Ein Bericht für eine Akademie / In der Strafkolonie – Der Kafka-Doppelabend am Staatstheater Darmstadt
Unter der Haut
von Anja Baumgart-Pietsch
Darmstadt, 2. April 2015. Ein merkwürdiges, zweiköpfiges Wesen bewegt sich auf der Bühne. Man muss schon näher hinsehen, um zu begreifen, wie es konstruiert ist: Zwei Männer, alle Gliedmaßen aneinander festgebunden, einer trägt eine schwarze Haube über dem Gesicht. Der eine Schauspieler bewegt so den anderen mit: Es ist Samuel Koch, der seit seinem Sturz bei "Wetten, dass ..." querschnittsgelähmt ist, und nun mit dem Körper seines Kollegen Robert Lang verschmilzt.
Menschwerdung des Affen Rotpeter
Beide hatten bereits während ihrer Schauspiel-Ausbildung in Hannover die Idee entwickelt. Am Staatstheater Darmstadt haben sie nun mit Regisseur und Choreograf Stephan Hintze sowie Miriam Schliehe, die das ungewöhnliche Doppel-Kostüm entwarf, das Experiment auf eindringliche Weise weiterverfolgen können.
Kafkas Text von der "Menschwerdung" des Affen Rotpeter wurde schon einmal von einem körperbehinderten Schauspieler ihn für die Bühne adaptiert, es war Florian Giese am Akademietheater Ulm, später dann am Thalia-Theater Hamburg. Nun also Samuel Koch, der eigentlich Stuntman werden wollte und die Herausforderung im Schauspielberuf als eine vorwiegend körperliche ansah.
Für 30 Minuten steht Samuel Koch mit Robert Lang aufrecht, läuft über die Bühne. Lang, der bald seine schwarze Kapuze abnimmt und sie dann auch mal Koch über den Kopf zieht, ist ebenbürtiger Spielpartner. Zu zweit stellen sie die Facetten des Affen Rotpeter dar, von Kafka als allegorisches Zwitterwesen zwischen Tier und Mensch angelegt. Er besitzt Eigenschaften beider Gattungen und weiß auch um die Notwendigkeit, sich der menschlichen Gesellschaft anzupassen, um darin zu bestehen. Wichtige Fähigkeit: Schnapstrinken. Auch wenn Rotpeter da seine Aversionen überwinden muss. Robert Lang setzt mit seinen Händen die Schnapsflasche an den Mund Samuel Kochs, doch später auch an seinen eigenen. Die im wahrsten Sinne hautenge Zusammenarbeit der beiden ist stimmig, nicht gekünstelt. Beide Körper sind symbiotisch miteinander verbunden, und obwohl Lang genau wie Koch die körperliche Anstrengung ins Gesicht geschrieben ist, liest man dort als zweite Empfindung auch den Spaß, den sie miteinander haben, wenn sie diese Phantasiefigur zum Leben erwecken.
Tottätowieren
Im zweiten Teil des Kafka-Abends bringt Regisseurin Vanessa Wilcke die verstörende Erzählung "In der Strafkolonie" in rein weiblicher Besetzung auf die Bühne. Auch hier wurde Kafkas Vorlage auf das Wesentlichste reduziert: Ein "Reisender" soll auf einer Insel in den Tropen einer grausigen, durch eine seltsame Maschine durchgeführten Hinrichtung zusehen. Ein Offizier berichtet ihm in minutiöser, technokratischer Begeisterung von den technischen Einzelheiten dieser Maschine, die den Verurteilten durch eine Art Eintätowieren seines Urteils zunächst in die Haut und dann durch den ganzen Körper binnen zwölf Stunden auf gruselige Weise tötet.
So unmenschlich das alles klingt, so eiskalt-gefühllos lässt Kafka seine Protagonisten über dieses Vorhaben reden. Gabriele Drechsel und Judith van der Werff, die mal in übertrieben-männlicher Gestik chargieren, mal kühl und distanziert drastischste Details diskutieren, bekommen mit dem Bühnenbild von Vanessa Wilcke und Veronika Bischoff eine beängstigende Maschinerie als Hintergrund, die gehöriges Unbehagen auslöst, ebenso wie der grelle Scheinwerfer, mit dem die beiden ihr Publikum immer wieder schmerzhaft blenden. Das geht dann wirklich "unter die Haut".
Ein Bericht für eine Akademie
von Franz Kafka
Regie und Choreografie: Stephan Hintze, Kostüm: Miriam Schliehe, Dramaturgie: Jonas Zipf.
Mit: Samuel Koch, Robert Lang.
Dauer: 30 Minuten, keine Pause
In der Strafkolonie
von Franz Kafka
Inszenierung: Vanessa Wilcke, Bühne: Vanessa Wilcke, Veronika Bischoff, Kostüme: Veronika Bischoff, Dramaturgie: Christa Hohmann.
Mit Gabriele Drechsel, Judith van der Werff.
Dauer: 50 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-darmstadt.de
"Im ersten Teil des Kafka-Abends wird die gewaltsame Zurichtung des Wilden, Unzivilisierten, Naturhaften, wie sie sich im Schicksal des gefangenen Primaten zeigt, in Körpertheater überführt", schreibt Matthias Bischoff in der Rhein-Main-Zeitung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.4.2015). Was der gebildete Affe erzählt und wie er seine selbstgewählte Anpassung rechtfertigt, werde durch das Spiel der beiden Körper durchgehend dementiert. "Das gespielte oder unwillkürliche Zucken der Arme und das Zittern der Beine deuten auf die Gewalt hin, die hier einer sich selbst angetan hat." Über das abwechselnde Sprechen, ins Wort Fallen und haltlose Schnapstrinken hinaus verstärke sich im Lauf der halben Stunde der Eindruck, "dass hier zwei Körper zusammengepresst werden, die nicht dasselbe wollen". Weitaus konventioneller werde dann der zweite Teil des Abends, "In der Strafkolonie", ins Bild gesetzt. "Die klirrend kalte Objektivität der Prosa Kafkas wird durch eine falsch verstandene Psychologisierung und Emotionalisierung ihrer Wirkung beraubt."
"Dieser Auftritt ist eine Sensation. Das gilt für den Schauspieler wie für seine Rolle: Der querschnittgelähmte Samuel Koch steht auf der Bühne. Er stapft breibeinig umher, trommelt sich auf die Brust, wirft mit Autoreifen um sich", schreibt Stefan Benz im Darmstädter Echo (4.4.2015). Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde er noch einen Kollegen huckepack mitschleppen, aber es ist natürlich andersherum. "Auch Samuel Koch musste, um nicht seelisch zu verkümmern, seine Einschränkung überwinden. Wo für Rotpeter die Alternative zwischen Zoo und Varieté steht, hat sich Koch einst zwischen Pflege und Bühne entschieden: Für beide ist der Auftritt ein Ausweg, wenn er auch keine völlige Freiheit verheißt." Überwinde deine Natur, wenn du überleben willst "– die gleichnishafte Botschaft des literarischen Berichts erhält auf der Darmstädter Bühne eine sinnbildhafte Verkörperung. Derart existenziell sind Kunst und Leben sonst nicht aneinander gebunden."
"Ein Abend, der zwei Kafka-Erzählungen ziemlich tief, herb und bildmächtig auslotet", findet Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (7.4.2015). Dass Koch nicht laufen könne, mag zur Konzeption des ersten Teils geführt haben. "Es spielt aber keine Rolle und ist eher ein frappierender Beleg dafür, wie die Beschäftigung eines körperlich eingeschränkten Darstellers die Möglichkeiten des Theaters enorm erweitert." Nach der Pause gehe es, "obwohl jetzt weniger spektakulär", noch tiefer hinab in Kafkas Albtraumwelt.
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An den Inszenierungen sind die jeweiligen Kritiker dann allerdings wenig interssiert.