Don Carlos - Schauspiel Frankfurt
Vertrauen auf den Schlachtfeldern
17. März 2024. Friedrich Schillers Drama um Intrigen am spanischen Hof atmet den Geist der Aufklärung. "Geben Sie Gedankenfreiheit!" Felicitas Brucker lotet in Frankfurt aus, was so ein Ausruf in Zeiten von Social-Media-Kampagnen und Desinformation noch bedeutet.
Von Esther Boldt
17. März 2024. Was verleiht Macht? Ist es Angst oder Vertrauen, sind es Versprechen von Freiheit oder Tod? Und wie wird die Welt beschaffen sein, die diese Herrschenden ihren Kindern hinterlassen? Erben sie verbrannte Erde oder blühende Gärten? Es sind Fragen wie diese, die die Regisseurin Felicitas Brucker und der Dramaturg Arved Schultze in ihrer Fassung aus Schillers "Don Carlos" herausschälen, und die im Großen Haus des Schauspiel Frankfurt zu einem schillernden Politthriller verwoben werden.
Konzentriertes Kammerspiel
Das Spiel um König Philipp und seinen wenig geliebten Sohn Carlos, dem er die Verlobte stahl, um sie zu seiner Stiefmutter zu machen, um die Intrigen am spanischen Hof und die Unabhängigkeitsbewegung in Flandern wird in dieser Fassung in ein Kammerspiel verwandelt. Lediglich sieben von über zwanzig Figuren sind übriggeblieben, der Hofstaat ist zusammengeschnurrt. Als Vorlage diente Brucker und Schultze eine frühe Variante des Dramentextes, überliefert als sogenannte "Rigaer Fassung" in Form eines Regiebuchs von 1787, verfasst in Prosa, nicht in Blankversen.
Die Bühne (von Viva Schudt) ist ein schlichter, weißer Kasten, strukturiert von Wandkassetten, in die Drehtüren eingelassen sind zum eleganten Verschwinden und für den beiläufigen Auftritt. Ohnehin haben hier die Wände Ohren und niemand kann sich sicher sein, welche Nachricht zu wem vordringen wird – und warum.
Im Zentrum der Bühne taucht immer wieder ein weißer Tisch aus dem Boden empor. Darauf führt Matthias Redlhammers Philipp II. gern seine mächtigen Finger spazieren, an ihm schmiedet er Schlachtpläne und prüft seine Untergebenen. Die Beine des Tisches jedoch sind umfangen von Plexiglasscheiben, denn er kann auch zum Käfig werden, zum Gefängnis.
Torsten Flassigs Don Carlos ist ein feinnerviges Wesen, das sich eckig über die Bühne schiebt und zu allerlei Sprachticks ausschert, überzeugt, keinen Vertrauten unter der Sonne zu besitzen. Vergebens fleht er seinen Vater an ebendiesem Tisch um Vertrauen an, vergebens sucht er, seine Angst vor dem alten Patriarchen in den Wind zu schlagen und von ihm einen Wunsch einzufordern: Statthalterschaft in Flandern. Bäuchlings wirft sich Carlos auf den Tisch, doch Philipp hat für ihn nur Verachtung übrig: "Du bist weich, mein Sohn."
Zerstörtes Europa
Sie beide brauchen einen Freund, zu ihrem Unglück wählen sie denselben: Marquis von Posa, der zur Rettung Flanderns sein eigenes Ding zu drehen sucht, hoch setzt und doch verliert. Als Don Carlos sich in seine unglückliche Liebe zu Elisabeth verbohrt und von der Welt sonst nichts mehr wissen will, sprechsingt Christoph Bornmüllers Posa eindringlich "Europe Is Lost" von Kate Tempest, um ihn an seine politische Verantwortung zu erinnern, während vor ihnen Videos zerbombter Städte über die Leinwand flirren. Und als Carlos noch auf die Leinwand starrt, die sich jetzt rot gefärbt hat, klettert Posa auf einen Sitz in der zweiten Reihe und ruft ihm aus dem Zuschauerraum zu, er möge aufwachen: "We are lost! We are lost! We are lost!"
Verteidigung der Aufklärung
Und die Frauen? Lassen sich nicht an den Rand drängen, sondern ziehen mit an den Strippen. Sarah Grunerts Prinzessin Eboli treibt die Intrigen mit kräftigen Strichen voran, als der Schleier ihrer Liebe für Carlos erst gefallen ist, und Tanja Merlin Grafs Elisabeth von Valois will nicht allein im Schatten ihres Königs stehen, sondern strebt selbst nach Macht und Regentinnenschaft.
Absolut heutig kommen die Machtfragen daher, die dieser "Don Carlos“ stellt. Und das weniger durch vordergründig aktualisierende Texteingriffe, als durch die zahlenmäßige Reduktion des Personals auf die Verkörperung zentraler Funktionen in den laufenden Konfliktlinien, und durch ein dichtes Spiel, das diese lebendig, spürbar macht.
So klingt auch Posas oft zur Phrase geronnenes Plädoyer für Gedankenfreiheit plötzlich unerhört und es ist, als gelt es, die Errungenschaften der Aufklärung, von Schiller hier laut denkend erst anskizziert, gegen Social-Media-Kampagnen und Desinformation zu verteidigen. Es ist beglückend, mit welch großer Leichtigkeit und Konzentration es Brucker und ihren Spieler:innen gelingt, die Resonanzräume des "Don Carlos" in die Gegenwart zu spannen.
Don Carlos
von Friedrich Schiller
In einer Fassung von Felicitas Brucker und Arved Schultze
Regie: Felicitas Brucker, Bühne und Kostüm: Viva Schudt, Video: Florian Seufert, Musik: Markus Steinkellner, Dramaturgie: Alexander Leiffheidt, Licht: Ellen Jaeger, Dramaturgie Fassung und Konzeption: Arved Schultze.
Mit: Matthias Redlhammer, Tanja Merlin Graf, Torsten Flassig, Sarah Grunert, Christoph Bornmüller, Stefan Graf und Marit Voigt/Nele Sofie Müller.
Premiere am 16. März 2024
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Kritikenrundschau
"Spanien ohne Katholizismus" und einen Hof "ohne Höflinge" hat Jürgen Kaube von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (€ | 18.3.2024) gesehen. In seinen Beschreibungen macht er verschiedene Defizite am Dargestellten aus, so in der Figur des rappenden Posa, "ein Straßenkämpfer, der viel redet, aber wenig sagt": Worauf dessen "Rebellion hinauslaufen soll, bleibt unklar. Sie ist sein Ding, viel mehr erfahren wir nicht. Im berühmten Satz, Philipp solle Gedankenfreiheit geben, laufen bei Schiller die Glaubensfreiheit des sechzehnten Jahrhunderts und die Meinungsfreiheit des achtzehnten zusammen. Doch wenn man die Katholiken gestrichen hat, bleiben auch keine Protestanten übrig." Das Finale hinterlässt für Kaube, "den Eindruck, damit sollten die Probleme des Stück handstreichartig gelöst und zur sehr übersichtlichen Behauptung verdichtet werden, ohne Männer gebe es keine Tyrannei und auch das ganze Durcheinander im Kampf gegen sie nicht".
Was "Regisseurin Felicitas Brucker und Dramaturg Arved Schultze im Großen Haus auf die Bühne bringen, ist ein feines, subtiles, gleichwohl mitreißendes und spannendes Arthouse-Kammerspiel von ungeheurer Wucht", schreibt Michael Kluger in der Frankfurter Neuen Presse (18.3.2024). "Edelmut, Hochherzigkeit, reiner Idealismus sind in diesem 'Don Carlos' rar. Hier gibt es keine schönen Seelen. Jeder hat seine Pläne, passt sie flexibel den Erfordernissen an."
In einer Doppelbesprechung mit Phädra, in Flammen resümiert Judith von Sternburg diesen "Don Carlos" für die Frankfurter Rundschau (20.3.2024) wie folgt: "Der Erkenntnisgewinn ist zweimal dezent und der Wachheit des Publikums überlassen, das Ende zweimal abgesägt, die schauspielerische Präsenz des handverlesenen Bühnenpersonals zweimal eine Freude." Zur Tonlage des "Don Carlos" heißt es: "Die Routine der Ironie und des gegenwärtig stets leichten und leicht gebrochenen Tons ist im Raum, aber Regisseurin Brucker geht ganz fein damit um."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 11. September 2024 Regisseur und Theaterintendant Peter Eschberg gestorben
- 11. September 2024 Saša Stanišić erhält Wilhelm-Raabe-Literaturpreis
- 10. September 2024 Tabori Preis 2024 vergeben
- 10. September 2024 Theaterpreis des Bundes 2024 vergeben
- 10. September 2024 Fabienne Dür wird Hausautorin in Tübingen
- 10. September 2024 Saarländisches Staatstheater: Michael Schulz neuer Intendant
- 08. September 2024 Künstlerin Rebecca Horn verstorben
- 08. September 2024 Österreichischer Ehrenpreis für David Grossman
neueste kommentare >
-
Tabori Preis Mehr Abstand
-
Tabori Preis Einzelleistung, hervorgehoben
-
Tabori Preis Nur halb so viel wie...
-
Tabori Preis Höhe des Preisgelds
-
Theater Görlitz-Zittau Qual der Wahl
-
Buch Philipp Ruch Alternative für Aktivisten
-
Nathan, Dresden Das liebe Geld
-
Empusion, Lausitz Weitere Kritiken
-
Essay Osten Bürgerliches Kunstverständnis
-
Essay Osten Kuratieren im Osten
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Und interessant, dass Schiller die Figur des Großinquisitor wohl auch nur als optionale Figur sah.