Im Namen der Brise - Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Im lyrisch gestimmten Wartesaal
15. Oktober 2023. Christoph Marthaler und sein Team begeben sich einmal mehr auf Ausgrabungsreise – diesmal mit der Eisenbahn und im Werk der Schriftstellerin Emily Dickinson. Ein Abend nach der Marthaler-Methode, voll klingender Überraschungen und in chronischer Entschleunigung.
Von Michael Laages
15. Oktober 2023. Vorweg – es ist dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg gar nicht hoch genug anzurechnen, dass es sich diesen Stammgast erhalten hat. Die wunderlichen kleinen Theater-Spezialitäten des ewigen Schweizer Sonderlings Christoph Marthaler gehören regelmäßig zum Spielplan im Theater der Intendantin Karin Beier, und das ist gar nicht selbstverständlich. Die große Zeit der Marthaler-Mode ist ja schon eine Weile vorbei, seit das deutsche Theater-Publikum den hochmusikalischen Phantasien-Bastler kennenlernte, im Gefolge von Beiers Hamburger Vor-Vor-Vorgänger Frank Baumbauer vor über 30 Jahren. Der eigenen Methode blieb Marthaler in dieser Zeit immer treu; ein Projekt damals folgte einer ähnlichen künstlerischen Logik wie jetzt die neue Arbeit "Im Namen der Brise".
Bekannt dafür, unbekannt zu bleiben
Interessant wäre durchaus zu wissen, wer in Marthalers Umfeld sich die Lyrik der amerikanischen Schriftstellerin Emily Dickinson ausgesucht haben mag für diese Begegnung im Theater. Schon das Programmheft weist darauf hin, dass die 1830 im ländlichen Massachusetts geborene und 1886 gestorbene Lyrikerin bekannt dafür gewesen sei, dass sie unbekannt blieb; und dass tatsächlich erst kurz vor der vorigen Jahrtausendwende Dickinsons komplettes Werk allgemein zugänglich wurde. Sie blieb auch literaturhistorisch ein Sonderfall, eine echte Spezialität – voller Rätsel, durchaus verwirrend, gar nicht leicht zugänglich.
Vielleicht passt es ganz zu Emily Dickinson, dass sich vor einiger Zeit zwei Koryphäen des zeitgenössischen deutschen Jazz mit ihr beschäftigt haben – die Pianistin Julia Hülsmann und der früh verstorbene Sänger Roger Cicero in ihrem gemeinsamen Album "Good Morning Midnight". Nun wird bei Christoph Marthaler zwar nicht improvisiert, aber auch hier mag sich die Annäherung auf musikalischem Weg vollzogen haben – Marthalers aktueller musikalischer Wegbegleiter Bendix Dethleffsen und die israelisch-stämmige, jetzt in Berlin beheimatete Pop- und "Ladybitch"-Poetin Fee Aviv Dubois zitieren an Klavier und Computer Aaron Copland, Mozart und Liszt, Rachmaninow und Schumann, aber auch George Gershwin, die Pointer Sisters und amerikanische Folk-Songs. Dass das Hamburger Marthaler-Ensemble exzellent singt, ist eigentlich keiner besonderen Erwähnung wert.
Marthaler-typisch: leichte Verstörungen
Die typisch marthalerhafte Stimmung des Wartens entfaltet sich hier in einem Bahnhofs-Wartesaal – wir sind sozusagen mit der Eisenbahn unterwegs. Die kam auch dank Emily Dickinsons Vater im Frühsommer 1853 bis ins Provinzstädtchen Amherst, wo die Familie wohnte, und womöglich sah das Bahnhofsgebäude (abgesehen vom Klavier) innen so aus wie jetzt der Raum von Juri Bischoff: zwei Verwaltungskabinen rechts und links hinten, ein paar Bänke in der Mitte und, links an der Wand, eine Eingangstür und einige Mülleimer. Aus einem Ventilator-Schacht klingt gelegentlich der Lärm der Züge, gelegentlich aber auch die Stimme der Dichterin herein, von Margit Pötzsch gesprochen; und die von Graham F. Valentine, einem der beiden Marthaler-Gefährten aus früheren Zeiten an diesem Abend.
Der andere ist Magne Havard Brekke, der einst schon zum Ensemble des legendären "Murx"-Abends an der Berliner Volksbühne gehörte. Er ist hier einer von zwei Bahn-Bediensteten, von Sara Kittelmann ganz in Grau kostümiert; die beiden sind für das erste technische Zauberkunststück des Abends zuständig. Mit bloßen Händen fummeln sie an merkwürdigen Stahl-Gestängen herum, die aussehen, als würden hier auch Fahrräder abgestellt; bei Brekke ist dabei überhaupt nichts zu hören, Kollege Samuel Weiss hingegen produziert (mikrophonisch verstärktes) Kratzen und Schaben. Was ist normal, was Theater – ohne leichte Verstörungen wie diese (die gar nichts bedeuten müssen) kommt kein Marthaler-Abend aus.
Kaum ein Moment ohne Überraschung
Auch später und in der Musik gibt’s solche Verrückungen in der Wahrnehmung – wenn etwa Dethleffsen und Dubois Rhythmen ganz sacht gegeneinander verschieben. Aber auch wenn Bahnwärter Weiss das Klavier mit dem Feuerlöscher traktieren will, Kollege Brekke in einem Papierkorb zu sitzen kommt und fast darin verschwindet; wenn Sasha Rau und Josefine Israel, die beiden Dickinson-Beschwörerinnen in Text und Gesang, sich und einander ohne erkennbare Gründe in unterdrücktem, aber ziemlich ansteckendem Lachen verlieren. Keiner der Gänge, keine der Bewegungen und Begegnungen in den zwei Theaterstunden ist tatsächlich vorhersehbar, kaum ein Moment ist ohne Überraschung. Das gehört untrennbar zur Marthaler-Methode – dass in der strukturellen Langsamkeit, der chronischen Entschleunigung, immerzu alles möglich ist; auch das Gegenteil.
Da findet sich dann sicher auch die gedankliche Brücke zu Dickinsons Lyrik – die sich keinem "Stil" verpflichtet fühlte, sich fern hielt von allem, was vielleicht "Erfolg" versprochen hätte, die formal verstörend war und sein wollte: mit Dichtung voll von Herz und Gefühl, aber im Grunde nur für die eigene Schublade produziert, bestenfalls für Freundinnen und Freunde. "Ich wohne in der Möglichkeit", schrieb sie. Heute mag diese Schriftstellerin zwar keine Unbekannte mehr sein – aber ein Geheimtipp ist sie immer noch.
Und Christoph Marthaler, dieser Einzelgänger, der an allem Interesse wecken kann, am Gewöhnlichen wie dem Ungewöhnlichsten, bringt sie dem Publikum vielleicht ein bisschen näher. Dafür lohnt die Reise nach Hamburg. Unbedingt.
Im Namen der Brise
Von Christoph Marthaler, mit Texten von Emily Dickinson
Regie: Christoph Marthaler, Bühne: Juri Bischoff, Kostüme: Sara Kittelmann, Licht: Björn Salzer, Musikalische Einstudierung: Bendix Dethleffsen, Tasten-Instrumente: Bendix Dethleffsen und Fee Aviv Dubois, Dramaturgie: Malte Ubenauf.
Mit: Magne Havard Brekke, Benix Dethleffsen, Fee Aviv Dubois, Josefine Israel, Sasha Rau, Samuel Weiss.
Premiere am 14. Oktober 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Kritikenrundschau
Eine "kräftige Brise Melancholie und Sehnsucht" wehten durch den Abend, so Katja Weise im NDR (15.10.2023). Und klar sei auch: "Eilig" habe es an diesem "seltsamen Durchgangsort" niemand, aber es füge sich "wie bei einem Kaleidoskop alles Splitter für Splitter zusammen". Das kleine Ensemble sei "in Hochform, enorm präzise und konzentriert, da sitzt noch das kleinste Zucken im Mundwinkel perfekt". Ein "zauberhafter Abend", konstatiert die Kritikerin.
Die Texte von Emily Dickinson seien "wie geschaffen für einen Regisseur wie Christoph Marthaler, der sie mit verwunschenen Melodien und seinem subtilen, feinen Theater-Humor verbindet", lobt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (16.10.2023): "Die drei in elegante, altmodische Kleidung (Kostüme: Sara Kittelmann) gewandeten Darstellerinnen Josefine Israel, Sasha Rau und die Berliner Musikerin Fee Aviv Dubois unterhalten sich mit den Mitteln der Dichtkunst, mal versuchen sie - vergeblich - Zigaretten anzuzünden. Bald krümmen sie sich, jeden Winkel nutzend, wie schlafende Hamster auf und unter der Wartebank zusammen." Der Abend sei "ein Kleinod", das zu entdecken sich unbedingt lohnt, so die Kritikerin.
In einer "Stimmung tiefer Nostalgie" befand sich Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (17.10.2023) mit diesem Abend und erlebte ein "Potpourri der kleinen Herzensrisse, die mit Humor und Musik gekittet werden. Wobei für alle, die Marthaler/Viebrock-Abende seit den Neunzigern verfolgen durften, diese Rückblende vor allem Déjà-vus bietet". Fazit: "Die Marthaler'sche Herzlichkeit verbindet sich mit der Dickinson'schen Worthauptsache zu einer sanften Brise auf einer Theaterinsel, wo Freude ohne Feindsinn lebt."
Ein wenig erwartbar und nicht besonders tiefgründig findet Irene Bazinger von der FAZ (19.10.2023) den Abend. "Aber trotzdem werden die artistischen Reglosigkeiten und surrealen Miniaturen hinreißend zelebriert." Es handele sich weniger um einen biografischen Abend über die Dichterin Emily Dickinson als um eine "nonchalante Paraphrase mit Bendix Dethleffsen und Fee Aviv Dubois an den Tasteninstrumenten sowie Josefine Israel, Sasha Rau, Samuel Weiss und Magne Håvard Brekke als arabeske Kapazitäten für ihren absurd wunderlichen Alltag."
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gerade eine Kolonne Polizei und Wasserwerferwagen mit Alarm an mir vorbeifuhren.
Ich konnte erst ruhig werden, um dann den bezaubernden Sonderbarkeiten zu folgen, die mir dort präsentiert wurden. Ähnlich, wie die Beobachtung der erwähnten Raupe auf einem Blatt, fokussiert sich die Wahrnehmung auf Details und die Sinne werden feiner eingestellt. Emily Dickens Texte kannte ich vorher nicht. Die Zeilen, die ausgewählt wurden und die Schönheit dieses Abends ziehen mich heute in die Bibliothek um nach einem ihrer Gedichtbände zu suchen.
Beeindruckt hat mich auch der ausgewogene Ensemblegesang, der Lieder so interpretiert hat, das sie in ihrem Pianissimo eine viel stärkere Kraft hatten.
Dankeschön! Der Abend entließ mich in sanfter Stimmung von Glück.
Christoph Marthalers Inszenierungen waren vor 30 Jahren frisch und neu und tatsächlich sehr komisch. "Im Namen der Brise", der vorgibt sich mit den Texten der Dichterin Emily Dickinson zu befassen, ist ein optisch aufgeräumter, darstellerisch bemühter Murx. Man kann von "struktureller Langsamkeit" sprechen, von "chronischer Entschleunigung", vom "Ungewöhnlichen, wo immer auch alles Möglich ist, auch das Gegenteil". Oder von zusammenhangloser Langeweile. Die Gesangseinlagen waren schön, das Ensemble hat die mit Dickinsons Texten verzierten Szenen nett umgesetzt. Aber ich habe in den fast zwei Stunden nichts über Dickinson gelernt, keine neue Erkenntnis gewonnen noch wurde ich darüber hinaus irgendwie unterhalten.
In der taz sagt Samuel Weiss, einer der Darsteller: „Wenn ich nicht alle zwei Minuten irgendetwas mache, was nicht auf eine Pointe zuläuft, denke ich sofort, das merkt jetzt jemand im Zuschauerraum und wird mich erschießen. Diese Angst habe ich jahrelang gehabt. Bei Christoph Marthaler lernt man, dass man nicht erschossen wird. Das ist das Schöne, und das Beruhigende.“ - Was ist daran beruhigend, dem Publikum zwei Stunden lang nichts zu präsentieren, außer prätentiöser kleiner Spielereien? Es hat einen Sinn auf eine Pointe, auf eine Aussage oder eine bestimmte Bedeutung hinzuarbeiten. Alles andere ist Belanglosigkeit oder Dekoration. Das Theaterpublikum ist geduldig, denn was es nicht versteht, wird zur großen Kunst umgedeutet.
Wer Emily Dickinson nicht kennt, wird hier nicht von ihr begeistert, es geht nicht darum sie einem Publikum irgendwie spielerisch nahezubringen. Vielmehr benutzt Marthaler Texte von ihr um seine dekorativen Albernheiten aneinanderzureihen und das Publikum in pseudo-künstlerische Geiselhaft zu nehmen.
Es gibt sogar Slapstickeinlagen, wo es dem Pianisten (Bendix Dethleffsen) nicht gelingt einen Stapel Noten unter den Arm zu klemmen. Immer wieder fallen sie ihm herunter. Hui! Ist das komisch. Da kann sich das Publikum vor Schmunzeln kaum auf den Stühlen halten. Oder wie Magne Håvard Brekke langsam in einem Mülleimer versinkt und später gegen eine Treppe läuft. Herrlich! Humor ist so wichtig.
Horoskope kann man so lesen, dass sie zu einem passen, dass sie Sinn ergeben. Und so kann man sich auch Marthalers Stück "Im Namen der Brise" zurechtlegen. Am Ende bleibt es wichtigtuerischer Quatsch und von nicht wenigen im Publikum hörte man einen erleichternden Seufzer, als am Ende das Licht ausging.