Botschaft aus dem Labyrinth

Von Susann Oberacker

Hamburg, 2. April 2009. Der erste Eindruck: hunderte von gelben Glühbirnen. Der zweite: die Ouvertüre zu Wagners Oper "Tristan und Isolde". Mit diesen beiden starken Sinneseindrücken beginnt in Hamburg Angela Richters "Der Fall Esra". Der Roman, der dem Abend zugrunde liegt, wurde von dem deutsch-tschechischen Autor Maxim Biller (Jahrgang 1960) geschrieben und beschäftigte in den vergangen fünf Jahren mehrere Gerichte. 2007 wurde die Veröffentlichung des im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienenen "Esra" verboten.

Ein Jahr später sprach das Bundesverfassungsgericht Billers Ex-Freundin, die der Autor in der Titelfigur nach Meinung der Richter porträtierte, eine Entschädigung von 50 000 Euro zu. Das Persönlichkeitsrecht hatte damit über die Kunstfreiheit gesiegt.

Sound einer schmerzvollen Liebesgeschichte

Die Hamburger Theatermacherin Angela Richter gibt nun ihren theatralischen Senf dazu – klug und sehr vergnüglich. Mit einer starken Schauspielertruppe und mit feinem Humor. Mit dem eindrucksvollen Glühbirnen-Bühnenbild von Katrin Brack und mit Wagners packender Musik: die Glühlampen, aufgehängt wie ein Labyrinth, stehen für eine Mischung aus Verirrung und Blendung. Die Musik ist der Soundtrack für eine der ältesten und schmerzvollsten Liebesgeschichten der Menschheit.

Eine Liebesgeschichte erzählt auch Maxim Biller in seinem verbotenen Roman – die zwischen einem jüdischen Schriftsteller und einer türkischen Schauspielerin, zwischen Adam, dem Alter-Ego Maxim Billers, und Esra, dem Alter-Ego der Klägerin. Eine Liebesgeschichte, die der Autor auch in detaillierten Sex-Szenen beschreibt. Die vor allem waren wohl der Grund, warum die Richter des Bundesverfassungsgerichts letztlich den Schutz der Persönlichkeit über den der Kunst stellten – mit einem Urteil, das wurde im Stück angemerkt, das nicht einstimmig getroffen wurde.

Welchen Gewinn bringt Wahrheit?

Eine heikle Angelegenheit, das alles. Deshalb ließ sich Angela Richter auch während des Probenprozesses juristisch beraten. Und baut das gleich zu einer Szene aus: Sechs Schauspieler stehen in Front zu den Zuschauern, drei davon in Richterroben (Kostüme: Britta Leonhardt). "Ist Esra da?", fragen sie ins Publikum. "Darauf käme nämlich an, was wir hier machen dürfen – heute Abend." Die Schauspieler zischen "pst!" und flüstern weiter. Das Publikum kichert, steht gerade voll hinter der Kunst und kaum hinter der Menschenwürde.

Angela Richter treibt das Spiel weiter, parodiert eine Art geheime Mission, in der Yuri Englert triumphierend eine Ausgabe des Romans hochhält. Angeblich wurde sie auf Ebay für ganz viel Geld ersteigert. Verschwörerisch werden scheinbar Passagen aus diesem verbotenen Buch vorgelesen. Doch offiziell sind die "Esra"-Texte nur "persönliche Rekonstruktionen der Schauspieler aus ihren Erinnerungen an das Original".

Was ist wahr, was Fiktion? Angela Richter spielt ergötzlich mit dieser Frage. Eine scheinbar zitierte Sex-Szene treibt sie derart auf die Spitze, dass die ins Absurde kippt. Die Akteure geilen sich stöhnend an den Schilderungen auf, ähnlich wie Zuschauer und Leser nach Enthüllungen in Kunstwerken gieren. Nach dem Motto "jetzt rede ich" packt Schauspieler Sebastian Blomberg aus. Erzählt wie er was mit der hatte, die vorher etwas mit dem hatte, der wiederum mit der rummacht. Er wirft nur so mit Promi-Namen um sich. Eine Falle. Wir tappen prompt hinein, wenn wir uns fragen, ob das wahr ist. Klar, ist es wahr – Google hat‘s bestätigt. Und was haben wir davon? Nichts.

Literatur als Klatsch und Tratsch

Für die Kunst an sich spielt es keine Rolle, ob das, was gezeigt wird, wahr ist oder nicht. Ein Bild ist ein Bild, ein Roman ist ein Roman, Theater ist Theater. Und wenn sich sechs Schauspieler hinstellen und Minuten damit zubringen, "echt" zu weinen – es bleibt doch Theater. Auch Oana Solomon, die munter aus ihrem frischen Liebesleben mit einem Kritiker erzählt, der ganz echt und wirklich im Publikum sitzt, spielt Theater. Und auch Dietrich Kuhlbrodt, Schauspieler und Oberstaatsanwalt a.D., macht Kunst, wenn er in die Robe eines Richters schlüpft und das Urteil begründet.

Die echten Richter befanden sich in einer Zwickmühle. Zwei Grundrechte standen gegeneinander: die Würde des Menschen und die Freiheit der Kunst. In der Wirklichkeit wurde dieses Dilemma durch ein Gerichtsurteil gelöst. Doch damit ist die Sache für Angela Richter nicht erledigt. Sie zeigt mit den Mitteln des Theaters, was dieses Urteil für die Kunst bedeutet: Wenn das im Roman Beschriebene als Wirklichkeit anerkannt wird, ist die Literatur in diesem Fall nichts weiter als Klatsch und Tratsch. Mit dieser Erkenntnis ist das Thema zwar noch nicht erschöpfend behandelt. Doch Angela Richter ist mit ihrem "Rezeptionsdrama" ein pointierter Kommentar gelungen – zu einem Roman und seinen Folgen.

 

Der Fall Esra (UA)
Regie & Konzept: Angela Richter, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Britta Leonhardt.
Mit: Sebastian Blomberg, Yuri Englert, Melanie Kretschmann, Dietrich Kuhlbrodt, Oana Solomon, Christoph Theußl.

www.kampnagel.de

 

Mehr zu Angela Richter? Wir berichteten über Die Schönen und Verdammten 3: Der Kirschgarten, eine Tschechow-Bearbeitung, die Richter im Dezember 2007 auf Kampnagel inszeniert hat.

 

Kritikenrundschau

Fallhöhe und Reibungsfläche vermisst Maximilian Probst in der Berliner tageszeitung (4.4.) an Angela Richters Theateraufbereitung des Falles um Maxim Billers verbotenen Roman. Aus seiner Sicht fehlt dem Stück über die Freiheit der Kunst von Anfang an die Gegenseite, werde mit Fragen von Kunstfreiheit und der schwierigen Grenze zwischen Kunst und Leben ein bisschen zu polemisch umgegangen. Probst fehlt "was Biller vielleicht eine Schlappschwanzüberlegung nennen würde, die Frage, ob nicht die Kunst eine Mitverantwortung dafür trägt, dass ein altes, in seinem Wert noch schwer abschätzbares Kulturgut im Schwinden begriffen ist: das Taktgefühl." Zum Ende werde ein Brief von Biller verlesen, an Esra. Irgendwann werde sie verstehen, dass er sein Buch für sie, ihr zur Liebe geschrieben habe. "Aber nirgends die Frage, ob Biller ihr zuliebe nicht ein Quäntchen mehr Fantasie hätte aufbringen können. Weil das Stück diese Frage nicht stellt, gleitet es ab in Redundanz."


Nach Ansicht von Lothar Müller von der Süddeutschen Zeitung (4.4.) ist es Angela Richter nicht gelungen, eine überzeugende Form für ihre "unschlüssige" Textcollage zu finden, die ihm die Bühne als einen Ort höhere Gerichtsbarkeit plausibel gemacht hätte. Denn es gehe in ihrem Projekt um "kaum mehr ein als eine vage Grundsympathie mit dem verbotenen Buch (und seinem Autor)". Nicht mal mit echter Kenntnis der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichtes warte der Abend auf, wenngleich hier mit Dietrich Kuhlbrodt sogar ein echter Jurist auf der Bühne stehe. Interessant für das Theater wäre der Fall Esra für Müller geworden, "wenn es auf die Solidaritätsadressen mit dem verbotenen Autor verzichtet" hätte und auf seine Weise die Lebensinteressen zweier Ex-Liebender und die Welt der Kunst hätte aufeinanderprallen lassen. Doch dies sei nicht geschehen. Auch überforderte Darsteller tragen das Ihre zum schlechten Eindruck des Kritikers bei.


Eher enttäuscht zeigt sich auch Katrin Ullmann im Berliner Tagesspiegel (4.4.) Zwar nähert sich Angela Richter dem Fall "unterhaltsam-ironisch" und schafft so "einen Theaterabend voller Anspielungen, Schweigeminuten und Verweise." Immer wieder lasse sie die Darsteller Privates erzählen, ob vom Tod der Mutter, vom persönlichen Frust oder von der frischen Liebe. "Doch leider bleibt Richters szenische Kritik am Urteil der Richter ein sanfter, fast privater Protest. Fern von Wut, Provokation oder Angriffslust."


Von einem unterhaltsamen Protestabend dagegen spricht Hendrik Werner in der Tageszeitung Die Welt (4.4.). Besonders Sebastian Blomberg, "der mit Intellektuellenbrille und Einstecktuch eine Dichter-Karikatur gibt", wird für zwei furiose Soli sehr gelobt: "Er nimmt den im Verlauf der Biller-Causa unsäglich angeschwollenen Boulevard- und Branchen-Tratsch über die Identität der Romanfigur Esra auf, indem er ihn mit dem Gerede der Anderen über seine - gleichfalls gescheiterte - Beziehung zu der Schauspielerin Maria Schrader verquirlt." Auf diesem Umweg über die Darsteller formuliere die Regie ihre These: dass nicht etwa die Kunst bigott sei, sondern das auf Skandale abonnierte Publikum. Aber auch insgesamt attestiert Werner "eine fraglos ansprechende Teamleistung des Ensembles".


Richter mache hier "kein Dokumentartheater" und stelle auch nicht bloß die verschiedenen Redeweisen (der Literatur, der Jurisprudenz, der Germanistik, des Feuilleton) im Prozessverlauf aus, schreibt Julia Encke in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (5.4.). Vielmehr würden diese "von Beginn an ironisiert, überdreht". Genau trete man gegen bestimmte Rezeptionsmechanismen an, "gegen die voyeuristische Enthüllungssucht, mit dem die Öffentlichkeit einem Kunstwerk begegnet". "Je eifriger die öffentlichen Enthüllungsorgane (...), desto mehr schutzsuchende Klagen" und desto rigideres Persönlichkeitsrecht, meint Encke. So gehe es hier "um nicht weniger als um die Rettung der Kunst vor der planierraupenhaften Plattmachungskraft des Gossips". Erst durch eine "völlig überraschende", "in ihrer Konsequenz beeindruckende Wende" gewinne die Szenenfolge jedoch "ihre eigentliche Dynamik": so packten die Schauspieler auf der Bühne selbst aus, bedienten das Publikum mit dem, "was es aus ihrem vermeintlich realen Schauspielerleben bestimmt doch schon immer wissen wollte".

 

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