Alles Verbrecher!?

von Falk Schreiber

Hamburg, 3. Juni 2021. Passgenauer kann man eine Premiere nicht ansetzen. "Jetzt zittern die Gier-Banker" titelt die eher links ausgerichtete Boulevardzeitung Hamburger Morgenpost am Donnerstagmorgen, und am Donnerstagabend kommen ebenjene zitternden "Gier-Banker" im Hamburger Off-Theater Lichthof auf die Bühne. Beziehungsweise: Auf die Bühne kommen in Helge Schmidts "Tax for free – Scholz und Tschentscher geben einen aus, und Michael Kohlhaas wundert sich" die, die sich fragen, was die Gier der Banker für unsere Gesellschaft bedeutet. Der Volkswirt Gerhard Schick etwa, Mitinitiator des Vereins Bürgerbewegung Finanzwende, glaubt, dass der Cum-Ex-Skandal am Grundvertrauen in die Demokratie nage.

Handfester Politik-Skandal

Regisseur Schmidt landete 2018 mit seinem Stück Cum-Ex Papers am Lichthof Theater einen Hit: eine journalistisch genaue Recherche zu den Cum-Ex-Machenschaften unter anderem der Hamburger Privatbank M.M. Warburg, die grob vereinfacht darin bestanden, dass die Bank Steuerrückerstattungen einforderte, wobei die diesen zugrundeliegenden Steuern freilich nie gezahlt worden waren. "Tax for free" ist mehr oder weniger die Fortsetzung zu diesem unter anderem mit dem Theaterpreis Der Faust ausgezeichneten Stück, und führt aus der schwer durchschaubaren Finanzwirtschaft in die Sphäre der Politik.

Tax for free 5 560 AnjaBeutler uDie Protagonisten des Skandals Olaf Scholz und Peter Tschentscher © Anja Beutler

Es war nämlich so, dass die Warburg Bank weiter Cum-Ex-Geschäfte praktizierte, obwohl die Fachwelt längst deren Illegalität ahnte. Das Hamburger Finanzamt forderte die Bank auf, die fälschlich gezahlten Beträge zurückzuzahlen – worauf der Warburg-Aufsichtsrat Christian Olearius sich mehrfach mit Olaf Scholz (damals Erster Bürgermeister in Hamburg, heute Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat) und Peter Tschentscher (damals Finanzsenator, heute Erster Bürgermeister in Hamburg, ebenfalls SPD) traf. Von diesen Treffen Treffen drang nichts nach außen. Was man weiß: Das Finanzamt verzichtete in der Folge auf seine Forderungen an die Bank.

Tanz, Maskenspiel und Finanz-Experten

Das ist weniger ein Finanzkrimi als ein handfester politischer Skandal, weswegen Schmidt nicht so viel erklären muss wie bei "Cum-Ex Papers". Man versteht auch ohne Wirtschaftsdiplom, was da passiert sein dürfte, und man ist zurecht empört. Fürs Theater heißt das, dass der wirtschaftsdidaktische Anteil des Abends zurückgefahren wird zu Gunsten vielstimmiger Bühnenkunst – hier Maskenspiel, dort Tanz, manchmal Schattentheater, leider auch ein paar ableistisch lesbare Karikaturen. Und wenn doch etwas erklärt werden muss, werden vier Experten (neben Schick die Journalisten Oliver Schröm und Oliver Hollenstein sowie der Linke-Politiker Fabio De Masi) per Video eingeblendet. Sehr unterhaltsam ist das, szenisch einfallsreich, elegant gelöst. Und manchmal auch die allzu wohlfeile Bestätigung der eigenen Haltung gegenüber der Politik: alles Verbrecher!

Tax for free 2 560 AnjaBeutler uHier wird ordentlich Kohle ausgeschüttet. © Anja Beutler

Ein Kohlhaas-Szenario

Aber so einfach macht es einem Schmidt am Ende dann doch nicht. Der Regisseur ist nämlich gar nicht ausschließlich der Spezialist fürs Dokumentarische, den man von "Cum-Ex Papers" oder der Schweriner Plattenbau-Studie "Wildes Land – Der große Dreesch" zu kennen glaubt, er ist auch ein ordentlicher Schauspielregisseur, der nicht zuletzt den Kanon zu bedienen weiß. Das tut er hier, indem er in seinen Spott über das Politikgemauschel verhältnismäßig traditionell (heißt: mit pop-induziertem Regietheatergestus) inszenierte Passagen aus Kleists "Michael Kohlhaas" einflicht. Günter Schaupps Kohlhaas ist ein Wohlmeinender, dem übel mitgespielt wird, und der sich sein Recht mit zugegebenermaßen problematischen Mitteln zurückholen will.

Aber "Tax for free" weiß, dass es vom Kampf für Gerechtigkeit nicht weit ist zum Rechthaberischen (und wenn man sich an Antú Romero Nunes' Kohlhaas-Inszenierung 2018 am Thalia Theater erinnert, dann weiß man auch, dass das Rechthaberische schnell nach ganz rechts ausscheren kann). Das ist die große Qualität von "Tax for free": Die Inszenierung gesteht einem die eigene Wut über die Verhältnisse zu. Und sie sagt trotzdem: Vorsicht! Diese begründete Wut ist gefährlich!

Tax for free – Scholz und Tschentscher geben einen aus, und Michael Kohlhaas wundert sich
von Helge Schmidt und Team
Regie und Fassung: Helge Schmidt, Ausstattung: Atelier Lanika (Anika Marquardt und Lani Tran-Duc), Video: Jonas Link, Musik: Frieder Hepting, Körperarbeit: Jonas Woltemate, Lichtdesign: Sönke C. Herm, Produktionsleitung: Zwei Eulen (Kaja Jakstadt), Assistenz und künstlerische Mitarbeit: Judith Weßbecher.
Von und mit: Jonas Anders, Ruth Marie Kröger, Günter Schaupp und Laura Uhlig, Expert:innen: Oliver Schröm (Investigativ-Journalist, ARD Panorama), Oliver Hollenstein (Leitender Redakteur Manager Magazin), Fabio De Masi (stellv. Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag, finanzpolitischer Sprecher, Leiter des Arbeitskreises Wirtschaft- und Finanzen, Obmann des Wirecard-Untersuchungsausschusses), Dr. Gerhard Schick (Vorstand der Bürgerbewegung Finanzwende).
Uraufführung am 3. Juni 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.lichthof-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Auf der einen Seite ist das ein dichter, dokumentarischer Theaterabend, der mit Kenntnis, Humor und Zynismus einen skandalösen Betrugsfall erzählt. Auf der anderen Seite die in Kleists komplexer Sprache und mit ironischen Mitteln erzählte Geschichte eines Bürgers, der aus Verzweiflung Selbstjustiz übt", schreibt Katrin Ullmann in der taz (4.6.2021). "Die verblüffende Leichtigkeit, die Schmidts großartige und kluge Vorgänger-Inszenierung 'Cum-Ex Papers' im Jahr 2018, die mit dem Theaterpreis Faust ausgezeichnet wurde, kennzeichnete, entsteht an diesem Abend leider nicht."

Kommentare  
Tax for Free, Hamburg: verzettelt sich
Die kabarettistisch aufbereitete und mit kurzen Dialoggefechten aufgelockerte Chronologie eines Skandals wird noch mit Talking heads-Einspielern der oben genannten Experten aus Politik und Medien angereichert. Das würde für einen Dokumentartheater-Abend, den man mit Gewinn sieht, auch völlig ausreichen.

Doch der Abend verzettelt sich beim zweiten Erzählstrang, der im Untertitel „Scholz und Tschentscher geben einen aus und Michael Kohlhaas wundert sich“ angelegt ist. Regelmäßig werden kurze Passagen aus dermKleist-Novelle über Kohlhaas, der sich in seinem Widerstand gegen staatliches Unrecht komplett verrannte, in die Dokutheater-Handlung eingebaut. Dies sind jedoch die schwächeren Szenen des Abends. Oft zu albern und in betont lächerlichen Kostümen wird der Kleist-Strang nachgespielt. Die Entscheidung, ausgerechnet den Kohlhaas-Klassiker in das aktuelle Dokumentar-Theater einzubauen, wirkt nicht schlüssig.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/06/03/tax-for-free-lichthoftheater-hamburg-kritik/
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