangenheit zum Leben. Einst gab es hier einen "fürchterlichen, alten Neger mit Namen Congo Hoango", der die schutzsuchenden Weißen aus Zorn über die Gräuel der Kolonisation massakrieren ließ. Auf der Videoleinwand wird das Innenleben der Farmkulisse lebendig. Labyrinthartige Gänge, durch die Zombie-ähnliche Wesen irren.
Erwachen aus dunklen Träumen
Bei Kleist findet ein Liebespaar zusammen – und in den Tod. Sind Strömli und seine schwarze Freundin Marie eine Reinkarnationen der liebenden Toten? Spätestens, wenn Johanna Bantzer mit zerfetzter Kleidung und verzerrter Grimasse den immer lauter lesenden Strömli bedrängt, verschwimmen die Grenzen zwischen dem Haiti von heute und dem Santo Domingo von damals. Dann treten die zerlumpten Gestalten der Vergangenheit hinaus auf die Bühne, und für einen Moment scheint es, als wollten sie sich auf das Publikum stürzen.
Bis hierher ist es ein ungemein mitreißender Abend, der mit allen Mitteln das Flimmern der Leinwand auf die Bühne überträgt, wie man es selten woanders gesehen hat. Umso unverständlicher bleibt der plötzliche Einbruch zum Schluss. Das Licht wird heller. Die Atmosphäre verschwindet. Aus Schatten der Vergangenheit werden Schauspieler, die die Kleist-Novelle am Keyboard zu bedrohlicher Filmmusik solange weiterrezitieren, bis aus dem vielschichtigen Illusionstheater eine harmlose chorische Lesung geworden ist. Nicht fertig geworden? Bewusste Verfremdung? In jedem Fall ein zu frühes Erwachen aus den (Alp-)Träumen der Vergangenheit, das so gar nicht notwendig gewesen wäre. Es bleibt: ein Film, bei dem die letzte Spule verschollen ist.
Die Verlobung in Santo Domingo oder My sweet Haiti
von Kornél Mundruczó und Viktória Petrányi nach Heinrich von Kleist
Regie: Kornél Mundruczó, Bühne und Kostüme: Márton Ágh, Text: "My Sweet Haiti" von Kornél Mundruczó und Viktória Petrányi, Mitarbeit: Éva Zabezsinszkij, Übersetzung: Orsolya Kalász, Musik: Asher Goldschmidt, Lars Ehrhardt, János Szemenyei, Video: Bernadett Tuza-Ritter, Dramaturgie: Viktória Petrányi, Judith Gerstenberg.
Mit: Johanna Bantzer, Mathias Max Herrmann, Janko Kahle, Thomas Mehlhorn, Oscar Olivo, Aljoscha Stadelmann, Martin Vischer.
www.staatstheater-hannover.de
Beim Performance-Festival Berlin del Mar machte sich im Sommer 2011 auch schon die Trash-Puppenspieltruppe von Das Helmi über Kleists Verlobung von Santo Domingo her.
"Obwohl Mundruczó nicht mit dem Üblichen, also Musikeinlagen, Videoprojektionen, Nackedeis und Sex spart, entfaltet sich eine bezaubernde Geschichte", schreibt Nicole Korzonnek in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.9.2011). Es dürfe gelebt und gelitten werden. "Der Clou scheint hier aber die Kleist-Erzählung selbst, die in behutsam gekürzter Form zum Schluss vorgetragen wird. Zuerst vom Strömli-Spross, der die Geister der Novelle lebendig werden und sich von ihnen morden lässt. Dann von den Geistern selbst: einzeln, chorisch, konsequent emotional." Leider verderbe Mundruczó seinen Geschichtenzauber durch eine Art Affentheater: "Im Primatenkostüm turnt Oscar Olivio während der Lesung über die Bühne und lässt sich unter Raketengrollen und Nebelschwaden schließlich ins Weltall schießen." Das mache diesen Stückversuch kaputt.
Es sei ja im Theater ein wenig ruhig geworden um die Globalisierungthemen, stellt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (22.9.2011) fest. Da wirke Mundruczós Inszenierung geradezu "wie ein Weckruf aus dem politischen Koma". Zwar führe der ambitionierte Versuch, ganz Haiti in der Nussschale einer Inszenierung unterzubringen, dazu, dass der Abend "überladen und gelegentlich zerfahren" scheine, doch: "Das Chaos ist nun mal nicht stringent."
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