The Who and the What - Am Hamburger Schauspielhaus gelingt Karin Beier mit der deutschen Erstaufführung des Stücks von Ayad Akhtar Schauspielertheater zum Verlieben
Gott hat keine Brüste
von Stefan Schmidt
Hamburg, 14. Januar 2017. Der weißhaarige Mann kennt sich für sein Alter ziemlich gut im Netz aus: Auf muslimlove.com gibt er sich als seine älteste Tochter aus, um die manchmal etwas verhärmt wirkende Zarina endlich an den passenden (gläubigen) Mann zu bringen. Arrangierte Ehe 2.0. Also: Rückschritt im Fortschritt? Eine der Ungeheuerlichkeiten in dem Theatertext "The Who and the What" von Ayad Akhtar besteht darin, dass diese Anmaßung des Vaters tatsächlich zum erhofften Erfolg führt. Allerdings nicht so, wie sich der alte Mann das vorstellt.
In der deutschsprachigen Erstaufführung des US-amerikanischen Stoffs am Hamburger Schauspielhaus stellt Intendantin Karin Beier ihre Regie in den Dienst der Geschichte, der Figuren und ihrer Darsteller. Indem sie theatrale Mittel reduziert, aber konzentriert dosiert einsetzt, gelingt ihr das Kunststück, die Inszenierung über die thematische Ebene hinaus ins Allgemein-Menschliche hinausweisen zu lassen. So ist dieser Abend auch als politischer Debattenbeitrag zur Rolle der Frau im Islam zu verstehen, ganz interessant, sicher relevant, klug gebaut.
Liebe in Zeiten des Rückschritts
Allerdings ist diese pakistanische Einwandererfamilie aus den USA dann doch wiederum ein spürbares Stück weit weg vom Lebensumfeld des Hamburger (Premieren-)Publikums. Karin Beier erzählt aber mit der Vorlage des Pulitzer-Preisträgers Ayad Akhtar außerdem noch eine Geschichte über das Wesen der Liebe. Und da wird’s spannend.
Zarina liebte mal Ryan, aber ihr Vater hat der Beziehung zu einem Nicht-Muslim einen Strich durch die Rechnung gemacht. Stattdessen heiratet sie Eli, den Konvertiten, den ihr alter Herr für sie im Internet ausgesucht hat, Vorsteher einer Moschee und einer Suppenküche. Ihrerseits besteht da sicher keine Leidenschaft, aber eine intellektuelle Nähe.
Die jüngere Schwester Mahwish ist mit einem Mann verheiratet, den sie kennt, seit sie neun Jahre alt ist. Eigentlich ist sie aber geil auf einen ganz anderen Typen. Vor der Ehe ist sie Jungfrau geblieben. Der Analverkehr, zu dem ihr Zukünftiger sie vor der Heirat immer wieder genötigt hat, zählt da natürlich nicht. Darüber hinaus lieben sich die einzelnen Familienmitglieder noch schmerzlich gegenseitig.
Als nachhaltig stabil erweist sich dabei die Beziehung, die am wenigsten von romantischen Hoffnungen beeinflusst ist. Der Konvertit Eli steht zu Zarina, auch nachdem sie einen Roman fertiggestellt hat, der den Koran als literarische Vorlage begreift, als Geschichtensammlung über einen überforderten Menschen, der seinen politischen wie sexuellen Vorteil suchte und darüber zum Propheten wurde. Eine provozierend weibliche Sicht auf Mohammed in einem giftgrünen Ordner, die die patriarchale Welt ins Wanken bringt und Steinewerfer auf den Plan ruft, die die berufliche Existenz von Vater und Ehemann zerstört.
Großes Schauspielertheater
Paul Herwig gibt letzteren, diesen Online-Lover, über weite Strecken als ziemliches Weichei. Die unauffällig wirkungsvolle Kostümbildnerin Maria Roers steckt ihn zeitweise gar in eine rosafarbene Schürze samt gelbem Gummiputzhandschuh. Wenn es in ihm bebt, dann vibriert seine rechte Hand auf dem stocksteifen Körper, dann trommeln die Finger nervös auf den Unterleib, eine Träne scheint kaum merklich in seinem Auge zu schimmern, bis die Liebe zu seiner Frau aus ihm herausbricht. Toll. Da sitzt jedes Detail!
Schön auch, wie Regisseurin Karin Beier Schauspieler zueinander arrangieren kann. Wenn Herwigs Eli an der Liebe seiner Frau zweifelt, dann sitzt er wie ein kleiner Junge im Schneidersitz vorne rechts am Bühnenrand, Blick zu Publikum, während die Zarina der gewohnt starken Lina Beckmann mit dem Rücken zum Zuschauerraum in der Mitte der zentralen Holzwand um Fassung ringt. Das geht richtig nah!
Vier Sitzquader, zwei Tische, vier Tassen, eine paar Orangen, eine Saftpresse, eine Avocado, zwei Kannen, vier handwerklich perfekte Darsteller – viel mehr braucht dieses Kammerspiel im ganz großen Hamburger Haus nicht, um die gläubig konstruierte Welt einer Familie in und an sich zusammenbrechen zu lassen. Genau wie Bühne und Schauspieler verweigern sich auch die Kostüme in dieser Inszenierung der klaren Zuordnung zu einem sozialen oder kulturellen Milieu: Der mausgraue Schlabberlook von Lina Beckmanns Zarina lässt sich in jedem mitteleuropäischen Bäckerladen wiederfinden. Ernst Stötzners Vater Afzal ist so beige wie jeder zweite Rentner in deutschen Fußgängerzonen. Und die tussigen Glitzer-Plüsch-Outfits der lakonisch präsenten Josefine Israel als Schwester Mahwish sind nur einen kleinen Hauch zu hip, um direkt von der jungen Textilkette um die Ecke zu stammen.
Clash of love cultures
Das könnten also alle irgendwie auch wir sein. Erst recht der bärtige Nadelstreifenhosen-Eli des Paul Herwig. Der fühlt sich nun irgendwann vom provokanten Roman seiner Frau in Konflikt gebracht mit den (Glaubens-)Gewissheiten seines Lebens. Und er fragt sich, ob das nicht geradezu der Zweck von Kunst ist. Wenn dem so ist, dann handelt es sich bei dieser Inszenierung allerdings eher um eine harmlos unterhaltsame Form davon. Zumindest sofern hauptsächlich zentraleuropäische Bildungsbürger des 21. Jahrhunderts im Publikum sitzen.
"Gott ist keine Frau, und Gott hat keine Brüste" – natürlich kann der pakistanische Einwanderervater Afzal mit feministischen Annäherungen an seine Religion wenig anfangen. Besonders überraschend ist das nicht. Den Clash of Cultures hat Karin Beier schon ästhetisch ambitionierter auf die Bühne gebracht als in dieser neuen Inszenierung. Für die Konsequenz ihrer Intendanz spricht, dass sie den gesellschaftlichen Beben unserer Tage ganz unterschiedliche Resonanzräume öffnet. Für ihre Qualität als Regisseurin spricht, dass sie den theatralen Rausch genauso beherrscht wie das lineare Geschichtenerzählen. "The Who and the What" ist sehenswertes, solides Bühnenhandwerk. Überzeugendes Schauspielertheater. Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Liebe als sicheres Maß der Dinge in ungeheuerlichen Zeiten.
The Who and the What
von Ayad Akhtar
Regie: Karin Beier, Bühne: Franz Dittrich, Kostüme: Maria Roers, Musik: Arvild J. Baud, Licht: Rebekka Danke, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Lina Beckmann, Paul Herwig, Josefine Israel, Ernst Stötzner.
Dauer: ca. 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.de
mehr dazu: Das Hamburg Journal des NDR (15.1.2017) gibt ein paar Bilder aus der Inszenierung und stellt Ayad Akhtar zwei Fragen.
Kritikenrundschau
Alexander Kohlmann schreibt auf der Website des Deutschlandradios (16.1.2017), es handelt sich um die Kurzfassung seines Fazit-Beitrags vom Premierenabend: Das Stück sei eine "radikale Abrechnung" mit dem Islam. In Beiers Inszenierung habe diese Abrechnung auch "komische Momente". Beier füge dem "amerikanischen Realismus" des Textes wenig "deutsches Regietheater" hinzu. Die Geschichte packe das Publikum, "das erst viel lachen will und dann immer mehr erstarrt angesichts einer Geschichte, die alles in Frage stellt, was gläubigen Muslimen heilig ist".
"Ayad Akhtar ist hier wieder ein kluges, bissiges Stück gelungen, ganz am Puls der Zeit – nie eindimensional und vor allem sehr flott, ganz auf den Dialog setzend geschrieben. Und so flott und schnörkellos inszeniert Karin Beier auch", meint Katja Weise vom NDR (15.1.2017). Getragen werd der Abend vor allem von Lina Beckmann als Zarina und Ernst Stötzner als Afzal, die ihren Figuren "eine große emotionale Tiefe" verliehen.
Stefan Grund schreibt auf Welt.de (16.1.2017): "So geht das allerbeste Theater: Einfach mal mit sehr guten Schauspielern eine brisante Geschichte erzählen." Mit "leichter Hand" und "klugem Humor" gelinge dies Beier "atemberaubend". Lina Beckmann verkörpere Zarina als "zwischen den Loyalitäten hin- und hergerissene, starke Frau der durchweinten Nächte". Das Publikum fühle mit ihr. Autor Akhtar gelinge "das Wunder", dass das Publikum auch die übrigen Figuren möge. "Ganz große dramatische Kunst", ein "antidemagogisches Meisterwerk".
Irene Bazinger schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.1.2017): Da es um den Islam in unserer Zeit gehe, sperre man "die Ohren weit auf". "Frauen, Islam, westlicher Liberalismus", die deutschsprachige Erstaufführung besteche durch ihren "Mut im Umgang mit der heiklen Themenmischung", indem sie sich "selbstbewusst und gut gelaunt zu nichts als zur Kunst" bekenne. Beier nehme die melancholisch-boulevardeske Tragikomödie "zupackend beim ungenierten Wort", gebe "dem Affen Zucker" und lasse dann wieder "ihre wunderbaren Schauspieler plötzlich bestürzend ernst werden – und dem Publikum fast das Herz brechen". Mit diesem "klugen und humorvollen Abend" erweise sich das Schauspielhaus "erneut als meinungsstarkes Stadttheater im offenen Dialog mit seinem Publikum".
Akhtars neues Stück "ist wieder ein Kammerspiel, das, pointenreich und provokant geschrieben, das Zeug hat, Säle zu füllen, ein Well-made play“, berichtet Frauke Hartmann für die Frankfurter Rundschau (17.1.2017). Karin Beier inszeniere "mit kluger Sparsamkeit", heißt es schon im Vorspann der Kritik. "Ganz unprätentiös zeigt Beiers Inszenierung die Wurzel des religiös-gesellschaftlichen Konflikts, indem sie Beziehungen beschreibt, die wir alle kennen."
"90 Minuten Wohlfühltheater", in der der "feministische Frontalangriff auf die Kernbotschaften des Islam" letztlich wie ein "gegen jeden anderen Gegenstand austauschbarer Konfliktplatzhalter" erscheint, hat Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (17.1.2017) in Schauspielhaus erlebt. Der Verzicht "auf künstlerisch irritierende Mittel" führe "zu einer runden, widerhakenfreien Problemunterhaltung. Konflikte werden clever angedeutet, aufgebaut, gesteigert und gelöst, bis am Ende die Liebe aller zu allen im rührenden Happy End aufgeht, ein seliges Mitfühlen erscheint ausdrücklich erlaubt."
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Die Aufführung zeigt die auch in politischen Zusammenhängen diskutierte Diskrepanz zwischen einem eher intuitiven, damit weitgehend unreflektiert bleibenden, konformistischen Verständnis von Religion und Wirklichkeit einerseits und dem auf Widerspruch ausgerichteten, die Realität in ihren Spannungen und Kontroversen, auch Antinomien erkennenden Intellektualismus andererseits, der gegen Disziplinierung, Fremdbestimmung und Diktatur zu Felde zieht. Auf Begrifflichkeiten politischer Orientierung gebracht, liest sich dies dann folgendermaßen: In weltanschaulicher, mental-inhaltlicher Abstraktion tritt hier der Konflikt zutage zwischen einem sich weitgehend repressiv gebenden Konservatismus im Hinblick auf Religion und Gesellschaft und einer Art Liberalismus, einer ganz bewusst den Geist von Opposition und Kritikfähigkeit ins Zentrum ihres Selbstverständnisses stellenden Aufklärung mit sachbezogener Ausrichtung auf das gleiche Bezugsfeld, nämlich Religion und Gesellschaft. Der Zuschauer wird hier also mit dem Spannungsverhältnis konfrontiert zwischen einer vorwiegend die Kräfte der Beharrung pflegenden, dabei vor geistiger Gewalttätigkeit im Einzelfall nicht zurückschreckenden und sich letztlich auch politisch gerierenden Haltung einerseits und einer Einstellung auf der anderen Seite, welche die Notwendigkeit von Veränderungen betont, längerfristig auch Toleranz einfordert und damit ebenfalls politische Ausdrucksformen annimmt. Deren Vertreter stellen Fragen, nehmen Überliefertes kritisch in den Blick, brechen Traditionen auf, um sie für Erkenntnisse zeitgenössischen Forschens und Denkens anschlussfähig zu machen.
Vater versus Tochter
Beide Positionen, die im Stück insgesamt prägnant herausgearbeitet und durch die Inszenierung überzeugend veranschaulicht werden, finden ihre Personalisierung jeweils in der entsprechenden Dramenfigur, hier in der Konstellation der beiden Hauptakteure. Im Mittelpunkt der Handlung stehen einerseits der Vater, der Vertreter eines sich mit Strenggläubigkeit verbindenden Islamverständnisses, und andererseits seine Tochter Zarina, die in einer akademischen Karriere ihre Zukunft sieht. Hinter der auf Religion bezogenen, sich überdies auch gesellschaftspolitisch auswirkenden Kontroverse, die an die beiden Hauptpersonen geknüpft ist, verbirgt sich möglicherweise auch der Konflikt zwischen Vater und Tochter, d.h. ein Generationskonflikt. Mehr noch scheint es aber in erster Linie - und hier sei der Autor selbst zitiert - um den „Kampf zwischen einem geistreichen Glauben und einem gedankenlosen“ zu gehen (Theaterwebseite des Stückes, Materialmappe, S.18).
Die Tochter repräsentiert, wie bereits angedeutet wurde, einen kritischen Intellektualismus ähnlich wie der Autor selbst, über den es in einem der Zusatztexte heißt: „Ayad Akhtar ist ein typischer amerikanischer Intellektueller, der Ernsthaftigkeit mit Leichtigkeit verbindet.“ (Theaterwebseite des Stückes, Materialmappe, S.18) Für den sozialökonomisch weitgehend Angepassten, d.h. für Afzal, den Vater, hat sich Erfolg in materieller Hinsicht eingestellt: Der Vater, wie gesagt Vertreter eines überlieferten Islamverständnisses, hat ein Taxiunternehmen aufgebaut, das durchaus lukrativ ist: „ […], ihm gehören ein Drittel der Taxis der Stadt.“ (Theaterwebseite des Stückes) Seine Tochter hingegen, die sich mit ihrer Buchpublikation der Islamkritik verschreibt, muss der Beeinträchtigung ihrer Lebenschancen, letztlich menschenverachtender Sanktionen gewärtig sein.
Als der Vater von ihrem Buch und damit von der nach konservativem Islamverständnis nicht anders als ketzerisch zu beurteilenden Sicht auf den Propheten Mohammed erfährt, wird die Familie im Strudel von „Aufbegehren und Strafgericht“ mitgerissen. Sie zerbricht an dem Konflikt, der sich aus den unterschiedlichen Positionierungen der beiden Hauptakteure zu Religion und Gesellschaft ergibt. Eine Weltauffassung, im vorliegenden Fall an strengen religiösen und damit gleichzeitig gesellschaftsrelevanten Maßstäben orientiert, ein geistiger Kosmos, um es etwas zu verallgemeinern, der sich hier jedoch im speziellen Fall, wo es um den Islam geht, in moderner Zeit offensichtlich repressiver und restriktiver darstellt als in vergangenen Epochen, wie dem Text von Navid Kermani im Programmheft zu entnehmen ist (Programmheft, S.13), kann zerstörerisch wirken, wenn er unvorbereitet auf den Anspruch stößt, sich mit den Errungenschaften einer vorangeschrittenen, aufgeklärten Zeit auseinandersetzen zu müssen. Zum Wechselverhältnis von Tradition und Gegenwart im Islam heißt es bei Kermani wörtlich: „Oft ist zu lesen, dass der Islam durch das Feuer der Aufklärung gehen oder die Moderne sich gegen die Tradition durchsetzen müsse. Aber das ist vielleicht etwas zu einfach gedacht, wenn die Vergangenheit des Islams so viel aufklärerischer war und das traditionelle Schrifttum bisweilen moderner anmutet als der theologische Gegenwartsdiskurs. […] Vielleicht ist das Problem des Islams weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie.“ (Programmheft, S.13)
Was bedeuten Inhalt und Handlungsverlauf des Stückes, vor allem Aspekte seiner Interpretation für den Betrachter heute? Deutlich wird die Fragwürdigkeit, das an Wort und Buchstaben seiner Schriftzüge klebende offizielle Verständnis eines überlieferten, hier religiösen Textes, nämlich des Korans, und damit bewusst im Korsett von Konvention und Tradition zwanghaft festgehaltene Aussagen im Hinblick auf Deutung und Weiterentwicklung zu den Erscheinungsformen einer sich in vielerlei Hinsicht verändernden Welt, d.h. insbesondere zu den sich wandelnden Anschauungen, Perspektiven, Forschungsfragen und Interpretationsbefunden nach Maßgabe und Willensbekundung einer Geistlichkeit, die absolute Autorität für sich beansprucht, nicht in Beziehung setzen zu dürfen, schlimmer noch: dezidierte, gar radikale, alles in allem sachbezogen-kritische Positionen nur unter Hinnahme von Nachteilen, häufig unter Lebensgefahr vertreten zu können. Der Vater steht letztlich für eine doktrinäre Einstellung in dieser Richtung und ist damit in gewisser Hinsicht auch Opfer ihrer Restriktionen und Zwänge. Seine Tochter Zarina zeigt mit ihrer Haltung immerhin eine Perspektive auf, der jedoch bislang kaum Chancen nachdrücklicher Durchsetzungskraft gesellschaftlich zuerkannt werden, eine Zukunftsvision, an der noch viel gearbeitet werden muss und die vermutlich auch selbst noch manchen Radikalismus abzustreifen gehalten sein wird. Ihr zukünftiger Mann, ein Konvertit, ebenfalls Muslim, vermag offensichtlich „eine Brücke zu schlagen […] zwischen ihrem modernen Lebensstil und ihrem traditionellen kulturellen Erbe.“ (Theaterwebseite des Stückes, Materialmappe, S.4)
Dabei klingt an einer Stelle des Textes ein Aspekt an, der für heutiges Verständnis besonders im Zusammenhang politischer Bestrebungen gerade auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene, so beispielsweise für Plan und Vorhaben, sich in Organisationen zur Durchsetzung universeller Menschenrechte zu engagieren, bewusst wahrgenommen werden sollte: Der Vorgang, der im Handlungsverlauf des Stückes gewissermaßen den dramatischen Höhepunkt bildet, nämlich die Entdeckung der für Muslime inhaltlich überaus provokanten Buchmanuskripte, hätte im Heimatland der hier agierenden Personen, d.h. in Pakistan, dort unter den Bedingungen eines weitaus schärferen Sanktionsregimes als das in der Privatsphäre einer Familie auf freiheitlichem Boden sich mit dem verletzenden Machtwort des Vaters verwirklichende für die Autorin vermutlich den Tod bedeutet.
Zarina, also die Buchautorin, erwartet schließlich ein Kind, für dessen späteres Wohlergehen von Zarinas Vater spontan ein Gebet gesprochen wird, wiewohl er andererseits seine Tochter verstößt. Hier zeigt sich in seiner Gefühls- und Gedankenwelt offensichtlich eine gewisse Ambivalenz, die auch sonst im Handlungsverlauf gelegentlich zutage tritt und auf die die Regisseurin in einem Gespräch mit NDR Kultur verallgemeinernd hinweist: „Der Vater vertritt Ansichten, die nicht unseren Ansichten entsprechen. Er versucht seine Tochter zu verkuppeln; er möchte unbedingt, dass ihr Mann ein Muslim ist. Dazu geht er in ein Internetforum und gibt sich als seine Tochter aus, um einen passenden Liebhaber für seine Tochter zu finden. Das ist aber auch mit sehr großem Humor geschrieben und im Großen und Ganzen ist dieser Vater sehr liebevoll gezeichnet, man leidet mit dieser Familie sehr mit. Es ist ganz klar, dass dieser Vater sein ganzes Leben seiner Familie gewidmet hat, dass er nichts anderes will, als seine Töchter glücklich zu sehen, seiner eigenen Erziehung im Wege steht und dadurch Ansichten vertritt, die seine Tochter nicht leben kann. Nichtsdestotrotz ist diese Figur sehr warm; man mag diesen Vater.“ (Theaterwebseite des Stückes, Materialmappe, S.17)
Mit dem Wortspiel am Schluss der Aufführung zu der Frage, ob bei der bevorstehenden Geburt ein Junge oder Mädchen wünschenswert sei, kommt in besonderer Akzentsetzung eine ironische Brechung ins Spiel, die eine gewisse, auch dem gesamten Theaterstück immanente Schmerzlichkeit dann doch zumindest temporär einschränkt. Gelegentlicher Wortwitz reißt manches Handlungselement aus der Ecke ideologischer Verbiesterung, um es ein wenig ebenso prägnant wie umgangssprachlich auszudrücken, relativiert in subtiler Weise, aber letztlich wohl nur vordergründig die eine oder andere Position, die zuvor im Brustton der Überzeugung kundgetan wurde. Ein wenig Humor und Ironie machen im Ganzen gesehen manche Aspekte des Stückes in psychisch-mentaler Hinsicht erträglicher. Gleichwohl: Für die Frage nach der Qualität des Werkes bleibt die Feststellung wichtig, dass hinter dem Schleier einer gewisssen Mäßigung durch ironische Brechung sich letztlich Ernstes, Tragisches, Schrecken Erregendes verbirgt, wenn an die Gesamtproblematik nicht nur in der Konstellation von Einzelfällen, sondern in ihrer konkret-alltäglichen Verbreitung in manchen Ländern der Welt gedacht wird. Das Stück hat trotz seiner gelegentlich boulevardesken Ausrichtung ernsten Charakter.
Die Versöhnung von Religion und moderner, aufgeklärter Lebenswelt – und dies gilt für den Islam, aber auch nicht nur für ihn - stellt sich weiterhin als gesellschaftliche Aufgabe für die Zukunft in langfristiger Perspektive dar und dürfte insofern ein nicht ganz unerhebliches Maß an Bildung und Politikverständnis ebenfalls bei allen an dieser Aufgabe Beteiligten, schließlich auch in der Bevölkerung insgesamt voraussetzen. Staat, Gesellschaft und Individuum sind gefordert!
Die Inszenierung des Theaterstückes ist als gelungen zu betrachten, insbesondere auch die Kunst der Darbietung durch die vier Akteure. In dieser Hinsicht ist den auf der entsprechenden Webseite des Theaters verzeichneten Kritiken, die durchweg mit Lob und Anerkennung für die Inszenierung nicht sparen, in jeder Weise zuzustimmen.
Norderstedt, d. 08.01.2018
(Profil des Autors: www.MichaelPleister.de )