Horror mit Zuckerguss

19. November 2023. In Hamburg ist Michael Thalheimer als kompromissloser Dekonstrukteur des klassischen Kanons in bester Erinnerung. Mit Franz Kafkas "Der Prozess" gräbt er sich jetzt tief in die kalte Moderne. Und nun?

Von Falk Schreiber

Michael Thalheimer inszeniert "Der Prozess" nach Franz Kafka am Thalia Theater in Hamburg © Armin Smailovic

Hamburg, 19. November 2023. Irgendwann in der Mitte des Abends beginnt Josef K. zu ahnen, was um ihn herum vorgeht. Irgendwann, nachdem unzählige Witzfiguren ihn bedroht haben, nachdem er sich immer tiefer verstrickt hat zwischen der juristischen Bürokratie und den undurchschaubaren Abläufen im Gericht, nachdem er versucht hat, herauszufinden, weswegen ihm eigentlich ein Prozess gemacht wird, irgendwann, nach ungefähr einer Stunde hochästhetischen, nervenzerrenden Kunstkunsttheaters also, flüchtet sich K. in die Welt der Verschwörungstheorien.

Eine übergeordnete Macht müsse hinter diesem Gericht stehen, glaubt er, jemand, der die Fäden zieht, und plötzlich zeichnet sich auf Merlin Sandmeyers Gesicht so etwas wie Erleichterung ab. Ein zutiefst verstörter Mensch steht da auf der Bühne des Hamburger Thalia Theaters, ein Mensch, der sich daran klammert, dass sein Martyrium kein Rätsel ist, sondern ganz einfach zu erklären: mit der Macht des Bösen. K., das könnte auch ein aus seinem bürgerlichen Leben herausgeschwurbelter Wutbürger sein, und es ist schade, dass Michael Thalheimer in seiner Inszenierung von Franz Kafkas Prozess diesen Gedanken nur ganz kurz anstößt, dann aber wieder zu vergessen scheint.

Stationendrama Richtung Untergang

Thalheimer und "Der Prozess" – das ist zumindest in Hamburg eine ungewöhnliche Kombination. Zwar bearbeitet der Regisseur von Zeit zu Zeit moderne bis zeitgenössische Stoffe, an der Elbe aber kennt man ihn ausschließlich als kompromisslosen Skelettierer des klassischen Kanons, zuletzt nahm er sich am Thalia vor zwei Jahren Schillers "Räuber" vor (und entdeckte in dem Männerdrama eine nicht uninteressante weibliche Perspektive). Mit Kafka, dessen Romanfragment Thalheimer und Dramaturgin Emilia Heinrich in eine ordentlich bühnentaugliche Stückfassung verwandelt haben, konzentriert er sich hingegen ausschließlich auf eine einzelne Figur: auf den eines nicht genauer beschriebenen Vergehens beschuldigten K., der durch ein Stationendrama Richtung Untergang stolpert.

Im Grunde erzählt die Inszenierung die Vorlage nach: K. wird verhaftet, hat sich diversen Verhören zu unterziehen, versucht, seine Lage zu bessern, in der letzten Szene wird er hingerichtet. Und weil Johannes Hegemann und Falk Rockstroh als Henker anders als bei Kafka kein Messer einsetzen, sondern den Delinquenten mit einer Plastiktüte ersticken, wird der Mafia-Charakter, der in dieser grausigen Szene steckt, noch ein wenig verstärkt. Eine Erklärung für das Geschehen freilich liefert das nicht – dafür, dass K. in irgendeiner Weise in dunkle Geschäfte verwickelt sein könnte, gibt es keinerlei Hinweise.

Prozess7 1200 ArminSmailovicAlptraum Wirklichkeit? Falk Rockstroh, Merlin Sandmeyer, Johannes Hegemann © Armin Smailovic

Hinweise allerdings gibt es für die These, dass es sich bei "Der Prozess" nicht um Realität handelt, sondern schlicht um einen Alptraum. Das Programmheft etwa beginnt mit Auszügen aus Michael Müllers "Franz Kafka. Träume", in denen einleuchtend dargestellt wird, wie "Der Prozess" (wie auch andere Texte des Autors) nach Traumprinzipien aufgebaut sind. Noch bevor das Stück richtig beginnt, beschallt Bert Wrede den Saal mit lautem Dream(!)pop, der als Genre bekanntermaßen einerseits süßlich daherkommt, unter seinem Zuckerguss aber Kanten und Verwerfungen bereithält. Und schließlich wird K. in der ersten Szene von zwei Schergen aus dem Bett geholt – womöglich schläft er da ja noch?

Anlasslose Werktreue

Das Problem mit Träumen ist freilich, dass sie nicht wirklich theaterfähig sind. Zwar tauchen reizvoll überzeichnete Figuren auf, die aber haben nichts zu tun, außer K. zu drangsalieren. So ziehen sich die zwei Stunden von Schockmoment zu Schockmoment, ständig im hohen Ton, ständig mit schrillen Lachern und fiesen Missverständnissen. Als der Untersuchungsrichter (Rockstroh) die Personalien aufnimmt und dem Bankbeamten K. sagt, dass dieser "Zimmermaler" sei, hat der gar keine Chance, diesen offensichtlichen Fehler zu korrigieren, stattdessen trötet ihm ein Luftrüssel ins Gesicht. Das ist so in etwa das Niveau, das diesen Traum prägt.

Entsprechend sind die Frauenfiguren vor allem erotische Abschweifungen – Pauline Rénévier und Marina Galic dürfen in diversen Rollen nicht viel mehr machen, als den Protagonisten (in glamouröser Kaputtheit) zu verführen, doch zumindest Galic hat gegen Ende noch eine ziemlich beeindruckende Solonummer als Geistlicher mit interessant schiefer Achtziger-Gedächtnisfrisur (Kostüme: Michaela Barth). Wobei dieser Geistliche dann eben die für "Der Prozess" zentrale Parabel "Vor dem Gesetz" erzählen darf. Das steht zwar so auch bei Kafka, szenisch gibt dieser Rückgriff auf anlasslose Werktreue aber rein gar nichts her.

Undurchdringliche Schwärze

Dabei geizt die Inszenierung ansonsten nicht mit Schauwerten. Henrik Ahr hat eine riesige Mühle auf die Drehbühne gebaut, die die Beteiligten nach und nach kleinmahlt, und wie zum Kontrast zu diesem drastischen Bild können deren Wände mal psychedelisch glitzern, mal sich in Rasmus Rieneckers Baumgeäst-Videos verlieren, mal in dunkler, undurchdringlicher Schwärze versinken.

Das ist als kalte Moderne toll anzusehen, zumal es die Ereignislosigkeit des Bühnengeschehens ein wenig mildert, und es setzt das Thalia-Ensemble zudem in ein ausnehmend gutes Licht. Weswegen Thalheimer jedoch die kurz angedeutete politische Spur verlässt und über einen alles in allem virtuosen, inhaltlich aber eher leeren Abend hinweg erzählt, dass K. augenscheinlich schlecht geträumt hat, das beantwortet diese Bühne nicht. Für Kafkas dunkel verrätselte Entwürfe ist der Traum jedenfalls die denkbar uninteressanteste Auflösung.

Der Prozess
von Franz Kafka, Bühnenfassung von Emilia Heinrich und Michael Thalheimer
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Henrik Ahr, Kostüme: Michaela Barth, Mitarbeit Kostüm: Kathrin-Susann Brose, Musik: Bert Wrede, Sounddesign: Sven Baumelt, Video: Rasmus Rienecker, Licht: Paulus Vogt, Dramaturgie: Emilia Heinrich
Mit: Marina Galic, Johannes Hegemann, Christiane von Poelnitz, Pauline Rénevier, Falk Rockstroh, Merlin Sandmeyer, Stefan Stern
Premiere am 18. November 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Thalheimer inszeniere den "Prozess" als düstere, zeitlose Groteske ohne Überraschungen, irgendwo zwischen (Alb-)Traum und Drogentrip. Bürokratie, Korruption, ein völlig undurchsichtiges System: "Aktuelle Bezüge kann herstellen, wer mag", zeigt sich Katja Weise im NDR (19.11.2023) nicht überzeugt. Großartig sei die Ensembleleistung. Merlin Sandmeyer als Josef K. "verkörpert die nackte Unschuld, den zunehmend an sich zweifelnden, bisher beruflich erfolgreichen jungen Mann, im wahrsten Sinne des Wortes biegsam und mit feinem Gespür für die Ernsthaftigkeit und die Verlorenheit der Figur".

Ein "schillernd kaltes, häufig farbenfrohes Spiel, das im Grunde um einen Kern der Leere kreist", hat Annette Stiekele vom Hamburger Abendblatt (20.11.2023) gesehen. Thalheimer, bekannt als "Stücke-Kondensator", der meist klassische Stoffe zu einer Essenz einkoche und damit deren Kern freilege, habe sich "offenbar zum Puristen der Werktreue gewandelt". Seine erste Kafka-Inszenierung, anlässlich von dessen 100. Todestag 2024, erzähle er linear und bruchlos nach – aber "so richtig ist ihm dazu keine eigene Fantasie eingefallen", schreibt Stiekele. Fürs Publikum würden die zwar kunstvoll durchstilisierten und -ästhetisierten, aber an sich schon quälenden Vorgänge auf der Bühne dadurch "nicht eben unanstrengend".

Eileen Heerdegen von der Jungen Welt (21.11.2023) hätte sich eine die differenziertere Darstellung gewünscht. "So werden die zwei Stunden ohne Pause nicht nur für die Schauspieler eine Herausforderung. Trotz der überragenden Leistung des gesamten Ensembles (Christiane von Poelnitz sogar mit verdienten Szenenapplaus nach einem gigantischen Monolog) mit diesem schwierigen Text schleicht sich zeitweilig gepflegte Langeweile ein." Zumindest der Schluss beeindruckt die Kritikerin.

Thalheimer, der noch nie etwas "nach" Kafka inszeniert habe, mache sich den Stoff passend, reite ihn gewissermaßen zu wie zuvor Schnitzler, Kleist, Schiller und viele andere, so Peter Kümmel in Die Zeit (23.11.2023). "Sodass alles nach Thalheimer aussieht und klingt." Er habe ein kaltes Vergnügen daran, "die Justizhölle in Gang zu setzen wie ein Weltmodell, das man beherrschen und von außen betrachten kann, indem man eine kleine Münze in den Gebührenschlitz wirft."

"Nuancenreich verdüstert und verstört-entwurzelt irrt der eindrucksvoll spielende Merlin Sandmeyer als Franz K. durch dieses gnadenlose Mahlwerk", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (22.11.2023). "Hellsichtig inszeniert Michael Thalheimer mit seinem überzeugenden Ensemble Kafkas Vision eines autoritären Willkürstaates. Mit ihrer radikalen szenischen Verdichtung und dem expressionistischen Formenvokabular verzichtet die Aufführung auf jede Aktualisierung – und lässt trotzdem unweigerlich an gegenwärtige Diktaturen denken."

 

Kommentare  
Der Prozess, Hamburg: Stutzig werden
Den Vorwurf der mangelnden Phantasie finde ich doch gerade bei Kafka etwas deplatziert. Ist er es nicht, dessen deutungsoffene Texte immer wieder für jedwede Vereinnahmung herhalten mussten und ihn so zum „Auskunftsbüro der je nachdem ewigen oder heutigen Situation des Menschen erniedrigt“, um adornitisch zu sprechen?
Interessant finde ich, dass Thalheimer sich am Epigonen Kafkas David Lynch bedient zu haben scheint, der für seine albtraumhafte Ästhetik und der damit einhergehenden narrativen Logik ja berühmt geworden ist. Schon bei der Maske hätten man hier stutzig werden müssen, aber darüber lese ich leider nirgends etwas.
Ja, bei Lynch, genauer Lost Highway oder Mulholland Drive, haben wir konkretere Hinweise auf die Hintergründe der (Alb-)träume, hier handelt es sich aber auch um eigene Geschichten. Man müsste Kafka schon sehr versudeln, um Josef K. hier den (antisemitischen?) Verschwörungsgläubigen anzudichten.
Das soll kein Plädoyer für unbedingte Werktreue sein, aber gerade bei Kafka wäre es doch allzu erwartbar, ihn politisch auszuschlachten.
Der Prozess, Hamburg: Epigonen?
Hallo Philipp. Welche Momente von Lost Highway oder Mulholland Drive lassen den Filmregisseur David Lynch denn als "Epigonen" des Schriftstellers Franz Kafka erscheinen? Im heutigen Sprachgebrauch impliziert "Epigone" doch leeres Imitieren einzelner Elemente, im Gegensatz zu deren schöpferischer Weiterentwicklung, oder? Ich frage, weil mir die stark wertende Wortwahl in den NK-Kommentarspalten auffällt, so auch in deinem Kommentar.
Kommentar schreiben