Der Idiot - Thalia Theater Hamburg
Auf Irrwegen
von Frank Kurzhals
Hamburg, 4. September 2021. Kann Schönheit die Welt retten? Und ist Wahrhaftigkeit eine akzeptable Form von Schönheit, die auch in Form von unverbildeter Naivität daherkommen kann? Die einer verrohenden und nur noch auf Geld als universelles Tauschmittel ausgerichteten Gesellschaft einen Spiegel vorhalten kann, ihr zeigt, wie unmenschlich sie geworden ist, dass Liebe und Zuneigung nicht käuflich sind?
Leiden an der Welt seziert
Darum drehen sich vier kristallklare Stunden, auf die Regisseur Johan Simons den Roman "Der Idiot" von Fjodor Dostojewski im Thalia-Theater zusammenschnurren lässt. Aber es sind auch durchaus lange Stunden, weil die Entfaltung von Schönheit bei Simons Zeit braucht. Die verworrene Unübersichtlichkeit des Romans entwickelt er in mikroskopisch scharfer Deutlichkeit und seziert das Leiden an der Welt und an der Liebe wunderbar kalt. Die Dreh-Bühne (Johannes Schütz) wird zum Untersuchungsraum. Die wenigen einfachen Stühle und Tische auf ihr betonen die Leere des Raums. In militärisch exakter Linie aufgereihte nackte Glühbirnen bilden den Bühnen-Himmel über einer Gesellschaft in der Krise. Lediglich physisch vereint der Raum die Figuren des Romans, die das aufkommende Disruptiv der Moderne trennt. In Warteposition reihen sie sich tief hinten, mit gebührendem Abstand, an der Brandmauer auf, bis ihr Einsatz kommt. Und der ist gleich zu Beginn ein Sprung in ein Grundproblem: Freiheit von und Freiheit zu, wer nimmt sich welches Recht.
Fürst Myschkin, der 27-jährige und wohl letzte Namensträger seiner Adelslinie, kommt aus der Schweiz zurück nach St. Petersburg. Seine Krankheit, Epilepsie, konnte dort nicht geheilt werden. Er wendet sie nun zu einer alle anderen verunsichernden Stärke. Er kann in seine Krankheit flüchten, wenn Auseinandersetzungen zu heftig werden, was oft passiert, und er kann sich aber auch, dadurch zum Außenseiter geworden, sanft und unauffällig in das Zentrum einer mindestens ebenso kranken Gesellschaft einschleichen, die kurz vor dem Kollaps steht.
Widerstreitende Seelenkräfte
Auf dem Weg nach Petersburg lernt Myschkin, der ganz wunderbar hilflos und trotzdem stark, fragend und suchend, nervös, unsicher, leicht verletzlich und immer mit zerbrechlicher, naiv-kindlicher Stimme von Jens Harzer gespielt wird, seinen Gegenspieler Parfjon Rogoschin kennen. Felix Knopp spielt Rogoschin viril und laut, als im Leben stehenden und mit Geld auch Liebe und Zuneigung erschachernden wohlhabenden Kaufmannssohn. Durch Rogoschin erfährt Myschkin von der schönen Nastassja, auf deren Bild er auch bei seinem Besuch einer weit entfernten Verwandten, Lisaweta Prokowjefna Jepantschina (Christiane von Poelnitz), stößt.
Jepantschina ist die Krawatte tragende Ehefrau eines Generals, die mal zu Myschkins Herzensfreundin, mal zur befehlenden Aufseherin seines Lebens wird. Dieses überzeugende Oszillieren zwischen beiden Polen spannt den Bogen der Handlung immer wieder neu. Ihre Tochter Aglaja (Maja Schöne) ist wiederum die zweite Kandidatin im Rennen um einen Ehemann. Sie, die gelangweilt Schöne und schnippisch Scharfzüngige, die ständig neue Giftpfeile aus ihrem Köcher zieht und gegen Myschkin abfeuert, erkennt gleichwohl das Zarte und Ehrliche des Fürsten und warnt ihn vor der zerstörerischen Kraft ihrer Familie. Das berührt.
Keine Hoffnung, nirgends
Zum ersten großen Showdown kommt es an Nastassjas Geburtstag, Marina Galic spielt sie mit der verzweifelten Würde einer zum Objekt der Männer gewordenen Frau. Nastassja will sich für keinen der Bewerber entscheiden, so viel sie auch an Geld zu zahlen bereit sind – sie will frei, also unverheiratet bleiben, daran ändert auch das Werben des Fürsten – vorerst – nichts. Liebesbekundungen der beiden Männer an die beiden Frauen produzieren nur Missverständnisse. Was kann jetzt noch helfen?
Myschkin versucht mit bohrender Naivität immer wieder die Runde zusammenzubringen. Selbst seine von Harzer wunderbar gespielten Slapstick-Einlagen à la Chaplin entschärfen die Dramatik der Situation nicht. Es ist, es bleibt hoffnungslos. Wie das um 1521 entstandene Bild des Malers Hans Holbein, das nahezu lebensgroß den toten Christus zeigt. Es ruht hier im Thalia Theater mal auf Stühle gebahrt im Zentrum der Bühne, mal steht es hinten an der Wand. Wie kann ein solcher Leib, so geschunden und aufgequollen, den Menschen Hoffnung geben? Er kann es wohl nicht. Wie auch die Begleitmusik (am Klavier Per Rundberg) das nicht kann, die wie ein fernes Echo die einzelnen streitenden Paare begleitet.
Atemlos große und beeindruckende Monologe wie der von Ole Lagerpusch als rot gewandete, hinkende Teufelsgestalt Ippolit Terentjew, die heftigen Dispute zwischen Aglaja und Nastassja, wie auch die von Myschkin und Rogoschin als Gegensatzpaare, sie alle dienen in Johan Simons' Inszenierung dazu, den Weg zur Schönheit und Wahrhaftigkeit zu finden. Auch wenn sie von ihm ablenken, beziehen sie sich doch immer drauf. Aber alle Wege werden zu Irrwegen. Ganz zum Schluss, vor der toten Nastassja knieend, die Rogoschin besitzergreifend gemeuchelt hat, fragt dieser ängstlich seinen Weggefährten Myschkin, ob er die Tür schließen soll. Die Tür, durch die jemand kommen könnte, um den Tod von Nastassja zu untersuchen. Myschkin sagt: Zumachen. Es gibt keine Auferstehung.
Der Idiot
von F.M. Dostojewskij
In der Übersetzung von Swetlana Geier, Bühnenfassung von Angla Obst
Regie: Johan Simons, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Greta Goiris, Licht: Jan Haas, Ton: Gerd Mauff, Hendrik Glax, Dramaturgie: Matthias Günther, Live Musik: Per Rundberg, Olena Kushpler.
Mit: Jens Harzer (Fürst Myschkin), Felix Knopp (Parfjon Rogoschin), Marina Galic (Nastassja Filippowna Baraschkowa), Christiane von Poelnitz (Generalin Lisaweta Prokofjewna Jepantschina), Maja Schöne (Aglaja Jepantschina), Falk Rockstroh (Adralion Alexandrowitsch Iwolgin, General a.D.), Steffen Siegmund (Gawrila "Ganja" Ardalionowitsch Iwolgin, sein Sohn), Stefan Stern (Lukjan Timofejewitsch Lebedjew, Beamter), Ole Lagerpusch (Ippolit Terentjes).
Premiere am 4. September 2021
Dauer: 4 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.thalia-theater.de
"Der Abend scheint zwischen Leben und Tod zu schweben, jeder Schritt könnte der letzte sein. Eine Lawine wird losgetreten - eine Lawine, die mehr als vier Stunden lang zu Tal rollt. Dennoch hat das Stück, aus meiner Sicht, in keiner Sekunde Längen", sagt Peter Helling auf NDR Kultur (5.8.2021). "Im Gegenteil, hier wird 'die Zeit wirklich zu Raum'. Das Ensemble spielt fantastisch, Gesten, Blicke, Berührungen verweben sich zu einem organischen Ganzen. Großes Theater, ein fulminanter Start in die neue Spielzeit des Thalia Theaters."
Jens Harzer spiele den Fürst Myschkin einfach grandios, findet Katrin Ullmann von Deutschlandfunk Kultur (4.9.2021). Johan Simons inszeniere Konversationen und Debatten, Liebesschwüre, Streit und den seelischen Zerfall eines Menschen. "Es ist ein psychologischer, gut gearbeiteter, aber auch eben auch ein recht klassischer und erwartbarer Abend, der in vielen Momenten eine konzentrierte Atmosphäre schafft, und im anschließenden, stillen Innehalten oft eine beklemmende Stimmung erzeugt. Aber es ist auch ein Abend, der ohne klaren Fokus zahlreiche Denkräume öffnet und sich allzu ausführlich in Monologen und Menschheitsgedanken verliert, und dessen einzige Abstraktion letztlich das Bühnenbild bleibt."
"Man kann nicht oft genug sagen, wie ganz und gar außergewöhnlich, wie überwältigend das Spiel von Jens Harzer ist", schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.9.2021). "Wer ihn noch nicht auf der Bühne gesehen hat, der hat bisher das Beste verpasst, was das deutsche Schauspiel im Moment zu bieten hat." Trotz allem "verführerischen Spiel" umgebe den gesprochenen Text an diesem Abend eine spannungsvolle Unnahbarkeit. "Als würde er sich der effektvollen Deklamation zuletzt doch verweigern wollen", so Strauß. "Dostojewskis 1868 erstmals veröffentlichter Roman täuscht durch seine vielen Dialoge und unberechenbaren Reaktionen immer wieder vor, ein verkapptes Konversationsstück zu sein. Aber wenn man es dann gesprochen vor sich sieht, dann wirken die Antworten nie ganz passend, dann überfordern die Rollen die Figuren." "Was man in Hamburg zu sehen bekommt, ist also kein dramatischer, sondern ein poetischer Abend. Eine Adaption im vorsichtigen Sinne: Hier wird das Original angepasst, ohne dabei beschädigt zu werden."
"Eine ans Filmische grenzende Aufführung von ambitioniertem Einfühlungstheater, die sich in ihrer nostalgischen Manier einer anständigen Figurenarbeit allerdings etwas altbacken anfühlte", sah Till Briegleb und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (4.11.2021) außerdem: "Diese früher spöttisch 'Reclam-Theater' genannte getreue Wiedergabe einer Vorlage, die hier Dank bester deutscher Schauspielkunst die Illusion des vollkommenen Eintauchens in den Stoff erlaubte, vermisste jede Reibung an Gegenwartsbezügen oder aktuellen Themen."
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Sein Spiel hat mich tief berührt. Ich habe das letzte Mal bei Gert Voss als Othello so geweint. Gestern war ein ähnlicher Moment, wo ich kaum Atmen konnte. Der herzzerreißende Schrei ... die Qualen des Fürsten ...wie man so spielen kann...bin immer noch bewegt..
Im Zentrum stehen die Figuren und ihr sich mehr als vier Stunden entfaltendes, recht unübersichtliches Beziehungsgeflecht. Wie aus früheren Abenden von Jürgen Gosch und Johann Simons gewohnt, bleibt auch diesmal das komplette Ensemble die gesamte Zeit über am Rand der Schütz-Bühne präsent. Ein Markenzeichen dieser Arbeiten mit hohem Wiedererkennungswert, das aber im Lauf der Jahre und Jahrzehnte zum manierierten Selbstzitat zu werden droht.
Sanft und elegisch plätschert das klassische Literatur-Theater vor sich hin.
Der Abend gleitet in erwartbaren Bahnen vor sich hin und unterscheidet sich fundamental von Sebastian Hartmanns „Idiot“-Adaption, die vor wenigen Wochen zwei Bahn-Stunden weiter südöstlich am Deutschen Theater Berlin Premiere hatte. Die beiden Inszenierungen der prominenten Regisseure stehen für sehr unterschiedliche Handschriften: hier das Hochamt, das sich viele Pausen gönnt und tastend an den Text annähert, dort das Zertrümmern, das mit schwerem Gerät Schneisen durch das Text-Bollwerk zu schlagen versucht, assoziativ, überfordernd, grell und laut. Gemeinsam ist beiden Abenden, dass sie sich in den Slapstick retten, wenn sie nicht mehr weiter zu wissen zu scheinen, wie sie den Dostojewski in den Griff bekommen sollen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/11/20/der-idiot-johan-simons-thalia-theater-hamburg-kritik/