The Greatest Show on Earth - Auf Kampnagel spielt man vor allem mit der Verweigerung. Ist das genug?
Alles aus Nichts
von Michael Laages
Hamburg, 11. August 2016. Aus der "Brauerei der Riesen" stammt der Bierkasten, auf dem "Gouyasse" steht. Er ist vor allem leer und eher leicht; und auch darum ist der Herkunftsort das Riesigste an ihm. Eine Artistin stemmt den gelben Kasten in die Höhe, als wöge er drei Zentner, mit den Füßen balanciert sie ihn; und schließlich greift sie ihn sogar mit den Zähnen... wow! Da ist "The greatest Show on Earth" fast schon am Ende; zu Beginn hatte das Mitglied der sehr speziellen Artistenfamilie "La Fortunada" auch schon einen Hocker "bespielt", auf dem (in der Phantasie jedenfalls) ein zu dressierendes Tier saß, vielleicht ein Seehund, womöglich aber auch ein Tiger – den Kopf jedenfalls legte die Fake-Artistin auf den leeren Hocker, als lauerte da der Rachen eines ziemlich wilden Tieres.
Welcome to the Shit-Show
Im alten Zirkus, so meinen Anna Wagner und Eike Wittrock, die "The greatest Show on Earth" zum Start des Sommerfestivals in der Hamburger Kampnagelfabrik kuratiert haben, finde sich viel wieder von zeitgenössischer Performance-Kunst. Tatsächlich sieht es aber eher so aus, als sei die (immerhin von Philippe Quesne entworfene) Manege vor allem der Ort für das genaue Gegenteil – das heißt: für das Gegenteil von allem, vom Zirkus wie von der Performance. Verweigerung aus Prinzip scheint hier zu herrschen, und vielleicht auch darum wirkt der über weite Strecken recht zähe Abend länger als die 100 Minuten, die er tatsächlich dauert. Und es mag sogar ein wenig pervers erscheinen, dass er ganz genau zu wissen vorgibt, wieviel "shit" hier doch versammelt sei – mit der auf Deutsch etwas gröberen "Scheisse" kokettiert die Show massiv. Jeremy Wade tritt etwa zu Beginn als eine Art Clown, in eine riesige kackbraune Wurst gezwängt, auf und kündigt mutig (und leider weithin zutreffend!) an, dass jetzt ziemlich viel "shit" auf die Bühne kommen werde.
Jaja. Zum Schluss tragen Wade und Partner Karol Tyminski Fähnchen durchs Rund der Arena: "Sorry!" oder "Tut mir leid!" steht drauf, in vielen Sprachen. Wie, wenn das ernst gemeint wäre?
Besonders "hip" ist es mittlerweile ja, alles Mögliche nur deshalb zu bejubeln, weil es so unerhört armselig daher kommt. Oder weil hier alles aus nichts gemacht zu sein scheint – komisch aber ist das nicht.
Der Abend ist grundsätzlich in fast keinem Augenblick halbwegs komisch; bestenfalls bei der Tier-Nummer von Hendrik Quast und Maika Knoblich, die Kater und Hund zum "Todessprung" vom Kratzbaum herab oder über ein liegendes Stück Publikum hinweg animieren. Dazu sprechen die beiden Haustier-Dompteure allerdings aus der Perspektive ihrer dressierten Wohnungsgenossen – das ist ein bisschen ulkig. Aber auch das wissen wir schon: Tiere, die wie Menschen sind (und umgekehrt), sind immer toll. In diesem Zirkus müssen es halt nur ganz andere Tiere sein, Katze eben und Hund.
Die von Wagner und Wittrock sortierte (und vom Elektronik-Duo "Les Trucs" halbwegs animiert begleitete) Szenenfolge wirkt in sich nicht überaus kohärent und stimmig; aber geschenkt: das ist im Zirkus auch nicht anders. Dort allerdings ist immerhin Verlass ist auf die Standard-Attraktionen. Hier hingegen zeigen die Bühnen-Aufräumer von "Contact Gonzo" aus Osaka eine muntere Prügel-Szene zu viert, bei der den Kämpfern regelmäßig Handy, Instant-Kamera und Zigarette aus den Taschen fallen; zum Schluss (in der mit Abstand dämlichsten Szene der Show) verschießen sie Obst und Gemüse mit einer monströsen Zwille. Ein niedliches Mädchen wiederum dreht sich auf der Bühne zur Musik aus dem Film vom "Wizard of Oz" ("Somewhere over the rainbow"), um sich dann in eine Art maskulinen Streetfighter zu verwandeln; danach folgt die einzige wirklich starke Szene. Meg Stuart hat sie kreiert – der Mann auf Stelzen wird hier dauernd von der Partnerin darin gehindert, sich in die Höhe zu erheben; und erst zum Ende merken beide, das er nur dann stehen kann, wenn sie ihm hilft ... wer will, darf das für ein Statement halten. Florentina Holzinger und Vincent Riebeek simulieren schließlich Sex als Hochartistik, aber längst nicht so nackt wie auf dem Programm-Postkärtchen. Und der wuchtige Penis ist auch nicht echt.
Das All Star-Phänomen
Überhaupt: Nicht echt – das ist die zentrale Mitteilung der "größten Show der Welt". Nicht echt ist (natürlich) das Motto, absichtsvoll nicht echt ist sehr vieles szenische Material. Nicht echt ist alles, was im (echten) Zirkus "Emotion" markieren könnte. Nicht echt ist aber letztlich sogar der intellektuelle Anspruch, all das Bemühen um gedankliche Räume jenseits oder am tieferen Grund vom Gezeigten, was doch Performance ziemlich häufig auszeichnet. Wenn dann aber derart viele Zutaten "nicht echt" sind – was ist dann noch "echt" an der Show?
Richtig: eigentlich nichts; hohl ist sie, lau und flau. Eben nicht echt. Jazz-Freunde übrigens kennen das Phänomen – wo "All Stars" drauf steht, ist nicht unbedingt vervielfältigte Klasse drin. Und Verweigerung wie in "The greatest Show on Earth" ist halt auch nicht abendfüllend.
The greatest Show on Earth
Performance-Zirkus mit Szenen von Meg Stuart, La Fortunada, Jeremy Wade u.v.a.
Musik: Les Trucs, Kuratiert von: Anna Wagner und Eike Wittrock.
Dauer: 90 Minuten ohne Pause.
Weitere Vorstellungen: Auf Kampnagel Hamburg vom 12.-14. und 17. bis 20. August; am Mousonturm Frankfurt vom 1. bis 4. und 7. bis 10. September, vom 21.- 23.09. in den Sophiensaelen Berlin, vom 30.9.- 5.10. imThéâtre Nanterre-Amandiers und vom13.- 16.10. in den Münchner Kammerspielen.
www.kampnagel.de
www.mousonturm.de
"Nein, als Zirkusnummern taugen diese komplexe Arbeiten nicht, dann lieber für jede einzeln eine Halle oder Kammer reservieren, als eine Art begehbares, übergroßes Kuriositäten-Kabinett", findet Alexander Kohlmann von Deutschlandradio Kultur (11.8.2016). Mit jeder neuen Station verflüchtige sich leider spürbar die anfangs tatsächlich aufkommende Zirkus-Atmosphäre. "Denn im Gegensatz zu den Sensationen des 19. Jahrhunderts verlangen viele Performances von heute nach Reflexion und Innehalten."
Katharina Manzke von der Welt (13.8.2016) erlebte viel Schräges "bei dieser bunt zusammengewürfelten Kunstperformance, die behauptet ein Zirkus zu sein". Selbstironie trage und rette den Abend. "Wirklich großartig und spektakulär ist hier Weniges, Erwartungen werden systematisch enttäuscht und das Publikum sich selbst vorgeführt. Augenscheinlich haben die Künstler dabei selbst viel Spaß". Das gefalle nicht jedem im Publikum.
Und Judith von Sternburg schreibt in der Frankfurter Rundschau (2.9.2016) über die Vorstellungen im Lab Frankfurt, Kooperationspartner der Arbeit: "Erst im letzten Moment kriegen Florentina Holzinger und Vincent Riebeek die Kurve, wenn sie am Ende ihrer Nackt- und Sexszene am Reifen sang- und klanglos zu Boden plumpsen. Auch hier gilt freilich, dass Ironie fast alles ist. Das kann man außerhalb des wirklichen Lebens so sehen. Kunstblut spritzte im Laufe der Nummer das Publikum in der vorderen Reihe übrigens mehr an, als gut ist."
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