Leonce und Lena - Theater Osnabrück
Surfen auf der Büchner-Welle
11. Februar 2024. Kaum ein Klassikertext lädt zu so zum Freidrehen ein wie Georg Büchners faule Königskinder. Aber wenn, dann bitte so wie bei Katharina Schmidt und Roman Konieczny! Das Regieduo hat das Stück an zwei Jahrhunderten vorbei in die Gegenwart gezerrt und entfesselt dabei seine eigentliche revolutionäre Kraft. Ein Triumph.
Von Tim Schomacker
11. Februar 2024. Es beginnt mit zwei riesigen Szenen, bevor überhaupt ein Wort gesprochen wird. Vorhang auf. Unter einem großen, scfi-fi-trashigen Metall-Polyeder versammelt sich eine Gruppe Frühmenschen ums Feuer. Es wird einander gekratzt, Holz nachgelegt. Eine eher gegenwärtige junge Frau schlendert herein, setzt sich für einen Moment in den Sozialverbund. Vorhang zu. Schwarz. Schrift drauf: Tief atmen! Vorhang wieder auf. Das kubistische Blechdings oben ist einer hinten tiefhängenden Pinkneonröhren-Reihe gewichen. Wer in greller Pilzblond-Perücke kommt, stellt umständlich ein Retro-Tonband an, es klingen lullige Muzak-Schleifen. Energiesparende Tanzfiguren in der Bühnenmitte. Nur keine Hektik, sagt das.
Dieser entsetzliche Müßiggang
Wir haben Zeit. Wir haben – viel zu viel Zeit. Und die müssen wir füllen. "Morgen!", murmelt wiederholt der kunstblond beschnurrbarte Kurzehosen-Träger Valerio und bringt wiederholt der grummelnd vor lauter Zeitbefüllungs-Problematik dahockenden Prinzessin Lena wiederholt einen auf den Plastikbecherhaufen am Boden zu werfenden neuen Plastikbecher. Jemand quietscht – herrlich enervierend das Quietschen mit dem Mund ins Mikro nachahmend – einen gähnenden Servierwagen. An der Neonstange wird, langsam, ballettet, plié! Und erst dann, erst dann kommt der Text! Büchner: "Es grassiert ein entsetzlicher Müßiggang".
Katharina Schmidt und Roman Konieczny haben sich auf berauschende Weise das Büchner-Lustspiel vor- und es aus heutiger Sicht ernstgenommen. Dass eine erstaunlich große Anzahl von Schülerinnen und Schülern diese Premiere besuchte und der Junge-Leute-Geschichte da auf der Bühne derart fröhlich bis zum frenetischen Schluss-Applaus folgte, ist, da trete ich mit meinem kleinen Kritiker-Geschmack gern zurück, gewiss das größte Gelingen des pausenlosen Neunzigminüters!
Nö – nö – klar!
Der Erfolg ist erklärbar. Konieczny und Schmidt scheinen den hier überbordend sich faltenden, dort fast-fragmentarisch zerklüfteten Text mit dem Netz eingefangen und dann einmal kreuz und quer durch Moden und Utopien und Katastrophen der folgenden knapp 200 Jahre in die Gegenwart gezerrt zu haben. Diese drei Aufgaben haben sie sich offenbar gestellt: Jungs-Text, passt das noch? Königskinder, passt das noch? Dramaturgische Brüche im Text, braucht das nicht ein paar Bilder? Die Antworten offenbar: Nö – nö – klar!
Die Maßnahmen: Die mühelos die Weltgebäude der Bühne füllende, sich gegen den Ennui der ewigen Wiederholung im Königskinder-Wartestand stemmende Lua Mariell Barros Heckmanns kriegt als Lena dem kompletten Leonce-Text übergebraten. Sie befühlt Müßiggang, Weltgeist, Ideen und Schicksal mit zitternder, mitunter in diktatorische Jugendlichkeits-Hybris kippender Neugier, als käme sie geradewegs aus den Tanznächten von Rainald Goetz' Rave-Texten. Leonce kriegt in der Osnabrücker Inversion bloß Lenas winzigen Text-Rest ab. Darf immerhin aber auch nach Italien abhauen, auf dem Weg reichlich Natur und Gedanken erleben. Sehr schön ist das Intro von Büchners grandiosem Wahnsinns-und-Philosophie-Fragment "Lenz" in Raphael Akeels melodisch auf der Text-Welle surfenden Leonce eingewoben.
"Was ist das eigentlich: ein Staat?"
Gegen Ende erst aus dem abstrakten Bühnenhintergrund geborgen, wirkt dieser Leonce wie eine tranceartige Neugier-Figur bei Wedekind: in alle Richtungen – also auch die abgründigsten – offen. Und zunächst aber schockverliebt in (ohne es zu wissen) natürlich genau das Königskind Lena, mit dem er sich wechselseitig wegen zu viel aristokratischer Weg-Prägung genau nicht hatte vermählen wollen.
Maßnahme 2: Eine Spinne tastet sich ans Mikro, dann, in Vocoder-piepsigem Stimmchen: "Ich hab da mal ne Frage: Was ist das eigentlich: ein Staat?" Ah, Kontext. Büchners Hessischer Landbote, Friede den Hütten, Sie erinnern sich, ein Jahr zuvor erschienen, ohne den das ganze Lustspiel mit seiner Schloss-Langeweile kaum korrekt einzuordnen ist. Büchner (und die Inszenierung mit ihm) mag seine Königskinder sehr – aber eben nicht als Königskinder! Am Ende kollert die eh schon schmucklos gewordene Krone des tranig-erleichtert abdankenden Königs Peter (Ronald Funke schlurft und stottert diesen ganz herrlich durch den Abend) über den Bühnenboden. Aber niemand mag sie so recht nehmen. Schmidt/Konieczny haben ihrem Ennui reichlich durchindustrialisierte und -globalisierte Massenkultur eingeimpft (tolle bühnenhoch trickgezeichnete Videokonferenz kurz vor der Vermählung!).
Maßnahme 3: Bilder. Mit einem knappen Dutzend Spiel- und Ballett-Statisten als frei flottierenden Ornamenten, mit einer von kargen Wort-Imperativen in New Age-Manier (Atme!) überpräzis gesetzten Live-Kamera (einmal, direkte Übersetzung von Büchner, schaut die Kamera Lena von oben auf dem Kopf und fährt dann bis auf Lollistilnähe an ihr räsonierendes Gesicht runter) bis zu den psychedelischen Bergbildern der Italien-Episode in Franziska Junges exzellenter Videoeinrichtung. Mit sehr viel Witz (Höhlenmenschen im TV-Studio, einer, Precht?, interviewt eine, Hannah Arendt?, zu deren Maximen der tätigen Existenzform in "Vita activa" – ich musste prusten im Parkett!) sperren Schmidt und Konieczny diesen dichten, lebendigen, sprudelnden Text auf – ohne dass er dabei zerbricht.
Chapeau!
Leonce und Lena
von Georg Büchner
Regie: Katharina Schmidt und Roman Konieczny, Bühne; Kostüme: Gregor Wickert, Musik: Pär Hagström, Video: Franziska Junge, Dramaturgie: Kundry Reif.
Mit: Raphael Akeel, Lua Mariell Barros Heckmanns, Ronald Funke, Sascha Maria Icks, Oliver Meskendahl.
Premiere am 10. Februar 2024.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theater-osnabrueck.de
Kritikenrundschau
"Das ist alles nett, ein bisschen schrill und tut nicht weh," schreibt Ralf Döring in der Neuen Osnabrücker Zeitung (12.2.2024). In jedem Fall biete die Inszenierung allerdings gutes Schauspiel. Erzählt werde "in üppigen, mitunter auch coolen Bildern". Nur verliert sich Büchners Text dem Eindruck des Kritikers zufolge "in einem Irrgarten aus Ergänzungen, und die Satire kommt unter die Räder der riesigen Assoziationsmaschine. Schmidt und Konieczny deuten Büchners Lustspiel um zu einer Suche nach dem Sinn des Lebens, und das Fazit ist deprimierend, weil alles Streben vergeblich ist."
"Selten ist Langeweile so schön gewesen", ruft Katrin Ullmann in der taz (14.2.2024). In der Inszenierung vergehe "eine zwar hübsche, aber auch sehr bildhaft zerdehnte Stunde, bis die Protagonistin nach Italien abhauen darf". Wenn dann aber Lena die Leonce-Texte übernehme, sei das "ein kluger Move des Regieduos, der am Die-Liebe-findet-sich-eh-Verlauf des Stücks nichts ändert, aber der bei Büchner weitgehend stummen Frauenfigur deutlich mehr Textanteil und Spielräume gibt". So drehe sie den Stoff "elegant" in eine "gender-offene Gegenwart" und habe in "Lua Mariell Barros Heckmanns zudem eine grandiose, herrlich coole, faule, launische und später hemmungslos verliebte Lena".
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Das Gespräch mit H. Arendt dürfte ein nachgspielter Dialog aus der Reihe "Zur Person" mit Günter Gaus sein, worauf das s-spitze Hamburger S des Interviewers und das "Sehen Sie" Arendts hindeuten. Arendts alternative Einleitung ihrer Antworten war dann meistens ein "Schauen Sie".
Zur Inszenierung: Durch den Geschlechtertausch ist mir tatsächlich zum erstenmal bewusst geworden, wie klein die Rolle "Lena" doch ist - danke für diese Erkenntnis.
Ich stimme auch den Rezensionen zu, dass der Abend nicht nur toll gespielt ist, sondern auch so richtig schönes Theater zum Gucken ist. Er ist sehr unterhaltsam. Auch in der von mir besuchten Vorstellung gab es eine sehr große Schüler:innengruppe, die sehr konzentriert zuhörte und schön leise war, was ich von dem Rentnerquartett hinter mir nicht ganz behaupten würde.
Jetzt kommt jedoch ein "aber", ein kleines:
Aber ich fand es beim Nachdenken über das Stück dann doch bedauerlich, dass die politischen Elemente weitgehend getilgt wurden (mit dem Schulmeister, z. B.) und auch Valerios Schlusstext fehlt.
Aber das kann ich auch wieder verstehen, weil V. ja eine Utopie entwirft - und das passt nicht zur Inszenierung.
(Das war jetzt noch ein Aber.)