Diesseits - Bettina Rehm inszeniert Thomas Jonigk in Hildesheim
Glaube mit und ohne Gott
von Stephanie Drees
Hildesheim, 19. Januar 2013. Paula ist schwer krank. Erledigt vom Überangebotstotschlag. Auch ein fieser Vielseitigkeitsterror hat sie eiskalt erwischt, der sitzt im Nacken und lässt sie taumeln, straucheln und durch eine Szenerie irren, die sich Leben nennt. In Hildesheim steht sie in Form einer überdimensionalen, weit in den Bühnenraum reichenden Treppe. Mausgrau wie der Schleier über Paulas Selbstbewusstsein und voller schiefer Stufen-Podeste, auf und zwischen denen die Schauspieler in Thomas Jonigks Stück "Diesseits" die Episoden aus Paulas Murksleben spielen. Ganz hinten ein Fenster mit Projektionen, die Paulas Innenleben mithilfe von Computertomographiebildern und Himmelsfarben illustrieren. Die Regisseurin Bettina Rehm hat die existentialistische Reise am Theater für Niedersachsen ganz als Komödie aufgezogen – textgetreu und mit festem Glauben daran, dass Situationskomik in fröhlicher Aufgang-Abgang-Manier das oft rutschige Parkett der Boulevardkomödie schon sichern wird.
Herausgekommen ist ein Hybrid zwischen Farce und Liebesgeschichte. Es ist wenig tragisch. Aber auch wenig dringlich. Dabei hat Jonigk doch zumindest vordergründig in die Vollen gegriffen. Denn zu Paulas zahlreichen metaphorischen Leiden gesellt sich auch noch eins von weitaus aggressiverem Kaliber: ein Gehirntumor. Ob er gut- oder bösartig ist, wird sich bald herausstellen. Bis dahin will die Heldin noch einige Dinge erledigen, die ihrem wenig zufrieden stellenden Leben zu einer – in Work-Life-Balance-Sprache ausgedrückt – besseren Glücksbilanz verhelfen sollen.
Mehr als ein zartes Opfer
Beinahe die Hälfte der erwartbaren Zeit, vierzig Jahre, hat sie schon hinter sich. Und in Sachen Lebenserfüllung noch immer kein Happy End. Kein fester, erfüllender Job. Kein Kerl. Keine Familie. Nicht mal ein Orgasmus, zumindest kein authentischer. Aber Krebs. Selbst in Sachen Krankheit schafft es Paula, sich ihres Versager-Gens zu versichern. Doch dann tritt Dietmar, der Traumprinz im Physiklehrer-Strick, ihr wortwörtlich vor die Flinte: Mit Suizidgedanken überfällt sie aus Versehen eine Bank statt einer Apotheke.
Diese Paula hat Jonigk 2007 als Auftragswerk für das Düsseldorfer Schauspielhaus entworfen – zu jenem Zeitpunkt dort Dramaturg und noch nicht sehr lange dem Etikett "hoffnungsvoller Dramatikernachwuchs" entwachsen. Seine Hauptfigur ist mehr geworden als ein zartes Opfer, das von neoliberalen Mühlen zu menschlichem Prekariatsbrei zerrieben wird. Paula ist nicht der Prototyp einer Kämpferin, dafür hat sie sich im wärmenden Opferfell zu gut eingemümmelt. Doch sie ist eine beherzte Goldgräberin; eine, die es fünf vor zwölf wissen will. Nebenbei ist sie die einzige wirklich interessante Figur in Jonigks Stück, das mit der großen Frage scharwenzelt: Was heute tun, wenn morgen alles vorbei wäre?
Maues Diesseits, graues Jenseits
Denn so angesagt das Sterben nicht nur in ARD-Themenwochen inzwischen ist, der wahre Star ist immer noch das Leben – und zwar das gute. An dieser Stelle muss man Jonigk, so holzschnittartig er den Rest seines Bühnenstabs angelegt hat, einen Dank aussprechen. Er hat eine weibliche Hauptfigur kreiert, die jenseits von Generationenlamento auf Selbstsuche gehen darf. Doch neben dem und ein paar netten Pointen ist das Stück nicht allzu ertragreich. Dialoge über Liebe ohne Sex, Sex ohne Liebe, Glaube mit und ohne Gott und gesellschaftliche Zurichtung haben hier nicht Schluchtentiefe.
Die Inszenierung quittiert das mit wilden Verfolgungsjagden durch das kluge Bühnenbild und Figuren, deren Klischeeschraube leider nie so weit angezogen wird, dass Fahrt in das Ganze kommt. Oder statt einer Textumsetzung eine eigene Lesart zu erkennen ist. Das "Diesseits" bliebe mau und das Jenseits grau – wäre da nicht Katharina Wilberg als Paula. Mit ausgefahrenen Ellenbogen und einer Energie aus Verzweiflung und Neugier stampft sie auf flachen Stiefeln durch die Kulisse. Wilberg kontert und duckt, rastet aus und zetert. Eine hausbackene und gleichzeitig forschende Sinn-Odyssa, die der Inszenierung etwas von ihrem Klipp-Klapp-Krisenrealismus nimmt.
Diesseits
von Thomas Jonigk
Regie: Bettina Rehm, Bühne und Kostüme: Julia Hattstein, Dramaturgie: Cornelia Pook.
Mit: Katharina Wilberg, Dennis Habermehl, Moritz Nikolaus Koch, Joëlle Rose Benhamou, Michaela Allendorf, Gotthard Hauschild.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, eine Pause
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Ein "Lebensabschlussdrama mit Spaßfaktor" hat Martina Prante von der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung (21.1.2013) erlebt. Jonigks "intelligenter Text mit geschliffenem Wortwitz", dessen Figuren allerdings etwas schablonenhaft wirkten, sei in einer "konsequent durchdachte(n), wenn auch oft recht plakative(n) Inszenierung" mit ihren sechs Darstellern "schrill, schnell und scharfzüngig" auf die Bühne gebracht worden. Das Komödienhafte werde von der Regie verstärkt. Herausgehoben wird von der Kritikerin Katharina Wilberg, die als Protagonistin "Paula – trotz der Diskrepanz von gedrechseltem Text und Naivität – authentisch die Frau, die sich das Leben nicht (zu)traut" verkörpere.
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