Die Krebsmafia - Lichthof Theater Hamburg
Gesungenes Antikorruptionsgesetz
20. Mai 2022. Ärzt:innen lassen sich für Rezepte schmieren, Apotheker:innen strecken Medikamente: Helge Schmidt hat mit "Die Krebsmafia" am Hamburger Lichthof Theater einen neuen investigativen Rechercheabend inszeniert, minimalistischer noch als zuvor. Und dennoch zutiefst schockierend.
Von Falk Schreiber
20. Mai 2022. Man sitzt im Wartezimmer. Einfache, leidlich bequeme Stühle sind Rücken an Rücken aufgestellt, es gibt einen Wasserspender, es gibt Lesezirkel, es gibt ein paar traurige Zimmerpflanzen. Und es gibt die Protagonist:innen eines bösen Spiels: eine Ärztin (Laura Uhlig), einen Apotheker (Günter Schaupp), einen Pharmavertreter (Jonas Anders). Und sonst? "Wer spielt den Patienten?", fragt Anders, "Also, ich nicht!", antwortet Uhlig. Der Patient ist nicht wichtig in diesem Spiel.
Wasserdichte Recherche
Der Regisseur Helge Schmidt hat schon mehrere dokumentarische Stücke am Hamburger Off-Theater Lichthof entwickelt, immer auf der Basis investigativjournalistischer Recherchen, immer über Themen, die so groß, so monströs daherkommen, dass man sie eigentlich gar nicht glauben kann. Aber ob Schmidt jetzt illegale Bankgeschäfte behandelt, oder die Verstrickungen der Hamburger Politik in Finanzverbrechen (Tax for free, 2021) – immer sind die (auf den Recherchen von Investigativjournalist:innen wie Oliver Schröm beruhenden) Arbeiten unangreifbar, die Fakten wasserdicht nachgezeichnet.
Fluss der Schmiergelder
In "Die Krebsmafia" geht es um Geschäftemachereien mit Krebsmedikamenten, die Schröm und Niklas Schenk vor einigen Jahren aufgedeckt hatten: Die Zubereitung von Zytostatika, die bei Chemotherapien eingesetzt werden, ist ein einträgliches Geschäft, das in der Bundesrepublik rund 200 Apotheken betreiben. Um tätig zu werden, benötigen diese Apotheken Rezepte, die von Ärzt:innen ausgestellt werden, schon hier fließen häufig Schmiergelder. Was Schröm und Schenk damals erkannten, war, dass dieser halblegale Finanzkreislauf immer häufiger gestört ist, weil über komplizierte Strohmannarrangements Apotheke und Arztpraxis in denselben Händen liegen: indem sogenannte Medizinische Versorgungszentren (MVZs) gegründet werden, in denen voneinander abhängige Ärzt:innen und Apotheker:innen sich gegenseitig die Aufträge zuspielen.
Ja, und? Das mag nicht legal sein, aber die Patient:innen bekommen am Ende eine ordentliche Behandlung, oder? Die Inszenierung greift ein paar Fälle heraus, in denen das eben nicht passiert: einen Patienten mit (zu Beginn durchaus operablem) Speiseröhrenkrebs, dem gesagt wurde, dass eine Operation nicht möglich sei, sein Leiden aber durch eine (teure) Chemotherapie gelindert werden könne. Was zwar die Taschen der Beteiligten füllte, am Ende aber dafür sorgte, dass der Krebs sich weiter ausbreitete, bis eine Operation tatsächlich keine Option mehr war. Ein anderer Fall machte 2016 Schlagzeilen: Ein Apotheker hatte im großen Stil Zytostatika falsch deklariert und gepanscht, zur Gewinnmaximierung, ohne an die möglichen Folgen für Patient:innen zu denken. Und schließlich betont der ehemalige Apotheker Franz Stadler von der Stiftung Arzneimittelsicherheit in einer Videoeinspielung die enormen Kosten, die durch diesen Betrug den Krankenkassen entstehen: "Man entnimmt diese Gelder dem Solidarsystem!" Wer einmal mit Kassen über Zahlungen gestritten hat, glaubt nicht mehr, dass diese grenzenlose Mittel hätten.
Mann am Piano
Das Beschriebene ist schockierend, tatsächlich szenische Bilder entwickelt Schmidt aber nicht. Mal werden kurze Passagen gespielt, mal singt Frieder Hepting ein Antikorruptionsgesetz als traurigen Mann-am-Piano-Chanson, die Bühne von TÒ SU (Martina Mahlknecht, Martin Prinoth) hat einen künstlerischen Wert, aber im Grunde bleibt die Ästhetik wenig theatral. "Die Krebsmafia" ist dabei sogar noch spröder, noch zurückhaltender inszeniert als Schmidts frühere Lichthof-Arbeiten, und es ist bemerkenswert, dass der Abend am Ende dennoch als Theater funktioniert. Weil die investigative Basis des Stücks stark ist. Weil in dem szenischen Minimalismus eine Kraft steckt, auf die die Inszenierung bauen kann. Und nicht zuletzt, weil Schmidt der Recherche noch einen entscheidenden Aspekt hinzufügt, der "Die Krebsmafia" einen Schritt über die die journalistische Aufarbeitung hinaus gehen lässt.
Schröm und Schenk beschreiben ein Verbrechen: schockierend, gnadenlos, aber, naja: Verbrechen passieren, so ist der Mensch. Schmidt aber fragt, was das für ein System ist, in dem solche Verbrechen überhaupt Gewinn versprechen: ein System, das Gesundheit als Ware begreift, die kapitalistisch gehandelt werden kann. Ganz kurz geht die Inszenierung zurück in die Vergangenheit, erwähnt die HIV-Epidemie in Afrika, und wie sich die Pharmahersteller geweigert hätten, Patente freizugeben, was bis heute den Tod unzähliger Kranker in ärmeren Ländern verursacht. Und dann führt diese spröde, minimalistische, starke Theaterarbeit wieder an den Anfang: zur Erkenntnis, dass der Patient einfach nicht wichtig ist.
Die Krebsmafia
von Helge Schmidt und Team
Uraufführung
Regie: Helge Schmidt, Ausstattung und Video: TÒ SU (Martina Mahlknecht, Martin Prinoth), Künstlerische Mitarbeit Ausstattung, Video: Mona Rizaj, Musik: Frieder Hepting, Lichtdesign: Sönke C. Herm, Dramaturgie: Franziska Bulban.
Mit: Jonas Anders, Günter Schaupp, Laura Uhlig.
Premiere am 19. Mai 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.lichthof-theater.de
Kritikenrundschau
"Die präsentierten Fakten sind gewaltig. Die Relevanz ist für jedermann eindeutig", berichtet Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (23.5.2022). Man bleibe "atemlos dran an diesem Recherche-Stück"; während Details des Pharmaskandals "mit beißender Ironie vor Augen" geführt würden. "Der Abend basiert auf scheinbar leichtfüßig vermittelter, gleichwohl schwerwiegender Information"; das "Spiel huldigt dabei einem Minimalismus, der sich auf Sprache, Begegnung und Projektionen auf einen langen Praxis-Vorhang konzentriert".
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