Es war der Spatz und nicht die Taube

von Katrin Ullmann

Hamburg, 14. August 2008. "Sommer! In diesem Sommer auch in Hamburg". Das versprechen grellpinkfarbene Plakate in U-Bahnhöfen und am Straßenrand und meinen damit das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel. Matthias von Hartz hat die künstlerische Leitung inne und internationale Künstler aus Tanz, Musik, Theater eingeladen. Drei Wochen lang will von Hartz "Kunst der Weltklasse" präsentieren.

Und er will auch, so gesteht er in seiner Eröffnungsrede, dass man "endlich wieder am Kanal knutschen kann". Also leitet er die Zuschauer in Richtung Osterbekkanal, über weiche, mit Sägespänen gepolsterte Wege, vorbei an kunstschneeverschneiten Bäumen durch den Hintereingang in die Theaterfabrikhallen. Riesige Transparente flattern von den alten Lastenkränen, gut gelaunte Menschenmengen drängeln sich zur Bar, im Gewusel geht schon mal die Ehefrau verloren, wird die Verabredung mit dem Handy angefunkt. Das Setting ist perfekt, ist Festival und gute Laune – freundlicher Sommerabend inklusive.

Shakespeare am Telefon

Eröffnet wird das Festival mit den Arbeiten "Uprising" und "In Your Rooms" des israelischen Choreografen Hofesh Shechter zum einen und der Uraufführung von "Romeo and Juliet" des Nature Theater of Oklahoma aus New York zum anderen. Das Nature Theater of Oklahoma ist zwar – laut Programmankündigung – "das neue heiße Ding aus New York". Und wirklich: die Idee, Shakespeares Klassiker anhand einer Reihe von Telefongesprächen nacherzählen zu lassen, klingt reizvoll.

Im Vorfeld hatten Pavol Liska und Kelly Copper, die Leiter der Theatergruppe, um die 30 Freunde, Bekannte und Verwandte angerufen und sie gebeten, ihnen den Plot von Romeo und Julia zu erzählen. Welcher der Befragten kannte das Drama tatsächlich? Was hatte sich eingeprägt? Was wurde mit eigenen Erfahrungen und Erlebnissen verknüpft? Was wurde Teil des kulturellen Gedächtnisses? Herausgekommen sind verkürzte, verdrehte und amüsante Zusammenfassungen. Mit neuen Figuren, anderen Handlungen und bizarren Verwicklungen.

Gesprächsprotokolle mit großer Geste

Trinkt Romeo einen Zaubertrank? Oder stirbt er im Duell? Haben Romeo und Julia eigentlich Sex? Und welche Rolle spielt noch mal Mercutio? Viele offene Fragen wechseln sich in den Erzählungen ab mit fragmentarischen Erinnerungen an eine leidenschaftliche Liebe, Straßenkämpfe, ein großes Missverständnis und eine bittere Familienfehde. Dabei fehlen weder Schwärmereien für Leonardo DiCaprio, Verweise auf die West Side Story noch tapfer zitierte Verse wie: "Das ist der Spatz, nein, es ist die Taube".

Anne Gridley und Robert M. Johanson tragen die Gesprächsprotokolle abwechselnd vor. Dafür betreten sie – in altmodischen Kostümen – ein kleines Holzpodest, dessen Rückwand mit einem klassischen Theatervorhang bemalt ist. Mit großer Geste und überdeutlicher Betonung geben sie die liebenswerten Shakespeare-Versionen wieder. Sie mimen übertriebenen Stolz über ihre Kenntnis, sind ergriffen von der Dramatik des Stoffes und erleichtert, wenn sie Bruchstück für Bruchstück der Geschichte aneinanderpuzzeln. Das ist eine Weile lang ganz amüsant und unterhaltsam. Doch spätestens nach der fünften und doch irgendwie immer ähnlichen Romeo-und-Julia-Version hat sich die Idee leer gelaufen.

Teenager-Sex mit Huhn

Dann tritt auch noch Elisabeth Conner als sinnfreies Huhn im Ganzkörperkostüm auf, tanzt einen musiklosen Tanz, um anschließend wieder kopfüber im Soufflierkasten abzutauchen. Später am Abend sprechen Anne Gridley und Robert M. Johanson noch ein bisschen über Teenager-Sex, die Liebe zu sich selbst und die Bedürftigkeit des Schauspielers nach dem Publikum. Richtig philosophisch ist das nicht, eher hilflos und allzu selbsterklärend. Lustlos versuchen die beiden anschließend, eine mit Shakespeare konkurrierende Liebesszene zu kreieren, bis Johanson schließlich bekennt, "Romeo und Julia" überhaupt nicht gelesen zu haben. Und doch sprechen sie im allerletzten Dunkel die berühmte Balkonszene, spielen ein bisschen Liebe mit Poesie.

Das Nature Theater of Oklahoma wollte viel und zeigte schrecklich wenig. Der interessanten Grundidee fehlte eine spielerische, virtuose oder ironische Umsetzung. "Kunst der Weltklasse" war das nicht, eher eine verpasste Gelegenheit, israelisches Tanztheater zu gucken oder ausgiebig am Osterbekkanal zu knutschen.

 

Romeo and Juliet
vom Nature Theater of Oklahoma
Konzept und Regie: Pavol Liska, Kelly Copper, Design: Peter Nigrini.
Mit: Anne Gridley, Robert M. Johanson, Elisabeth Conner.
Eine Produktion des Internationalen Sommerfestivals Kampnagel Hamburg und der Salzburger Festspiele in Koproduktion mit kaaitheater Brüssel/Workspace Brüssel/Buda Kunstcentrum.

www.kampnagel.de/sommerfestival
www.oktheater.org

 

 

Kritikenrundschau

Peter Michalzik hat für die Frankfurter Rundschau (18.8.) Pavol Liska und Kelly Copper vom Nature Theater of Oklahoma getroffen, er hat sich "Romeo and Juliet" angeschaut, und er ist dabei der Avantgarde begegnet: "Theater aus Bausteinen, die für sich genommen schrill sind, nicht zusammenpassen und doch etwas ergeben." Befremdlich seien die Bewegungen ("Im Fall 'Romeo and Juliet' sind die nach oben gerichteten Blicke, das keck nach vorne gestellte Spielbein, und die ausholenden Armgesten eindeutig shakespearean – im Rhetorik-Stil des 19. Jahrhunderts"), schrill die Sprachbehandlung ("Der Akzent ist selbst für kontinentaleuropäische Ohren absurd überdeutlich ... Der Sprachduktus ist extrem dokumentarisch, die Emphase übersteigt die aller Schmachtfetzendarsteller und die etwas abgestandene Ironie, die sich hineinmischt, könnte direkt aus einer Nachmittags-Soap kommen.") Dieses Theater sei laut Michalzik "die beste Antwort auf die immerwährende Theaterfrage des guten alten Avantgardismus: Wie betrete ich eine Bühne, ohne sofort in eines der feststehenden Muster oder Raster zu fallen? Es amalgamiert die Jahrmarktsbude, Commercials, Shakespearean Style, Konzept-Kunst. Es ist extrem naturalistisch und genauso künstlich, es ahmt Tonfälle nach und ist gleichzeitig grotesk überzogen, es ist unterhaltsam und intelligent. Und vor allem ist es sehr amerikanisch."

 

Kommentare  
Romeo und Juliet: kein heißes Ding
Naja, also das neue heiße Ding war das nun wirklich nicht. Im Gegenteil: Ich war erstaunt ob der enormen Naivität dieser Inszenierung. Sätze wie (sinngemäß) "Romeo und Julia ist so ein tolles Stück. Wir wollen hier und heute einfach herausfinden, welche Bedeutung es noch für uns hat" möchte ich einfach nicht hören. Quasi-privates Rumgequatsche und ärgerlich. Drum: Nächstes mal bitte etwas heißer, liebes Nature Theatre.
Romeo & Juliet: plump, langweilig, anbiedernd
Viel Lärm um Nichts! Teilt die Nature Theatre Begeisterung denn überhaupt jemand jenseits der Veranstalter? Habe lange nicht mehr solch einen plumpen, langweiligen und anbiedernden Abend gesehen. Der "letzte Schrei", "das absolute Highlight", ja: "die" Entdeckung sieht m. E. wirklich anders aus!
Romeo and Juliet, Foreign Affairs: ersnthaft, intensiv
Der Abend hat 2 Stärken: Die eine liegt in den Nacherzählungen selbst. Auf dieser Ebene ist der Abend eine gelungene Studie in der Rezeption von Kunst, den Mechanismen, wie ihre Wirkung abhängig ist von den eigenen Prioritäten und Lebenswirklichkeiten, aber auch in der Kraft des Erzählerischen, das mit dem letzten Vorhang nicht endet, in dem auch ein Stoff wie der von Romeo und Julia vor allem Stoff ist fürs Weiterspinnen, für die Selbstvergewisserung über das Sich-Mitteilen. Die zweite Ebene ist die des Darstellens.Die Differenz zwischen Form und Inhalt geben dem Gesagten eine starke Artifizialität und verstärken zugleich seine Authentizität, lenken den Blick auf die Pausen, den Denk- und Umdenk- und Erinnerungs- und Erfindungsprozess, der hier am Werk ist, auf die Art und Weise, wie wir uns ausdrücken, wie Gedanken und Erzählungen beim Sprechen entstehen, wie wir auf Lücken reagieren und versuchen sie zu füllen. Hier entsteht eine Art V-Effekt, führt eine bestimmte Art des Sprechens und Darstellung zu einer Distanz, die den Blick freilegt. Die Schwäche des Abends liegt darin, dass er sich nicht auf diese seine Stärken verlässt. Da tritt eine Darstellerin im Hühnerkostüm auf und zeigt eine Art Zeitlupentanz, da ufert es am Ende in einen küchenphilosophischen Dialog über Sex, die Sehnsucht, geliebt zu werden, Eigenliebe und die Rolle des Schauspielers aus, der vor allem ermüdend ist. Stark dann noch mal der Schluss. Nachdem Gridley und Johanson vergeblich eine alternative Liebeszene versucht und bereits den Applaus entgegen genommen haben, geht das Licht aus und beide sprechen im Dunkeln den Dialog der Balkonszene. Ernsthaft, intensiv, unprätentiös. Und plötzlich sind sie da die Kraft des Theaters und die Antwort auf die Frage, was uns das eigentlich alles angeht.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/06/30/es-war-der-spatz-und-nicht-die-taube
Romeo and Juliet, Foreign Affairs: Abwesendes
liebe frau ullmann,
dass das nto erschreckend wenig zeigt könnte ja fast absicht sein. es könnte ja vielleicht darum gegangen sein etwas abwesendes erfahrbar zu machen. vielleicht war das publikum der hauptdarsteller? vielleicht waren sie nur leider nicht in form - so wie ihre kritik.
Romeo and Juliet, Foreign Affairs: großer Applaus
Zum Schluss deklamiert das NTO dann die Balkonszene im "Original" im abgedunkelten Raum - das klingt wie in der schlimmsten deutschen Stadttheaterinszenierung. Großer Applaus für die Avantgarde aus NY!
Romeo and Juliet, Foreign Affairs: präzise Kritik
An der recht präzisen Kritik von Frau Ullmann von 2008 kann man sehen, dass ab dann der Hype um das Nature Theater so vorangetrieben wurde, dass selbst diese wirklich mittelmäßige Performance inzwischen als Avantgarde gilt. Warum es angeblich fortschrittlich ist, Schauspielern Text über Kopfhörer einzugeben, um einen "Live-Moment" zu erzeugen, wenn dann nach fünf Jahren dieselben Schauspieler immer noch so tun müssen, als wäre es gerade neu, konnte man vor allem an der weiblichen Darstellerin (nicht der des Huhnes) bestens erkennen. Dass Berlin auf diese abgeschmackte Vorstellung von crazy New York reinfällt, verwundert doch. Danke dafür, dass man hier noch die neutralere, Vor-Hype-Meinung nachlesen kann! (Umso erfreulicher, als sonst viele Nachtkritiken den Hypes allzu sehr folgen.)
Romeo and Juliet, Berlin: lieber Neues erfinden
Warum eigentlich überhaupt bzw. was ist das - im weitesten Sinne - Politische an dieser Romeo & Julia-Performance, wenn Pavol Liska bekennt, dass er selbst das Stück noch nie gelesen habe? Warum beschäftigt sich diese Gruppe dann überhaupt mit diesem Stück? In Kafkas "Teater von Oklahama", dem Namensgeber dieser Truppe, stecken die wesentlichen Fragen doch bereits drin, wohingegen sie bei Romeo and Juliet vom O.K.-Theater vollkommen zu fehlen scheinen.

Bei Kafka geht es zum Beispiel um die Frage der Gleichheit bzw. Gleichwertigkeit aller Menschen, unabhängig von "legitimierenden Papieren" und Besitztümern, es geht ex negativo um die Frage der Ausschließung von Menschen anderer Hautfarbe aus der Gesellschaft (Karl Roßmann gibt sich den Rufnamen aus seinen letzten Stellungen: "Negro") usw.

Oder ist genau das das Abwesende, was in der weissen bürgerlichen Mittelschichts-Gesellschaft, welche sich immer wieder in der reinen Liebesgeschichte von Romeo und Julia spiegelt bzw. spiegeln will, gerade nicht zum Tragen kommt bzw. kommen soll?

"Sich anders zu erzählen, heißt immer auch anders zu leben" (Nina Tecklenburg). Na, dann erzählt euch mal schön weiter Geschichten über eure eigenen Leben. Ich glaube eher daran, dass man/frau für eine bessere Welt kämpfen muss. Also nicht das Eigene immer wieder anders zu erzählen, sondern Neues zu erfinden bzw. eine (fremde) Rolle zu spielen und darüber auch das Eigene in Frage zu stellen. Oder sich mit fremden Texten und Geschichten auseinanderzusetzen und darin zugleich das Eigene zu finden.
Romeo und Juliet, HH/Berlin: unberechtigt
@rumour - Pardon, aber sie haben ja von der Aufführung überhaupt nichts begriffen. Oder sie wahrscheinlich gar nicht gesehen. Deshalb dieser Post-Colonial Quatsch. Bei NTO geht es ausschließlich um die Erinnerung und Wiedergabe der Geschichte durch die Befragten Personen. Das alles in einer Sprache, die Dramatik möglichst vermeidet oder durch die Situation am Telefon ausgeschlossen wird. Ganz bestimmt geht es nicht, um die Liebesgeschichte von Romeo und Julia, sondern darum wie sie jemand erinnert und am Telefon erzählt. Was lässt er aus, was sind seine Schwerpunkte, erfindet er dazu, usw.! Die ganze Alltagssprache wird dann in den deklamatorischen, formalen Ton gehoben, und dadurch erfahrbar. Das funktioniert an diesem Abend nur bedingt, weil das Stück sich nicht entwickelt. Trotzdem ist ihre Kritik völlig unberechtigt.
Romeo & Juliet, HH/Berlin: nichts dahinter?
@ Ach ne: Ich wollte weniger auf "diesen Post-Colonial Quatsch" hinaus, sondern es ging mir vielmehr darum, dass wenn sich diese Gruppe schon nach Kafkas Oklahama-Teater benennt, sie dann auch eine genauere Kenntnis des Kafka-Romans "Der Verschollene" haben bzw. sich auch darauf beziehen sollte. Das ist es, was mir hier enorm auf den Geist (sic!) ging/geht: Bei Kafka geht es eben nicht um banale Alltagsfragen, wie zum Beispiel die, in welcher Form "Liebesgeschichten" wie Romeo & Julia nacherzählt werden. Vielmehr geht es um das Verschwinden eines emphatischen Ichs in der bürokratisierten Maschinerie von Gesetzen bzw. in einer hierarchisch organisierten Gesellschaftsstruktur. In diesem Sinne verweist "Negro" auf die soziale Stellung unterschiedlichster Menschengruppen in einer ehemals kolonialistisch geprägten Gesellschaft (Amerika). Aber mit solchen Fragen scheint sich das O.K.-Theater ja offenbar überhaupt nicht zu beschäftigen. Schöne Namensgebung, aber sonst nichts dahinter? Schade eigenlich.
Romeo & Juliet, HH/Berlin: vollkommen sinnfrei
@rumour

Entschuldigen sie vielmals, aber das ist kompletter Unsinn, was Sie schreiben. Erstens verpflichtet die Namensgebung ein Ensemble zu überhaupt nichts, es danach zu bewerten, ist vollkommen sinnfrei. 2. ist die Gruppe nicht nach dem Roman benannt, sondern nach dem im Roman vorkommenden Theater und darauf nimmt die Grupper sehr wohl Bezug und das auch von Beginn an und jetzt erst recht, z. B. durch die Umwidmung des HAU. Danke.
Romeo & Juliet, HH/Berlin: es fehlt gedankliche Tiefe
@ Sascha Krieger: Nein, ein Name verpflichtet tatsächlich zu nichts. Und es geht ja auch gar nicht um den Eigennamen, sondern vielmehr um ein gesellschaftspolitisches Programm. In meiner Wahrnehmung sollte es daher schon um eine doppelte Bewegung gehen: Wenn ich mich auf Vorgänger in der literarischen und/oder theatralen Welt beziehe - und meines Erachtens ist das wesentlich für das Theater im Prozess der Geschichte bis hin zur Gegenwart -, dann beziehe ich mich zurück auf den Entstehungskontext zu Kafkas Zeit und lese diesen zugleich im Hinblick auf Parallelen und Unterschiede zur Gegenwart. Ansonsten erscheint der Bezug des O.K.-Theaters auf das Theater in Kafkas Roman "Der Verschollene" leider nur als ein rein oberflächlicher. Entschuldigen Sie vielmals, aber manchmal fehlt mir im Peformancetheater einfach die gedankliche Tiefe. Oder könnten Sie mich bitte vom Gegenteil überzeugen? Ich lasse mich gern von einer guten Argumentation überzeugen. Danke.
Romeo & Juliet, HH/Berlin: Sinngebung und Bedeutung
@rumour Das was das NTO macht hat meiner Meinung nach sehr viel gedankliche Tiefe, weil sie die Frage nach dem wie wir erinnern, wie wir Identität performen - und zwar nicht als Performer sondern alltäglich durch die Übersteigerung von scheinbar Banalem erfahrbar machen. Soll heißen, was "sind" wir, das Publikum, mehr als die kunstvolle Zusammensetzung von Banalitäten - ein Thema, was wie ich finde sehr viel mit der unheimlichen Welt eines Kafka zu tun hat, und was angesichts dessen was szenisch vom NTO geboten wird sichtbar und erfahrbar wird. Der Fokus liegt speziell auch bei Life and Times in der Vorstellungs- und Assoziationswelt des Publikums. Wer sich durch die Vorstellung großer Gedanken oder Theorien vom aktuell ablaufenden Leben verabschiedet, kann hier wieder eingeholt werden durch die große Form des Ganzen, die den oder diejenigen mit der Alltäglichkeit/Banalität auf der Seite der Erscheinungen und der Exzeptionalität auf der Seite der Sinngebung und Bedeutung für jeden einzelnen lebenden Menschen konfrontiert und u.U. tief berührt. Das sehe ich in der Arbeit des NTO und das hat, zumindest für mich eine relevante gedankliche Tiefe.
Romeo & Juliet, HH/Berlin: im Hier und Jetzt verloren
@ rumour: Was genau meinen Sie mit "Wer sich durch die Vorstellung großer Gedanken oder Theorien vom aktuell ablaufenden Leben verabschiedet, kann hier wieder eingeholt werden"? Und was heisst "Exzeptionalität auf der Seite der Sinngebung und Bedeutung für jeden einzelnen lebenden Menschen"?

Was ich nachvollziehen kann, ist, dass es dem NTO offenbar vor allem um das Leben der Bürger aus der breiten Mittelschicht geht. Das heisst, hier geht es weder um den dumpfen Mob noch um die von der konkreten Alltagserfahrung abgehobene geistige Elite - Gruppen, welche beide häufig die Wirklichkeit an ein abstraktes Modell anpassen wollen. Damit ginge tatsächlich das Lebendige im Hier und Jetzt verloren. Trotzdem frage ich mich, ob wir im Theater nicht auch weiterhin den Raum hin auf die sogenannten "großen Fragen" öffnen sollten, sprich - und Kafka gemäß - sich gegen eine freiheitsfeindliche Politik zu wenden und für das Prinzip des Gemeinsamen einzustehen. Arbeit und Konsum allein integrieren nicht. Da braucht's meines Erachtens eben doch mehr zwischen Menschen. Und Sie meinen also, dass sich diese Sinngebung und Bedeutungserzeugung beim NTO quasi durch die Hintertür einstellt? Okay, d'accord. So gesehen, kann ich mitgehen.
Romeo & Juliet, HH/Berlin: Clash of theories
@rumour
es freut mich, dass Sie sich auf das, was ich versucht habe anzudeuten, einlassen können. Um Ihre Fragen zu beantworten, ich meine bei "der Vorstellung großer Gedanken..." dass die Möglichkeit der Erkenntnis im Detail von dem was wichtig und relevant ist für das Leben des Einzelnen wie es auch in der Literatur von Kafka oder Robert Walser zum Ausdruck kommt die Physis, die Sinnlichkeit des Einzelnen vermehrt zu Ihrem Recht gelangt; somit tragfähiger und menschlicher wirkt. Ähnlich versuche ich mit der "Exzeptionalität auf der Seite der Sinngebung" darauf zu verweisen, dass die Idee einer objektiven Wahrheit mittlerweile auch theoretisch mehr als brüchig geworden ist, und der Fokus bei den "sinnverarbeitenden Systemen" darauf abzielt sich selber zu etwas zu machen (etwas Großem, etwas Besonderen) etc. ohne dass das Indzienparadigma der klassischen Moderne dabei zustimmend nicken würde. Clash of theories, würd ich sagen. Was mich betrifft ist groß und wichtig, aber die Statistik macht eine intersubjektive Zahl aus mir - reinster Kafka für mich. Alles etwas schnell geschrieben, hoffe weiterhin auf Verständnis und muß arbeitsbedingt schließen.
Romeo & Juliet, HH/Berlin: abstrakte Logik
@ herrmann: Ihr Satzbau ist aber auch irgendwie kompliziert: "Um Ihre Fragen zu beantworten, ich meine bei 'der Vorstellung großer Gedanken...' dass die Möglichkeit der Erkenntnis im Detail von dem was wichtig und relevant ist für das Leben des Einzelnen wie es auch in der Literatur von Kafka oder Robert Walser zum Ausdruck kommt die Physis, die Sinnlichkeit des Einzelnen vermehrt zu Ihrem Recht gelangt".

Soweit ich Sie richtig verstanden habe, fokussieren Sie hier auf die Physis und die Sinnlichkeit. Das Zwischen-den-Menschen und also auch die nur zwischen Menschen herstellbare Wahrheit entsteht für mich aber vor allem über die Sprache und nicht, wenn wir alle miteinander schlafen. Oder worauf wollten Sie hinaus?

Klar, das rein rationalistische Denken führt oftmals in eine Art Perversion der Vernunft, in eine abstrakte Logik, mit welcher das Leben bzw. Lebendige nicht mehr mithalten kann. Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen Menschen, die wechselseitig respektiert werden sollten. Zuviel Stofftrieb gegenüber dem Formtrieb ist auch nicht immer nur lustig. Verstehen Sie, was ich meine?
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